De­sign ist Po­li­tik

Vergangenes Wochenende öffnete die 4. Design Biennale Istanbul ihre Tore. Ein Grund, eine Perle aus dem Archiv hervorzuholen: Mark Wigley und Beatriz Colomina, Kuratoren der letzten Ausgabe, stellten die gesellschaftliche Funktion von Design in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Im Gespräch mit Tracés-Redaktor Christophe Catsaros erläuterten sie ihr aussergewöhnliches Konzept.

Publikationsdatum
27-09-2018
Revision
27-09-2018

Die Design Biennale Istanbul, die im Herbst 2016 stattfand, hat sich einem übergeordnetem Thema verschrieben: Ganz anders als bei vergleichbaren Veranstaltungen ging es hier nicht um die Präsentation von Gegenständen, sondern um eine vollständige Neudefinition des Begriffs «Design» und damit der Aufgabe des Designers und des zu Gestaltenden.

Um die öffentliche Rezeption der veränderten Bedeutung von Design zu fördern, wurde ein Katalog von acht Thesen aufgestellt, die eine Grundlage zur Auseinandersetzung mit neuen Bereichen und Tendenzen bilden. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse dienen jetzt als Grundlage für langfristige Engagements in sozialen und kulturellen Zusammenhängen. Allem voran steht die Frage: «Are we human?» 

Christophe Catsaros: Das wird keine Designbiennale sein, auf der Stühle und Lampen gezeigt werden, oder? Sie erweitern den Designbegriff und dessen Rolle. Wie relevant ist Ihrer Ansicht nach Design?

Mark Wigley: Das typische Format einer Design-Biennale ist eine Art Messe, bei der eine Reihe schöner Objekte vorgestellt werden. Das verstärkt die Vorstellung, dass Designer und Designerinnen schöne Dinge für ein schönes Leben machen. Wir aber möchten dieses Konzept vom «guten Design» herausfordern.
Was bedeutet «gutes Design», wenn man das Wetter, das menschliche Genom, die Wirtschaft und politische Beziehungen designt? Was tun wir als Designer/-innen und Designtheoretiker/-innen, wenn schon die ganze Welt designt wird? Unter diesen Voraussetzungen infantilisiert eine Ausstellung schöner, intelligenter Objekte die Designer/-innen irgendwie – insofern, als sie ihren Radius verringert.

Beatriz Colomina: Der erweiterte Designbegriff gilt auch für den Zeitrahmen. Von Biennalen wird erwartet, dass sie die Entwicklungen in den vergangenen zwei Jahren abbilden. Dieser Ausschnitt ist mehr oder weniger einschränkend, weil er den Zeitrahmen reduziert, um ihn an einen engen Begriff von Neuheit anzupassen. Zelebriert wird «ein neuer Stuhl» oder «eine neue Lampe». Wir sind der Auffassung, dass ein Horizont von zwei Jahren eine unmögliche Arbeitsbasis ist, denn dadurch wird eine Art falscher Vorstellung von Neuheit forciert und am Ende nicht das reflektiert, was in der Welt vorgeht.
Design in der eingeschränkten Art und Weise, wie wir es heute verstehen, wurde vor ungefähr 200 Jahren im Kontext der Debatten über die Grosse Industrieausstellung in London ausformuliert. So sprangen wir zunächst von der engen Vorstellung von Zweijahres-Neuheiten in eine historischere Dimension – in jene des Industriedesignobjekts und der Polemik, die sich angesichts grosser Umwälzungen in der Industrialisierung und Globalisierung entwickelten. Derzeit befinden wir uns in einer ebensolch ausgeprägten Übergangsphase, die neuerlich zu der Frage führt, was Design und was eine Designbiennale ist.
Von zwei Jahren zu 200 Jahren … Und das war erst der Anfang! Schliesslich kamen wir auf die Anfänge der Menschheit zu sprechen. Da viele Theorien darüber, was uns zu Menschen macht, mit der Frage nach den Werkzeugen zu tun hat, stellten wir die Theorie auf, dass Werkzeuge designt sind und am Anfang des Menschen das Design war. Daraus schlossen wir, dass der Mensch mehr ist als ein Tier, das Werkzeug designt, und dass das Werkzeug den Menschen designt. Der Augenblick, in dem man einen Schuh anzieht statt barfuss zu gehen, verändert die Füsse für immer. Man hat einen neuen Körper.

Catsaros: Der Zeitrahmen für die Biennale ist also das Anthropozän.

Colomina: Es ist das Anthropozän, aber am anderen Ende der Zeitleiste kommt noch eine andere Dimension hinzu, wenn man über die sozialen Medien und die tief greifenden Veränderungen von Kommunikationsprozessen in den vergangenen zwei Jahren nachdenkt: Es hat sich eine neuer Raum für das Verständnis von Design aufgetan, das wir «2-Sekunden-Design» nennen. «2 Sekunden» stammt von einem besonderen sozialen Medium, Snapchat, wo man etwas zwischen einer und zehn Sekunden lang posten kann, ehe es verschwindet. So begannen wir über die Macht von 2 nachzudenken – von den zwei Sekunden in den sozialen Medien bis zu dem ursprünglichen zweijährigen Zeitraum einer Biennale und weiter bis zu 200 oder 200 000 Jahren. Es steckt etwas von der «Macht der 10» der Eames drinnen, übersetzt in die «Macht der 2».

Catsaros: Diese erste Erweiterung führt zur Vorstellung, dass wir in einer durch und durch designten Welt leben, ja, dass der gesamte Planet mit Design überzogen ist. Auch alles, was uns «natürlich» erscheint, wie beispielweise die Schweizer Alpen, ist in Wirklichkeit ein Konstrukt und somit designt.

Wigley: In dem Augenblick, da wir etwas «Natur» nennen, machen wir diese zu einem Teil der menschlichen Sphäre. Das Wort «Natur» bringt das Aussen nach innen. Natur ist somit immer designt. Lange Zeit dachte man, dass die Natur das schönste aller Designs sei. Es gibt eine Tradition, der zufolge Design als Bemühen zu verstehen ist, das schöne Design nachzumachen, das wir in der Natur und in unserem eigenen Körper finden. Wenn aber Natur designt ist, dann nicht durch einen Gott, sondern durch Menschen, die irgendwann zu Göttern wurden.
Vielleicht ist all das passiert, als die Menschwerdung begann – mit der allerersten Geste, mit der der Mensch etwas erfand. Die Welt änderte sich ab dem Moment, als wir mit unseren Erfindungen begannen. Wenn das der Fall ist, stellt sich die Frage, was das erste Design war und wann der Mensch zum Menschen wurde. Und: War diese Geste ornamental oder funktional?
Das Narrativ lautet, dass Menschen Dinge herstellten, um zu überleben, Werkzeuge, um mehr Tiere töten zu können, ehe sie Schmuckgegenstände ohne physikalische Funktion bzw. soziale Artefakte für die Kommunikation herstellten. Eine jüngere archäologische Theorie hält es für möglich, dass das Ornament früher da war, dass die ersten menschlichen Gesten symbolisch waren und das Ornament für Kommunikation und Austausch nutzten.
Wenn Design tatsächlich mit dem Ornament und nicht mit der Funktion beginnt, dann ist der Mensch nicht nur die Spezies, die Werkzeuge verwendet, weil andere Tiere ebenfalls Werkzeuge haben, noch ist der Mensch die Spezies, die Werkzeuge hat, um Werkzeuge herzustellen. Eine genauere Definition wäre, dass die Menschen die einzige Spezies sind, die Werkzeuge haben, die nicht funktionieren. Unsere Fähigkeit, solch unnütze Dinge herzustellen, wäre ein Zeichen unserer Intelligenz oder sogar ihr Ursprung. Wir stellen Dinge her, die keinen offensichtlichen Zweck haben, um sie zu betrachten oder um Mutmassungen anzustellen, wir stellen Gegenstände her, die uns verwirren, die seltsam sind oder mit denen wir Dinge tun können, die wir nicht erwartet haben.
So gesehen ist Design nicht etwas, das von unserem Gehirn aus zum Gegenstand geht, sondern eher auf dem entgegengesetzten Weg – vom Gegenstand zum Hirn. Das könnte die wahre Geschichte des Designs sein: Die Geschichte der – seltsamen – Art und Weise, wie wir unsere Gedanken in Form von Gegenständen externalisieren. Objekte als Gedanken, die unser Denken verändern. Um diese Vorstellung des Gegenstands als Vater des Gedanken dreht sich bei dieser Biennale alles.

Colomina: Jüngste Forschungen haben nachgewiesen, dass Werkzeuge vom Beginn der Menschheit an nicht immer nützlich waren. Sie boten keinen physischen Vorteil, wiesen aber andererseits einige Merkmale wie Symmetrie auf, die sozial bedeutsam waren. Ein scharf aussehendes «Designerwerkzeug» hat womöglich dabei geholfen, einen Sexualpartner oder eine Sexualpartnerin zu finden. Das wird noch deutlicher, wenn man den ornamentalen Aspekt von Waffen betrachtet.
Von diesem Blickwinkel aus kann die «ornamentale» Dimension eines Objekts tatsächlich zum Überleben beitragen, nicht, weil dieses Werkzeug besser zum Töten geeignet ist, sondern weil es etwas über die Person, die es gestaltet hat, aussagt.

Wigley: Vor 1,7 Millionen Jahren hat der Homo erectus begonnen, einen perfekt symmetrischen Faustkeil herzustellen, indem er einen Stein mit einem anderen behaute. Er brauchte nicht symmetrisch sein, und viele dieser Faustkeile haben keine Gebrauchsspuren. Das deutet darauf hin, dass es besser war, einen schönen Faustkeil zu machen, als einen, der besser funktionierte.

Catsaros: Wenn man das Symbolische an den Anfang der Definition von Design stellt, würde das bedeuten, dass die Funktion dem Objekt folgte? Bedeutet das, dass zuerst das Objekt auftaucht und dann einen Zweck findet?

Wigley: Um ein Objekt herzustellen, das eine eindeutige Funktion hat, muss man Objekte machen, die keine offenkundige Funktion haben. Man muss spekulieren. Und das Symbolische ist Spekulation mit Objekten. Es ist für uns sehr wichtig, dass diese Ausstellung Fragen stellt. Design ist eine Möglichkeit, Fragen zu stellen, und nicht eine Möglichkeit, Antworten zu liefern. Wir sind weggegangen von den normalen Voraussetzungen einer Designbiennale, schöne Antworten auf klare Fragen vorzustellen. «Design» zu definieren bedeutet für uns eher, ständig dort Fragen zu stellen, wo die Vorstellung nicht so klar ist. Das Objekt, das jemand herstellt, kann für einen ebenso mysteriös sein wie ein Objet trouvé für Archäologen, die Technofossilien untersuchen und sich fragen, welches Verhalten man mit ihnen verband.
Bei der Betrachtung der ersten Höhlenbilder werden einem jene Tiere auffallen, die für den Menschen die grösste Gefahr darstellten. Es sind keine Bilder von Tieren, die wir assen, sondern von Tieren, die uns frassen. Der Akt der Darstellung ist also möglicherweise ein Akt des Bannens von Angst, um Gefahr in etwas anderes zu verwandeln.
Eine wichtige Funktion von Design ist also die eines Stossdämpfers gegen den Schock, dass man lebendig ist. So gesehen, ist modernes Design mehr als bequeme Objekte für das moderne Leben in einer globalisierten Welt zu entwerfen. Es könnte auch Objekte einschliessen, die es einem ermöglichen, in der modernen Welt psychologisch zu überleben.

Catsaros: Daher die Vorstellung, dass Design eine narkotisierende Wirkung hat.

Wigley: Was, wenn das die wichtigste Aufgabe von Design ist? Das würde auch bedeuten, dass das moderne Design so modern gar nicht war. Das moderne Gebäude kommuniziert Ideen über die Welt der Maschinen, aber es ist keine Maschine. Wir leben in einer Maschinenwelt. Maschinen umgeben uns, und es gibt sogar in unserem Körper Maschinen, aber die Architektur, die behauptet, eine Maschine zu sein, ist in Wirklichkeit nie eine Maschine. Auch wenn sie umwelttechnisch und technologisch sehr fortgeschritten erscheint, ist sie als Mechanismus nicht allzu fortgeschritten.
Die meisten Häuser sind die am wenigsten ausgereiften Objekte, die man kennt. Ihr Telefon, Herd, Fernseher, Computer und sogar der eigene Körper sind aussergewöhnlich ausgeklügelt und interaktiv, aber das Haus nicht. Es ist eine Art Isolierschicht gegen Technologisches.

Catsaros: Gibt es eine Parallele zwischen dem, wie Sie Design definieren, und dem, wie George Bataille 1932 «Architektur» definierte? Erweitern Sie den Designbegriff bis zu dem Punkt, an dem der Begriff auch sein Negativ umfasst?

Wigley: Ja, Bataille ist hier eindeutig relevant. Ein Teil seiner Definition von Architektur besteht darin, dass alles, was einen Design-Beigeschmack hat, nach brutaler Autorität strebe. An diesem Punkt muss ich an Giedions «Herrschaft der Mechanisierung» denken. Erinnern Sie sich: Der wichtigste Förderer einer Architektur für das Maschinenzeitalter der 20er- und 30er-Jahre wird im Zweiten Weltkrieg angesichts der Massenabschlachtungen und des Genozids ungeheuer selbstkritisch und beginnt zu glauben, dass die Maschine den Menschen bei lebendigem Leib auffrisst. Er beendet das Buch mit dem Satz: «Es ist Zeit, wieder menschlich zu werden.» Was macht er sofort danach? Er geht in die Höhlen, sieht sich «primitive» Malereien an und schreibt zwei dicke Bücher über den Ursprung von Kunst und Architektur.
Diese Geste der Rückbesinnung auf den Ursprung des Menschen ist tatsächlich eine Komponente beinahe aller wichtigen Designtheorien. Die Frage «Sind wir menschlich?», wie wir sie in der Biennale stellen, ist ebenso dringlich wie alt. Wir denken, dass sich diese Frage jeder Designer und jede Designerin stellt. Wenn die Ausstellung die normalen Annahmen über Design herausfordert, so führt sie direkt zur Frage, die jeder Designer stellt, wie es auch von ihm oder ihr gefordert wird.

Colomina: Ebenso wichtig ist, dass damit für Design eine Rolle beansprucht wird, die es derzeit nicht spielt. Niemand ist überrascht, zur Kunstbiennale nach Venedig zu fahren und Künstler vorzufinden, die sehr wichtige philosophische und politische Fragen stellen. Niemand aber erwartet von einer Designbiennale, Fragen zu Themen jenseits von Design, jenseits der sehr engen Welt des Designs zu stellen. Warum ist das so? Deswegen beanspruchen wir für das Designfeld eine viel grössere Rolle.

Catsaros: Wenn man Design historisch betrachtet, erkennt man, dass es diese Rolle schon immer spielte. Es gibt in den 30er-Jahren eine kritische Designtheorie, als Hannes Meyer die politische Bedeutung von Design in den Vordergrund stellte.

Wigley: Ja, er dachte, Design wäre biologisch, ein biopolitisches Organsystem. Unsere Ausstellung ist in diesem Sinn politisch. Wenn der Mensch ein designendes Tier ist, so bestehen wir auf der Dimension «Tier». Design ist biologisch, physiologisch und psychologisch und daher politisch und philosophisch, nicht zuerst politisch und dann auf die Biologie angewandt. Es ist politisch im biologischen Sinn.

Catsaros: Bedeutet die Tatsache, dass Design auch das Design des Unterlassens umfasst, auch, dass die informellen Muster und das informelle Verhalten als systematisch begriffen werden sollen? Ist Design eine Möglichkeit, dem Informellen Platz zu verschaffen?

Colomina: In den letzten zwei Jahren etwa ist es unmöglich geworden, die Lage der Flüchtlinge zu ignorieren. Je genauer man hinschaut, desto besser erkennt man, dass Design bei jedem Prozessschritt mitspielt. Die Boote, in denen die Flüchtlinge das Mittelmeer oder die Ägäis überqueren, sind designt, die Schwimmwesten, die Plastiküberzüge der Handys etc. Die Boote sind Einwegboote und aus Plastik schlechterer Qualität designt als das Plastik, das für Kinderplanschbecken verwendet wird. Sie sind für das Untergehen designt, und das tun auch viele. Die Flüchtlinge werden angewiesen, die Boote zu zerstören, nachdem sie gelandet sind, damit sie nicht auf demselben Boot zurückgeschickt werden können. Es ist unglaublich, dass diese designte Tragödie in einem absolut überwachten Raum passiert. Das Militär hat in keinem anderen Meer mehr Sensoren als im Mittelmeer. Dieses Untergangsdesign nennen wir «Unterlassungsdesign».

Wigley: Jedes Boot, das sich in diesen Wassern bewegt, wird mit zahlreichen Systemen verfolgt. Vergessen wir nicht, dass Migrantinnen und Migranten funktionierende Handys bei sich haben, mit denen sie sich selbst überwachen. Sie werden von uns, von den Medien, vom Militär und von anderen, auf ihre Überfahrt wartenden Migrantinnen und Migranten beobachtet. Wir beobachten sie beim Sterben als Bürger einer globalen Gemeinschaft, die die Situation, in der sie dieses dramatische Risiko auf sich genommen haben, mit grosser Sorgfalt vorbereitet hat.
Wir behaupten, dass jede Dimension dieser Situation – eine Situation radikaler Unterlassung – designt ist. Diesbezüglich müssen wir ein neues Designkonzept entwickeln. Wir interpretieren Unterlassungsdesign auch psychologisch. Wie ist es gelungen, uns zu lehren, dass wir Leuten beim Sterben zusehen können?

Colomina: Sie nicht zu retten ist ein bewusster Akt der Unterlassung, weil die Informationen verfügbar sind.

Wigley: Viele Designerinnen und Designer versuchen zu helfen, und es gibt eine lange Tradition des Notdesigns, die wir vollkommen respektieren, aber für Designer/-innen könnte es wichtig sein, von der Not-Rolle wegzugehen und Bedingungen anzusprechen, die das Problem überhaupt hervorbringen. Wenn man akzeptiert, dass Design eine Form von Spekulation ist, dann entspricht das dieser Entwicklung.
Wir glauben noch irgendwie an Designer/-innen; warum sonst würden wir wohl eine Designbiennale veranstalten? Wir glauben, dass die Denkweise von Designer/-innen erstaunlich wach und hell ist, aber diese Intelligenz widmet sich einer Art kosmetischer Gesellschaftsschicht, dem eleganten Stuhl, dem Tisch und der Lampe: einer prophylaktisch narkotisierenden Schicht, die die Welt von uns abschirmt. Designer/-innen könnten interessantere Dinge tun.

Catsaros: Wenn narkotisches Design die prophylaktische Schicht ist, die die Welt abschirmt, was ist dann nicht-narkotisches Design? Ist dann das Design für den Tod? Gefängnisse, Schlachthöfe und KZs als designte Umgebung?

Wigley: «Design ohne Narkose» zu denken war der letzte von acht Vorschlägen, die wir ungefähr 80 verschiedenen Biennale-Teilnehmern/-innen gemacht haben und auf die sie reagieren sollten. Das umfasst Designer/-innen, Architekten/-innen, Philosophen/-innen, Naturwissenschaftler/-innen und Archäologen/-innen. Die Reaktion auf diesen Vorschlag interessiert uns am allermeisten.

Colomina: Design für den Tod ist unvergleichlich menschlich. Wenn man daran denkt, worin sich der Mensch von anderen Tieren unterscheidet, dann ist man sehr schnell beim Tod. Es ist nicht der Tod als eine Art Albtraum des 20. Jahrhunderts, sondern Design für den Tod als Ausgangspunkt des Menschlichen. Wir sind die einzige Spezies, die des Todes eingedenk ist und hohe Summen und viele Ressourcen, Materialien und Symbole investiert, um ihn zu zelebrieren. In allen Kulturen gibt es zahlreiche Rituale einschliesslich unterschiedlicher Formen von Design. Der Tod ist eindeutig ein wichtiger Teil des Designs.

Wigley: Wir designen auch den Tod insofern, als wir das Töten anderer Menschen und anderer Arten designen – und wir sind sehr gut darin. Dieser Aspekt des Todes steht im Mittelpunkt jedes Diskurses über Design. Jeder Designer bzw. jede Designerin meint, dass das Leben mit dem Ergebnis seines ­Designs besser ist. Keiner wird behaupten, dass das Leben mit dem Ergebnis seiner Arbeit schlechter geworden ist. Warum sollte man also an diesem Punkt nicht ein Recht auf Zögern einführen und sagen, dass es nicht immer besser ist. Es geht nicht nur um Leben und Tod, sondern auch um Ungleichheit. Designer/-innen können von einem Design, das überall allen jederzeit zugutekommt, noch so sehr träumen – es könnte gleichzeitig Ungleichheit erzeugen.

Colomina: Designer/-innen müssen sich oft mit Entscheidungen dieser Art herumschlagen. Wir blenden das gern aus, aber es ist trotzdem da. George Nelson, der berühmte amerikanische Designer des amerikanischen Pavillons auf der Weltausstellung 1959 in Moskau, drehte einen Film über genau diesen Aspekt von Design mit dem Titel «How to Kill People». Nelson erklärt darin die Geschichte von Tötungsmethoden als eine Geschichte von gelungenem Design.

Wigley: Das Konzept «gelungenes Design» entstand vor ungefähr 200 Jahren während einer langen Debatte, die in England begann und dann nach Deutschland, Österreich, die Vereinigten Staaten und in die ganze Welt getragen wurde. Es wurde in enger Zusammenarbeit mit der Regierung und der Wirtschaft entwickelt und war niemals unschuldig. Es war eher ein Symptom der industrialisierten und globalisierten Welt als eine Reaktion darauf. Heute ist es allgemein verbreitet. Es gibt Designhotels, Designfestivals, Designbiennalen und Designstadtviertel. Politiker/-innen sprechen über Design. Es gibt biologisches, medizinisches und Wetterdesign. Der Begriff hat sich virusartig verbreitet, aber die Gemeinschaft, die ihn entwickelt hat, ist bei den Tischen, Lampen und Stühlen stecken geblieben, als ob sich nichts verändert hätte. Ihr Traum vom umfassenden Design wurde umgesetzt, aber von anderen Leuten.
Sollten wir nicht die Möglichkeit ins Auge fassen, einen neuen Designbegriff zu entwickeln? In der Biennale geht es hauptsächlich darum, das Designkonzept neu zu designen. Das soll uns dabei helfen, unsere Disziplinen klarer zu umgrenzen, zu erkennen, dass sich Design gewandelt hat und dass es für unsere Gemeinschaft höchste Zeit ist, darüber nachzudenken. Wir stellen keine neue Theorie vor, sondern sagen nur: Design ist jetzt so erfolgreich, dass wir innehalten, nachdenken und neu starten, Design neu designen müssen.

Catsaros: Ein Projekt zur Wiederaneignung …

Colomina: So könnte man es nennen. Heute haben Wirtschaftsunis eine Designabteilung, weil Design ein wichtiger Teil der Wirtschaft geworden ist. Firmen, die mit Design überhaupt nichts zu tun haben, haben einen Designbeauftragten. In Universitäten ist Design mittlerweile so wichtig, dass sie genau analysieren, was wir in den Architekturfakultäten lange gemacht haben. Pädagogisch wird die Studio-Methode, der Think Tank, in dem mehrere Studierende gemeinsam eine Aufgabe lösen, gerade als Modell für andere Fächer eingeführt, für Leute in der Wirtschaft und in den Natur- und Geisteswissenschaften. Designdenken ist zu einer Art Mantra geworden.

Wigley: Dieser Augenblick im frühen 21. Jahrhundert ist der richtige Moment, um noch einmal darüber nachzudenken. Rückblickend erkennt man, dass im 19. Jahrhundert der Diskurs über Design mit einer Tradition von Ausstellungen, Magazinen, Büchern und Manifesten begann, die als mächtiger Motor für die Entwicklung und Verbreitung des Konzepts wirkten. Dieses Konzept wird gar nicht mehr infrage gestellt. Sie können sich denken, dass man, wenn man seinen Kaffee aus einer von Aldo Rossi designten Kaffeekanne trinkt, ein geringfügig besserer Mensch ist, und dass man keine Theorie dafür braucht, weil jeder dieselbe Designidee teilt. Wenn wir sagen, dass es Zeit ist, Design neu zu starten, so ist das der Versuch, sich eine bestimmte historische Dimension wieder anzueignen.

Colomina: Es gibt noch eine andere Dimension: Design ist keiner kleinen Gruppe mehr vorbehalten. Jeder ist irgendwie ein Designer; jeder designt und schafft sich sein eigenes Leben in den sozialen Medien. Somit sind Menschen, für die Designer designen, bereits selbst Designer.

Wigley: Gleichzeitig ist sich keiner und keine von uns der Auswirkungen von Design voll bewusst. Das Handy ist dünn, filigran und ausserordentlich effizient, es fühlt sich an wie ein Teil der eigenen Hand, wie ein Teil von einem selbst. Es ist aber auch ein Narkosemittel. Man will nicht wissen, dass die Kommunikationsinfrastruktur, mit der es einen verbindet, das grösste einzelne jemals von Menschenhand hergestellte Artefakt ist. Jedes Mal, wenn man dieses kleine filigrane Ding, das überhaupt nicht so aussieht, als ob man es mit irgendetwas verbinden könnte, berührt, wird dieses riesige Gehirn aktiviert. Nicht nur das Telefon ist nun Teil des Körpers und Gehirns, sondern auch diese riesige Infrastrukturintelligenz.
Wenn man Google eine Frage stellt, bekommt man nicht nur eine Antwort, sondern eine Antwort auf Grundlage der Fragen, die man in letzter Zeit gestellt hat. Dadurch wird Google zu einem Teil des Gehirns, des Selbstbilds. Auch wenn man sich selbst designt, indem man über sein Handy wischt, ist es nicht klar, wer da eigentlich designt – man selbst, die Freunde/-innen oder die Algorithmen? Was also ist Design in dieser Welt, die genau diese Alltagswelt ist? Obwohl der Ausdruck «Design» überall präsent ist, haben wir keinen Designbegriff, der dem Alltagsleben gerecht wird.

Catsaros: War die offene Ausschreibung für die Teilnahme an der Biennale ein Erfolg?

Colomina: Ja, die Beteiligung war hoch. Ungefähr 200 Teams aus ca. 35 Ländern haben Zwei-Minuten-Videos eingereicht, die neben den ca. 80 Installationen in der Biennale ausgestellt werden. Es stellen nicht nur Designer/-innen, sondern auch Architekten/-innen, Künstler/-innen, Historiker/-innen, Archäologen/-innen, Aktivisten/-innen und Naturwissenschaftler/-innen aus. Einer von ihnen, Sebastian Seung, ist ein faszinierender Neurologe aus Princteon, der argumentiert, dass sich unser Hirn beim Denken verändert. Diese Perspektive ist interessant. Wenn wir designen, verändert sich unser Hirn, sozusagen.

Catsaros: Unser Hirn wäre demnach durch und durch inkremental?

Colomina: Ja, als ob das erste Ding, das designt wird, unser Hirn wäre …

Wigley: Vielleicht ist das Hirn heute das, was der Weltraum in den 60er-Jahren war.

Colomina: Genau. Die neue Aussengrenze. Wir haben eine Anzahl von Installationen über die russischen und amerikanischen Raumprogramme in der Biennale, von denen jedes auf seine Weise eine sorgfältig kuratierte Designausstellung oder ein Menschendesignprogramm war. Die Raumsonde «Voyager 1», die auf eine intergalaktische Reise geschickt wurde, ist eigentlich eine tragbare Ausstellung. Sie enthält eine spezielle Sammlung von für die menschliche Spezies charakteristischen Tönen und Bildern für den Fall, dass die Sonde von einer anderen intelligenten Art abgefangen würde. Eine Darstellung des Menschen fliegt täglich eine Million Meilen von der Erde weg, und diese kleine Ausstellung über den Menschen ist nun ausserhalb des Sonnensystems.

Wigley: Diese Maschine im Raum ist Teil von uns, ein Teil des menschlichen Körpers. Wenn Design historisch die Aufgabe hatte, die Beziehung zwischen Mensch und Maschine auszuhandeln, welche Aufgabe hat es dann heute, da wir schon lang Maschinen sind? Dem gehen wir in Istanbul nach.

Colomina: Wir sollten zumindest eine Diskussion starten. Das versuchen wir mit dieser Ausstellung. Statt Fragen zu beantworten oder Objekte auszustellen, fungiert sie eher als eine philosophische Forschung zur Frage, was aus uns geworden ist.

Übersetzung aus dem Englischen: Maria Nievoll.

4th Istanbul Design Biennial
Bis 4. November 2018
Weitere Infos: aschoolofschools.iksv.org

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