Die ent­schei­den­de Pha­se vor dem Start

Viele Aufträge starten direkt mit einem Vorprojekt, ohne dass die Ansprüche an das Projekt genügend bekannt sind. Damit riskieren Planerinnen und Planer, die Bedürfnisse anstelle der Bauherrschaft klären zu müssen ­– oftmals kostenlos.

Publikationsdatum
05-10-2023

Im Jahr 2020 publizierte der SIA erstmals eine Ordnung für Leistungen der Bauherren (SIA 101). Das warf auf Bauherren- wie Planerseite Fragen auf. Weshalb sollte ein Berufsverband für Planerinnen und Planer – also Auftragnehmer – eine Ordnung für ­Auf­traggeber veröffentlichen? Die Kurzversion einer längeren Vorgeschichte lautet: Für den Projekterfolg ist eine klare Bedürfnisformulierung massgebend, und diese muss vom Auftraggeber kommen. Ebenso unbestritten wie diese Tatsache ist die Erfahrung der Planerinnen und Planer, dass dies in den seltensten Fällen gegeben ist. Mit der SIA 101 wurde als augenfälligste und wichtige Neuerung die Phase 0 Initia­lisierung eingeführt, unter anderem mit der Aufforderung an den Bauherrn «etwas, das erst in der Zukunft sein wird, heute in Worte zu fassen».

Präparierung der Piste

Der Anstoss zum vorliegenden Artikel geht auf eine Diskussion in der Kommission SIA101 zurück. Ein Kommissionsmitglied verglich die Situation in der Planungspraxis mit einem Skirennen: Für Aussenstehende beginnt das Rennen mit dem Startschuss − in die SIA-Projektierungssprache übersetzt in der Phase 3 Vorprojekt. Entscheidend für die erfolgreiche Durchführung des Rennens sind aber die Wahl der Örtlichkeit, die Festlegung des Kurses, die Präparierung der Piste und vieles mehr. Das heisst gemäss SIA-Phasenmodell: die Phasen 1 und 2, in denen die Bedürfnisformulierung und die Projektdefinition stattfinden. Eine der Ursachen für den Kaltstart mit ungewissem Kurs könnte in einem Missverständnis wurzeln, so eine These aus der Diskussion. Da die Leistungen der Phasen 1 und 2 in den LHO allesamt als «besonders zu vereinbarende Leistungen» klassifiziert sind, werden sie oftmals als fakultativ interpretiert und aus wirtschaftlichen Gründen übersprungen. Planerinnen und Planern empfiehlt es sich daher, ihre Auftraggeber auf den Inhalt der LHO aufmerksam zu machen.

Die «Formulierung der Bedürfnisse» (Phase 1) und das «Erstellen der Projektdefinition» (Phase 2) sind darin unmissverständlich als «Leistungen und Entscheide des Auftraggebers» festgeschrieben. Bei der Erarbeitung dieser Grundlagendokumente kann sich der Auftraggeber durch die Planenden unterstützen lassen oder diese werden in Zusammenarbeit entwickelt – jedoch immer auf geregelter Auftragsbasis. Zur Erläuterung der in den LHO knapp gehaltenen «Leistungen und Entscheide des Auftraggebers» und ­Sensibilisierung für die damit einhergehende Verantwortung und Chancen kann die SIA101 beigezogen werden. Projektanforderungen, die in einem frühen Stadium noch nicht definiert werden können oder erst im Rahmen des Planungsprozesses entwickelt werden sollen, sind als offen zu deklarieren. Gleichzeitig sollten die Planenden und der Auftraggeber gemeinsam festlegen, wann und wie diese verbindlich geklärt werden. In der Analogie des Skirennens: Es spielt keine Rolle, ob man den Hang in der Abfahrts­hocke oder mit Slalomschwüngen bezwingt – Hauptsache es besteht eine gemeinsam festgelegte Vereinbarung.

Routenplanung

So weit die Theorie. Doch was können Planerinnen und Planer unternehmen, wenn sie eine präparierte Piste erhalten wollen? Das Architekturbüro Fischer Architekten zum Beispiel ist ISO9001 zertifiziert. Eine der Voraussetzungen für dieses Gütesiegel für Qualitätsmanagementsysteme ist der Beschrieb der büroeigenen Prozesse. Christian Leuner, der das Büro über zwei Jahrzehnte lang geleitet und geprägt hat und in der Kommission SIA101 die Planerseite vertritt, bestätigt, dass der ­Einstieg ins Vorprojekt oftmals ohne Projektdefinition erfolgt, geschweige denn mit einem darauf aufbauenden Projektpflichtenheft. Bei Wettbewerben kann man das Programm als Projektdefinition interpretieren. Beim Fehlen einer solchen Definition, etwa bei Direkt­aufträgen, riskiert man, dass das Budget bereits aufgebraucht ist, bevor man ins Vorprojekt einsteigt – oder Phase 2 wird stillschweigend in Phase 3 geleistet, ohne Vergütung. Das ist verheerend.

Bei Fischer Architekten ist deshalb bei nahezu jedem Auftrag die Machbarkeitsstudie (Teilphase 21) zur «Präparierung der Piste» fester Bestandteil des gesamten Planungsprozesses. Wenn also eine Bauherrschaft das Büro mit einer Vorstellung kontaktiert und eine Honorarofferte einholen möchte, offerieren Fischer Architekten zusätzlich eine Machbarkeitsstudie. Die dabei erfolgende frühe Schärfung der Fragestellung erhöht die Sicherheit für beide Seiten. Angesichts der mit digitalen Planungsmethoden verbundenen Tendenz, bereits früher ins Detail zu gehen, also Phasen vorzuziehen, bleibt laut Leuner immer weniger Budget für die eigentliche Projektentwicklung beziehungsweise Auftragsklärung. Die Berücksichtigung und auch tatsächliche Umsetzung von Teilphase 21 erachtet er als entscheidend für den Projekterfolg.

«Problemfinding» versus «Problemsolving»

Was auf Bauvorhaben nach Phasenmodell SIA112 Bauplanung zutrifft, gilt auch für reine Planungsaufgaben nach Phasenmodell SIA111 Planung und Beratung. Dunja Kovári, Mitinhaberin der Agentur für Städtebau und Planung sa_partners, ist der Ansicht, dass eine präzise Auftragsdefinition für ihren Berufszweig sogar noch wichtiger ist. Das häufige Versäumnis der Auftraggeber, diese zu erstellen und die damit verbundenen Einbussen auf Auftragnehmerseite waren für sie mit ein Grund, der Kommission SIA111 beizutreten. Was unter «Offerte» angefragt werde, sei oft die Definition des gesamten Prozesses. In der Regel würden mehrere Planungs­büros dazu eingeladen. Das heisst, der Auftraggeber erhält eine Palette an Lösungsansätzen ­− und zwar kostenlos. Da Planungsaufgaben oft bereits nach Phase 1 und 2 enden, decken die Lösungsvorschläge teilweise bereits den entscheidenden Teil der gesamten Aufgabe ab.

Angelus Eisinger, Planungshistoriker, Direktor des Planungsdachverbands Region Zürich und Umgebung (RZU) und ebenfalls Neumitglied der Kommission SIA111, stimmt dieser Beobachtung zu. Bei Planungsvorhaben liege die Herausforderung oft in der Suche nach «Antworten auf Fragen, die noch nicht genau bekannt sind». Viel entscheidender als das «Problemsolving» sei daher das «Problemfinding». Dies bedarf eines fundierten Fachwissens, worüber Auftraggeber gemäss Kováris Erfahrung oftmals nur bedingt verfügen, und auch eines Bewusstseins für die Anforderungen und deren Änderungen. In ihrer Planungspraxis beobachtet Kovári oft, dass Lösungen für Fragestellungen gesucht werden, die aus dem letzten Jahrhundert stammen, schlicht aus dem Grund, dass man es bislang immer so gemacht hat. Gerade im Zusammenhang mit komplexen Themen unserer Zeit wie «Hitze in der Stadt» macht sich das Fehlen eines ganzheitlichen «Problemfinding» auf verheerende Weise bemerkbar. Zur Verringerung der Hitze schrieb beispielsweise eine Gemeinde einen Wettbewerb zur Umgestaltung eines kurz davor aufwendig sanierten Quais aus. Tatsächlich speichert der Fluss jedoch dermassen viel Wärme, dass eine Umgestaltung an diesem Ort nur sehr bedingt zum gewünschten Effekt führen würde.

Sicherheitsfragen

«Are you really sure that you need a building?», soll der britische Architekt Cedric Price seine Bauherren ganz im Sinne der SIA101 zuweilen gefragt haben. Den Auftraggeber mit solchen Fragen für das «Problemfinding» zu sensibilisieren, erfordert Mut. Doch riskanter, als die Absage eines Rennens zu wagen, ist ein ­Rennen auf Glatteis.

Wegleitung «Projekt­definition»
Im Rahmen der laufenden Revision der Leistungs- und Honorarordnungen (LHO) hat eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe den Revisionsbedarf um das Thema der Projektdefinition untersucht. Die Arbeitsgruppe ist zum Schluss gekommen, dass die heutigen LHO bereits alle für die Vertragspartner erforderlichen Angaben beinhalten. Aufgrund der hohen Relevanz des Themas wird in Ergänzung zu den LHO eine Wegleitung zur «Projektdefinition» erarbeitet. Bis zu ihrer Publikation, die für Ende 2024 geplant ist, empfiehlt es sich, die LHO und bei Bedarf die SIA 101 Ordnung für Leistungen der Bauherren zur Erläuterung der «Leistungen und Entscheide des Auftraggebers» in diesen für den weiteren Projektverlauf entscheidenden Phasen beizuziehen.

Begriffsdefinitionen nach SIA 112
Sämtliche im SIA-Normenwerk enthaltenen Begriffsdefinitionen beispielsweise für die «Projektdefinition» oder das «Projektpflichtenheft» sind auf SIATerm zu finden: term.sia.ch

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