Bi­en­na­le Ve­ne­dig 2023: Wel­co­me to No­mad­land

Publikationsdatum
31-08-2023

«Welcome to Nomadland»
Arsenale

 

Kuratiert durch:

 

Vanessa Lacaille, Mounir Ayoub, Simon Durand, Hamed Kriouane, Yann Gross (Video)

 

Mit Unterstützung von:
École Polytechnique Fédérale de Lausanne EPFL, Fondation Assurer l'avenir des Gens du Voyage Suisses, Bundesamt für Kultur BAK, Republik und Kanton Genf, Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia


Zwei grosse Karten hängen nebeneinander: Auf der einen befinden sich viele feine Punkte mit Namen – Sidi Marzuq, Alqueia, Marqab at Targui, darunter jeweils der Name in arabischer Schrift. Dazwischen skizzenhaft Schatten, Sträucher, Felsen. Es gibt nur noch wenige Nomadinnen und Nomaden in Tunesien, und andere haben – vielleicht durch ihre Grosseltern – noch eine vage Erinnerung an das Leben in der Wüste. Die letzte Generation wurde meist sesshaft und pflanzte Datteln an, heute sind viele im Dienstleistungssektor, vor allem im Tourismus tätig. Bereits die kommende Generation wird die Lebensweise ihrer Vorfahren vergessen haben. Die Punkte auf der Karte sind Brunnen, die meisten davon versiegt.

Auf der zweiten Karte die Schweiz. Sie zeigt «Camps» für Fahrende. Die Infrastruktur auf den Plätzen ist mangelhaft. Rennaz, zum Beispiel, ist ein mit Abfall übersäter Asphaltplatz, es gibt zwei Wasserstellen und zu wenig Elektrizität, Toiletten fehlen.  Der Lärm von Generatoren und der nahen Autobahn dröhnt über den Platz. Wie unerwünscht diese Menschen sind, hier und fast überall, dokumentiert eine andere Zeichnung auf der Karte: Unzählige kleine Bruchstücke liegen wie Krümel nebeneinander. Man begreift erst nach der Erklärung, was sie bedeuten: Kurz vor der Biennale zerstörte eine Gemeinde einen asphaltierten Platz mutwillig mit Baggern, damit sich die Fahrenden nicht dort niederlassen konnten.

Dabei hat die Schweiz 1988 die Europäische Konvention für den Schutz von Minderheiten unterzeichnet. Aber wie auch in anderen Ländern soll die nomadische Lebensweise verschwinden. Behörden und Politik sind der Meinung, dass Kinder und Eltern einen festen Wohnsitz brauchen. Die einen, um in die Schule zu gehen, die anderen damit sie einem Ort zugeordnet werden können und die Uniformität des Lebens mühelos aufgezeichnet und eingeordnet werden kann.

Ausgehend von einem laufenden Forschungsprojekt zur nomadischen Architektur in Afrika und Europa besteht der Ausstellungsbeitrag einerseits darin, die unwürdigen Lebensgrundlagen aufzuzeigen, die oft mit Willkür und Gleichgültigkeit vonseiten der offiziellen Stellen verbunden sind. Anderseits möchten die Autoren dieser Situation eine Alternative, die Möglichkeit des Widerstands und der Gastfreundschaft gegenüberstellen. Im Laufe ihrer Recherchen beauftragte die Gemeinde Yverdon-les-Bains die Autoren zusammen mit ihren Studierenden an der EPFL, einen Platz für 15 Caravans temporär und «nomadengerecht» auszustatten.

Auf einer Leinwand neben den beiden Karten ziehen Videoszenen von realen Situationen vorbei – von Versammlungsplätzen in der Schweiz, die nur mangels Alternativen bewohnt sind. In der nächsten Sequenz zeigen sie Zeltdörfer und Ziegenherden in der tunesischen Wüste. Die unterschiedlichen Darstellungen schwingen zusammen und bilden eine facettenreiche Erzählung der nomadischen Welt, die unserem scheinbar unerschütterlichen Selbstverständnis des konventionellen Wohnens gegenübergestellt wird.

Bachelor- und Masterstudenten der Architekturschule ENAC – EPFL, Studio Lacaille & Ayoub 2022–2023:
Meghan Archimi, Arudsagini Arutselvan, Zoé Bahy, Léo Bastianelli, Loïse Boulnoix, Rebecca Broye, Adrien Clairac, Rita D'Elia, Charles Darrousez, Laure Dekoninck, Léa Delessert, Dimitri Descloux, Gaëtan Détraz, Antoine Foehrenbacher, Nikita Giaccari, Marion Gisiger, Yousra Hajoubi, Sébastien Hasler, Charline Hugues, Youssef Kali, Ambre Lassus, Arthur Lüthy, Nathalie Marj, Nadège Mouine, Zineb Mustapha, Silvia Narducci, Linda Orakwe, Abigail Riand, Jana Schiefer, Mélanie Schroff, Dylan Schwaiger, Isabel Vilar Azcárate

 

Verwandte Beiträge