Die In­stru­men­ta­li­sie­rung des Mu­se­ums

Editorial von Tracés 2/2015

Publikationsdatum
10-02-2015
Revision
25-08-2015

Was hat die wachsende Zahl neuer Museen weltweit, aber auch in der Schweiz, für einen Sinn? Die naheliegende Antwort, das kulturelle Angebot entspreche einer steigenden Nachfrage seitens der Öffentlichkeit, reicht nicht aus, um diese Erscheinung abschliessend zu erklären. Seit den 1970er-Jahren und der Erfahrung mit dem Centre Pompidou in Paris wissen wir: Ein neues Museum kann in der städtischen Aufwertung eine beträchtliche Rolle spielen, indem es den unternommenen Anstrengungen eine Sichtbarkeit verleiht, die durch die blosse Arbeit am Stadtgefüge schwer zu erreichen wäre. 

Das neue Museum dient als Speerspitze der städtischen Erneuerung und wird damit zu ihrem Sinnbild. Es verkörpert ihre Dynamik und garantiert ihren Erfolg. Wir nennen diese Instrumentalisierung einer kulturellen Einrichtung «Bilbao-Effekt». Die Auswirkungen dieser Methode lassen nicht lange auf sich warten. Beispiele prestigeträchtiger Einrichtungen ohne eigentliche Daseinsberechtigung häufen sich. Ohne einer echten Nachfrage zu entsprechen, begleiten sie Entwicklungs- bzw. Aufwertungsprojekte. Von zahlreichen Stiftungen, die aus einer prestigeträchtigen Tätigkeit Profit zu schlagen versuchen, bis zu grossen musealen Institutionen, die schlüsselfertige Nebengebäude verkaufen: die neuen Museen der Ära des Spätkapitalismus sind Ausdruck eines unternehmerischen Entwicklungs- und Profitdenkens. 

Die Redaktion von Tracés versucht mit der Ausgabe 2/2014, Klarheit zu schaffen, indem sie zwei Museen vergleicht, die zwar verwandt sind, jedoch auf der Ebene städtischer Projekte unterschiedlich wirken: das Musée d’ethnographie in Genf (MEG) und das Musée des Confluences in Lyon. Beim MEG handelt es sich um ein diskretes, proportioniertes  Projekt, das seine Eingliederung ins bestehende Gefüge gewissermassen als mikrochirurgische Reparatur auffasst. Ganz im Gegensatz dazu widerspiegelt das Musée des Confluences den Bilbao-Effekt in kleinerem Massstab. Dynamisch und kraftvoll verkörpert es die Bemühungen zur Erneuerung des Stadtteils von Lyon südlich des Bahnhofs Perrache.

Wir haben es mit zwei unterschiedlichen Modellen zu tun: Das eine Projekt ist ein Ergebnis zäher Verhandlungen und entspricht einer genau definierten Nachfrage. Das andere ist ein Gestaltungsinstrument für die Stadt. Das MEG wäre schliesslich ein Museum, das dem architektonischen Gebilde, von dem es aufgenommen werden soll, vorangeht und dieses auch mitbestimmt, während das Musée des Confluences ein Kulturprojekt benutzt, um eine architektonische Geste zu rechtfertigen.

Ohne letzteres Modell verurteilen zu wollen, kommt man um die Feststellung nicht herum, dass es viel leichter zu zweifelhaften Projekten Anlass geben kann. Wenn das Musée des Confluences davon nicht betroffen ist, so deshalb, weil das Museumsprojekt einer hochaktuellen, gesellschaftlichen Frage entspricht: jener nach der Rolle einer ethnographischen Ausstellung in unseren postindustriellen und angeblich postkolonialen Gesellschaften. Wie kann man einen gemeinsamen Bericht erarbeiten mit denjenigen, die in der nationalen Geschichte marginalisiert wurden? Bei allen Gegensätzen bildet die Beantwortung dieser Frage durch die beiden Museen die Grundlage ihrer Legitimität.

In Tracés 2/2014 lanciert die Redaktion auch eine neue Rubrik. Während eines Jahres wird sich Pierre Frey in jeder zweiten Ausgabe mit einem Objekt aus dem städtebaulichen und architektonischen Kulturerbe der Schweiz beschäftigen. Auf der Grundlage der Archives de la construction moderne (ACM) und in Zusammenhang mit einer Polemik oder einer neuen Herausforderung wird er versuchen, deren Reichtum und Komplexität zu erläutern.

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