«Bobois»-Architektur
In der sich rasch wandelnden nördlichen Agglomeration von Paris hat das Architekturbüro Tectône 2015 ein Mehrfamilienhaus aus Holz fertiggestellt. Die Materialwahl prägt die Bauweise und den architektonischen Ausdruck.
In den bevölkerungsreichen Vororten nördlich von Paris werden seit zwei Jahrzehnten zahlreiche Stadterneuerungsprojekte in ausgewiesenen Sanierungszonen, den Zones d’aménagement concerté (ZAC), durchgeführt. Ein interessantes Beispiel ist die ZAC Auvry-Barbusse in Aubervilliers. Mitten im typischen Vorstadtgeflecht mit kleinen Werkstätten und zwei- bis dreigeschossigen, notdürftig verputzten Wohnbauten ist ein wildes Durcheinander an architektonischen Ausdrucksformen entstanden: mit Aluminiumwellblech bedeckte Satteldächer, mit perforiertem Edelstahl verkleidete Fassaden, hochkant vermauerte schwarze Backsteine, apfelgrüne und zitronengelbe Schiebeläden, Fensterbrüstungen mit Blumenmuster oder Maschrabiyya-Dekor – für jeden Geschmack etwas. Aus dieser riesigen Materialsammlung, diesem architektonischen Sprachengewirr stechen die drei schraffierten Holzblöcke des Architekturbüros Tectône wohltuend zurückhaltend heraus.
Die Stadtvilla
Zwei die Parzelle durchquerende Fusswege erschliessen die drei Mehrfamilienhäuser mit je 13 Wohnungen. Diese von den traditionellen Vorstadtgässchen inspirierten Passagen machen die Überbauung durchlässig und transparent. Auf der Nordseite, an der Rue Auvry, befinden sich hinter einem Sockel aus vorgefertigten weissen Betonelementen Werkstätten mit grossen Fenstern gegen das Trottoir und die Fusswege. Beton ist ein Material, das die bauliche Umgebung der Nachbarschaft prägt. Südlich, gegen den begrünten Square Jean Ferrat, sind die Balkone und Loggias in allen Geschossen in eine zweischichtige Fassade aus Holz eingelassen. Im Gebäudeinnern befinden sich Anspielungen auf die Typologie der klassischen Stadtvilla: Über grosse Fenster dringt Tageslicht in die Gemeinschaftsräume wie Eingangszonen mit Briefkästen und Treppenabsätzen.
Die Architekten haben auch die grossen Maisonettewohnungen in den obersten Geschossen wie kleine Häuser konzipiert: Neben den Balkonen und Loggias, gegen Süden, bieten ins Dach eingelassene Terrassen einen vor Blicken geschützten Rückzugsort. Ein stufenweiser Übergang zu den benachbarten Häusern entsteht durch die beiden um zwei Geschosse niedrigeren Aussenflügel des Ensembles. In diesen Seitentrakten befinden sich zwei weitere «Stadthäuser» mit Blick über den Platz und die Strasse. Sie verfügen über einen Garten auf der Südseite und einen separaten Eingang.
Hybride Struktur, Ausdruck Holz
Der Bauträger und der ZAC-Planer machten die Vorgabe, Holz als Baumaterial zu verwenden, deshalb zogen die Architekten bereits in der Wettbewerbsphase ein Holzbauunternehmen hinzu. Die Tragwerke vereinen zwei Bauweisen: Die Unter- und Erdgeschosse sowie die Zirkulationskerne und auch die Stützen und Decken der ersten beiden Obergeschosse sind aus Beton. In den zwei obersten Geschossen jedoch besteht das gesamte, auch in den Wohnungen sichtbare Tragwerk aus Holz. Die teils zweischichtige Fassade wird durch ein Holzskelett aufgespannt, das mit unbehandeltem Douglasien-Kernholz verkleidet ist. Der Orangeton wird sich mit der Zeit durch Witterung und Sonneneinstrahlung unregelmässig gräulich verfärben. Der Betrachter steht dann – je nach seiner Position – vor einer sich verändernden, lebendig wirkenden Fassade.
Ein Bewohner im mittleren Gebäude beschreibt seine Maisonettewohnung wie folgt: «Wir haben das Gefühl, in einem richtigen Holzhaus zu leben, das nach mehreren Seiten ausgerichtet und nach aussen erweitert ist und in allen Räumen über Tageslicht verfügt. In diesem etwas schwierigen Viertel nennt man uns die Bobois – die Holzies.» Der Begriff «Bobois» – aus bobo (Yuppie, Hipster) und bois (Holz) – spielt auf die widersprüchlichen, gleichzeitig fortschrittlichen und rückwärtsgewandten Gegebenheiten an: auf einen bürgerlichen Lebensstil, auf die Gentrifizierung eines Quartiers, auf die Typologie der Stadtvilla und den Baustoff Holz.
Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
Bouygues Immobilier, Agence Seine Saint-Denis Nord, Direction Régionale IDF Est, Paris
Architektur
Tectône, Paris
Tragwerk und Fassade Holz
Charpente Houot, Sainte-Marguerite
Rohbau
VFB construction, Saint-Maur-des-Fossés
Landschaft
Dufaÿe Mandre, Chevry-Cossigny
Weitere Informationen
Gebäude
Anzahl Wohnungen: 39
Nutzfläche: 2450 m2
Label: Bâtiment Basse Consommation Norm Française BBC NF, Wohnungen Option HQE
Holz und Konstruktion
Fassade: Verkleidung Douglasie (Frankreich),
Bau A = 30 m3 / Bau B = 27 m3 / Bau C = 30 m3
Tragwerk: Nadelholz C24 (Deutschland),
Bau A = 50 m3 / Bau B = 49 m3 / Bau C = 48 m3
Daten
Planung und Ausführung: 2011–2015
Kosten
Kosten Arbeit: 5.7 Mio EUR exkl. MwSt
Der Artikel ist erschienen im Sonderheft «Stadt aus Holz III – Megatrends als treibende Kräfte», ein Projekt im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt (BAFU) und in Zusammenarbeit mit Wüest Partner.
Weitere Artikel mit zusätzlichen Bildern und Plänen sowie weitere Beiträge zum Thema Holz haben wir in einem E-Dossier zusammengestellt.