Das Mo­dell im Ar­chi­tek­tur­wett­be­werb – phy­sisch oder di­gi­tal?

Der Wettbewerb für das neue Quartier «Cité du Vin» in Rolle VD wurde – erstmals in der Romandie – vollständig digital durchgeführt. Die teilnehmenden Büros reichten nicht die in der Schweizer Wettbewerbslandschaft üblichen Gipsmodelle, sondern deren «digitale Zwillinge» in Form von BIM-Modellen ein. Rückblick auf ein innovatives und unkonventionelles Verfahren.

Publikationsdatum
19-07-2023
Yony Santos
Head of education espazium.ch | Architekt | Redaktor

Architekturwettbewerbe haben wir schon viele gesehen und hundertfach darüber berichtet. Der Wettbewerb auf Einladung für die Cité du Vin in Rolle VD könnte aber einen Wendepunkt darstellen. Erstmals in der Westschweiz haben alle Teilnehmenden das wohlbekannte weisse Gipsmodell durch ein digitales BIM-Modell ersetzt, das viele zusätzliche Informationen liefert. Sind es zu viele? Die Diskussion über die Nutzung von digitalen Modellen in den frühen Entwurfs- und Jurierungsphasen von Projekten ist damit eröffnet.

Ein innovatives Verfahren für ein aussergewöhnliches Quartier

Die Auftraggeber und Auslober des Architektur- und Landschaftsarchitekturwettbewerbs auf Einladung haben sich nicht zufällig für ein digitales Verfahren entschieden. Das neue Quartier «Cité du Vin» soll auf dem südlichen Teil des Schenk-Areals im Norden des Bahnhofs Rolle entstehen. Für das historische Betriebsareal des Weinproduzenten Schenk Suisse wurde bereits ein Quartierplan in Kraft gesetzt, der die Anforderungen der 2000-Watt-Gesellschaft erfüllt. Das Konzept sieht ein gemischt genutztes Quartier mit fast 43'000 m2 Geschossfläche (mGF) vor und umfasst rund 350 Wohnungen, verschiedene Gewerbe-, Werkstatt- und Büroflächen sowie eine Primarschule und einen öffentlichen Park.

Für ein Projekt dieser raumplanerischen Grössenordnung und mit dieser politischen Zielsetzung ist ein BIM-Modell eine leistungsfähige Option, da es präzise Informationen zu den einzelnen Gebäuden liefert. Diese Daten können genutzt werden, um die Umweltqualität und die Plankonformität zu prüfen, die Nutzungsverteilung zu vergleichen oder die Projektkosten zu ermitteln. Hinzu kommen die verschiedenen interaktiven Möglichkeiten eines digitalen Modells: Dank einer Reihe spezifischer Ansichten, die den sechs teilnehmenden Teams vorgegeben wurden, können die Einbettung, die Volumetrie und die Wirkung auf die Aussenräume verglichen werden.

Für ein Unternehmen wie die Halter AG als Generalunternehmung, das mit grossmassstäblichen Planungsprojekten vertraut ist, rechtfertigen die Vorteile eines BIM-Wettbewerbs den damit einhergehenden personellen, technischen und finanziellen Aufwand. Der Entscheid für ein solches Verfahren erfordert jedoch einige Kompromisse. So hat der Auslober ein schlankeres Pflichtenheft erstellt und ganz auf ein – in diesem Fall überflüssiges – Gipsmodell verzichtet, um den Mehraufwand der Teilnehmenden wenigstens teilweise zu kompensieren. Ist der Arbeitsaufwand dadurch wirklich kleiner geworden? Oder hat das Verfahren die teilnehmenden Büros gezwungen, ihren Fokus anders auszurichten?

Ein «digitaler Wettbewerb» – wie funktioniert das?

In Rolle wurden neben dem BIM-Modell die gleichen Dokumente eingereicht wie bei einem traditionellen Wettbewerb: Planblätter im A0-Format mit Grundrissen, Schnitten, diversen Darstellungen und ansprechenden Visualisierungen. Die entscheidenden Unterschiede zeigten sich erst bei der Jurierung. Die Pläne wurden auf 60-Zoll-Leinwände projiziert, was etwa dem Format DIN-A0 entspricht. Für jeden der sechs Beiträge stand eine eigene Leinwand zur Verfügung, sodass alle Projekte parallel betrachtet werden konnten. Für das BIM-Modell wurde allen Teilnehmenden ein verbindliches BIM-Handbuch zur Verfügung gestellt und von einem BIM-Manager geprüft. Die Modelle wurden auf einem grossen Touchscreen mit verschiedenen interaktiven und konfigurierbaren Funktionen präsentiert.

Bei diesem Bewertungsverfahren muss sich in der Fachjury eine ganz andere Gruppendynamik einstellen. Da alle Projekte gleichzeitig evaluiert und parallel die gleichen Bilder projiziert werden, ergibt sich ein neues, gemeinsames Vorgehen. Die bisher übliche Bewertung in Kleingruppen mit handschriftlichen Notizen, Skizzen und freiem und spontanem Umhergehen zwischen den Modellen entfällt. Die nur schwer ersetzbare Orientierungshilfe, die ein physisches Modell im Massstab 1:500 durch die Vogelperspektive bietet, fehlt ebenfalls. In Rolle war die virtuelle Visualisierung der Projekte mittels 3D-Brillen aus logistischen Gründen nicht möglich.

Mit oder ohne virtuelle Realität: Die Qualitäten des Siegerprojekts «un pour tous et tous dans le parc», das unter Federführung von Studio Vulkan, Zürich, in Zusammenarbeit mit LRS Architectes, aus Genf  und LVPH Architectes aus Pampigny eingereicht wurde, sind unbestritten. Die Pläne und Visualisierungen der Cité du Vin lassen die Identität und den Charakter eines von räumlicher Grosszügigkeit geprägten Stadtfragments erahnen, in dem Landschaft und Natur einen wichtigen Platz einnehmen. Weitere Lösungen dürften ein besonders nachhaltiges Quartier gewährleisten, so etwa die Wiederverwendung von Material aus geplanten Abbrüchen, die Beibehaltung des bestehenden Standorts für die Parkplätze und die Wärmeversorgung mittels Seewasserpumpe, die dank 2500 Photovoltaik-Modulen ohne fossile Energien auskommt. Lässt sich daraus nun schliessen, dass «digitale Wettbewerbe» eine hohe architektonische und landschaftsarchitektonische Qualität garantieren? Oder hätte ein traditioneller Wettbewerb zu ähnlichen Lösungen geführt?

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Haben Daten mehr Gewicht als Gips?

Gips und Daten sind das Ausgangsmaterial für zwei sehr unterschiedliche Bewertungsverfahren. Gipsmodelle sprechen die Intuition an und beruhen auf bewährtem Handwerk und Material, müssen aber heute hinterfragt werden. Digitale Modelle erfordern die entsprechende technische Infrastruktur und deutlich mehr personelle Ressourcen. Bisher haben nur eine Handvoll Teilnehmende Erfahrungen mit digitalen Wettbewerben, doch es ist nur eine Frage der Zeit und des technologischen Fortschritts, bis diese Wettbewerbsform zur Norm werden wird.

Doch bevor sich dieses Verfahren ganz durchsetzt, sollen wir uns einige Gedanken über den bevorstehenden Wandel machen: Rechtfertigen Nachhaltigkeitskriterien die Nutzung von derart genauen digitalen Modellen in der Wettbewerbsphase? Werden diese genutzt, um die Vorprojektphase abzukürzen und die Erstellung von Baugesuchen zu beschleunigen? Werden die Wettbewerbsteilnehmer für den Mehraufwand angemessen entschädigt? Müssen Bauträger und Planer ein gemeinsames Bewertungsprotokoll ausarbeiten, damit qualitative Faktoren nicht von physikalischen, wirtschaftlichen und normativen Parametern überlagert werden? Kommt BIM mit einem verbindlichen Handbuch auch für offene Wettbewerbe ohne Entschädigung infrage oder werden dadurch kleine Teams und junge Büros von vornherein ausgeschlossen? Und nicht zuletzt: Bringt die Erstellung von virtuellen Modellen in der Wettbewerbsphase wirklich einen Mehrwert für die Planer? Diese Fragen möchten wir später im Gespräch mit Wettbewerbsteilnehmern klären.

Das BIM-Modell scheint aus mehreren Gründen ein geeignetes Mittel, um die Einhaltung von Nachhaltigkeitszielen und die Machbarkeit eines Immobilienprojekts dieser Grössenordnung zu gewährleisten. Es birgt jedoch neue Risiken, schafft paradoxerweise eine grosse Abhängigkeit von neuen Technologien und erfordert entsprechend geschulte Architekten und Ingenieurinnen. Das neue Verfahren, das nun erstmals auch in der Romandie zur Anwendung kam, wird auf jeden Fall viel zu reden geben – und viele neue Daten generieren.

Dieser Text basiert auf einem Gespräch mit Christian Bridel, Architekt und Jurymitglied, Mathilde Moos, Vertreterin der Helvetia Versicherungen, und Guillaume Bourchet, technischer Projektleiter bei der Halter AG. Das Gespräch fand am 22. März 2023 bei der Halter AG in Lausanne statt.

Wettbewerb «Cité du Vin, Gare Nord - Schenk», Rolle VD

 

Generalunternehmung
Halter AG

 

Investoren
Helvetia Versicherungen, Previs Vorsorge, Raiffeisen Pensionskasse.

 

Siegerprojekt
Studio Vulkan Landschaftsarchitektur, Zürich / LRS Architekten, Genf / LVPH Architekten, Pampigny

 

Weitere Teilnehmer

  • Burckhardt+Partner, Lausanne/ Atelier Descombes Rampini, Genf
     
  • Harry Gugger Studio, Basel/ Westpol Landschaftsarchitektur, Basel
     
  • Itten+Brechbühl, Lausanne / Argemí Bufano Architectes, Genf / MAP Architecture du Paysage, Lausanne
     
  • RDR architectes, Lausanne / Forster Paysage, Prilly
     
  • Verzone Woods Architectes, Vevey / Magizan, Lausanne / emf paysagistes, Girona

 

Antrag auf Baugenehmigung
Herbst 2023

 

Beginn der Bauarbeiten
Zweite Jahreshälfte 2024

 

Fertigstellung
Ab Mitte 2027

 


 

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