Be­ton – was er bis­her war

Die Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum S AM in Basel zeigt erstmals Meisterwerke aus den Archiven der drei Schweizer Architekturhochschulen. Ein zukunftsbezogenes Rahmenprogramm verbindet den Blick zurück mit Visionen zum weiteren Umgang mit dem heute so problembeladenen Baustoff.

Publikationsdatum
14-12-2021

Was zuerst wie ein Nachruf klingt, ist eine höchst lebendige Dokumentation des allgegenwärtigen Materials unserer gebauten Umwelt. Und aufgrund seiner vordergründigen Qualität, der Dauerhaftigkeit, wird es uns noch eine Weile begleiten und beschäftigen.

Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich während der fünfjährigen Vorbereitungszeit dieser Ausstellung ein Paradigmenwechsel vollzogen hat. In neun Kabinetten wird den Besuchenden noch einmal vor Augen geführt, in welcher Vielfalt Beton in der Schweiz zum Einsatz kommt, was er für eine Entwicklung durchlaufen und was er ermöglicht hat.

Andreas Ruby und dem Team im S AM ist es gelungen, 300 von über 15000 Objekten aus den Archiven aller drei Schweizer Architekturhochschulen auszuleihen und themenspezifisch, also nicht der Herkunft nach, auszustellen. Die klassischen Ausstellungsräume sind mit einem System aus Schalungswänden durchzogen, das das Museum neu unterteilt. Die zentrale Achse, auf der sich die Besuchenden bewegen, ist ein Hohlraum, der mit Beton verfüllt werden könnte und so auf das Positiv/Negativ-Verhältnis beim Bauen mit Beton verweist (Szenografie: Graber & Steiger Architekten, Luzern).

Aus der Perspektive der digitalen Gegenwart gewinnen die Tuschezeichnungen, Modelle und Bilddokumente eine künstlerische Qualität, die sich zur Bedeutung der dargestellten Bauten addiert. Darunter sind Pläne für das ringförmige Generatorgebäude des Cern-Proton-Synchrotrons (Rudolf Steiger und Peter Steiger, Genf 1954–1960), ein Vertikalschnitt durch das Studio Vacchini (Livio Vacchini, Locarno 1985) oder ein veränderbares Belastungsmodell zur maximalen Reduktion der Betonschale (Heinz Isler und Constantin Hilberer, Feuerlöscherfabrik Sicli, Genf 1966–1970).

Eine Entdeckung ist auch «Opération Béton», der erste Film von Jean-Luc Godard. Als er 1954 als Bauarbeiter in die Schweiz kam, wirkte er an der Herstellung einer monumentalen Staumauer mit und war so fasziniert vom Zusammenspiel der Vorgänge, der Figuren und der Landschaft, dass er zur Filmkamera griff. Und isoliert betrachtet haben sogar Schalpläne eine eigene Schönheit.

Das angesammelte Archivmaterial der Hochschulen führt bis in die 1980er-Jahre – dementsprechend begrenzt ist der Zeitrahmen der ausgestellten Projekte. Natürlich ist dem Kuratorenteam bewusst, dass es beim Thema Beton heute hauptsächlich um Schadensbegrenzung geht.

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Interview mit Sarah Nichols, Co-Kuratorin der Ausstellung (in französischer Sprache)

Als Anregung der Diskussion um die zukünftige Bedeutung des Betons ist dem Parcours ein gegenwartsbezogenes Kapitel in Form von «Takeover-Tours» angefügt. Die Idee entspringt einer Eigenart von Instagram: Jemand übernimmt einen fremden Account und führt ihn vorübergehend nach seinem Gutdünken weiter. Im S AM erhalten Architektinnen und Theoretiker die Gelegenheit, ganz unabhängig von der ursprünglichen kuratorischen Absicht und Systematik durch die Ausstellung zu leiten.

Den Anfang machte Catherine Gay von GayMenzel Architectes. Ihrer individuellen Wahrnehmung nach ist es heute besonders interessant, den landschaftsbezogenen Einfluss von Beton zu untersuchen. Nicht nur, dass Beton in schier unfassbaren Mengen unter der Oberfläche schlummert – dem Fundament ist ein eigenes Themenfeld der Ausstellung gewidmet –, auch als organisch formbares, sparsam verwendetes Material tritt er hervor. Er hat Landschaftsgestaltungen ermöglicht, bei denen Natur und Architektur eine Symbiose eingehen, die mit keinem anderen Material denkbar wäre.

Ein Beispiel dafür ist das Bagno pubblico in Bellinzona, das Aurelio Galfetti mit Flora Ruchat und Ivo Trümpy zwischen 1968 und 1970 schuf. Der Entwurf ist geprägt durch eine alles überspannende Fussgängerpasserelle, die das Bad auf eine leichtfüssige Weise in den öffentlichen Raum integriert. Auf dem meterlangen Ansichtsplan in der Ausstellung ist deutlich, was heute manchmal in den Hintergrund gerät: Bauten aus Beton haben auch eine der Gesellschaft zugewandte Seite, die es wert ist, weitergedacht zu werden.

Noch bis April 2022 finden weitere Takeovers statt. Besonders interessant verspricht auch die Podiumsdiskussion «The Future of Concrete» am 27.1.2022 im Theaterfoyer Basel zu werden, bei der die Öffentlichkeit zur regen Teilhabe eingeladen ist.

Die Ausstellung ist noch bis 24. April 2022 zu sehen. Weitere Infos: sam-basel.org
 

Zur Ausstellung ist ein Katalog mit zahlreichen Essays erschienen.

 

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