Mehr Leuch­te als Dach

Ein lichter Glaskubus inmitten steinerner Architektur – das ist die neue Ankunftshalle des Bahnhofs St. Gallen. Die Stahl-Glas-Konstruktion von giuliani.hönger Architekten und Dr. Lüchinger + Meyer Bauingenieure bildet auch das leuchtende Ein- und Ausgangstor der Stadt.

Publikationsdatum
16-10-2019

Das repräsentative Aufnahmegebäude des St. Galler Bahnhofs hat in seiner ursprünglichen Funktion ausgedient. Es inszeniert nicht mehr den Anfangs- und Endpunkt einer Reise. Tickets kauft man heute online, und die Perrons zu den Gleisen wollen die 80 000 täglich Reisenden meist ab den Bushaltestellen auf direktestem Weg erreichen. Die Verkehrswege rund um den Bahnhof haben sich in den 100 Jahren seit dem Bau des neobarocken Bahnhofsgebäudes von 1913 verändert.

Der Bahnhofplatz gelangte infolge der zahlreichen und unterschiedlichsten Verkehrsteilnehmenden zunehmend an seine Kapazitätsgrenze, und die Ostunterführung – auch Rathaus­unterführung genannt – wurde zur Hauptschlagader der Passantenströme. Eine umfassende Erneuerung der Infrastrukturbauten und eine Entflechtung der Verkehrsströme auf dem Bahnhofplatz drängten sich auf.

Ordnung schaffen

2009 hat die Stadt St. Gallen einen Wettbewerb für die Neugestaltung des Bahnhofplatzes ausgeschrieben. Das Schlüsselprojekt dieser Neugestaltung ist die neue Ankunftshalle zwischen der historischen Bahnhofshalle (Alexander von Senger, 1913) und dem Rathaus (Custer Hochstrasser Bleiker, 1976). Im Entwurf des Siegerprojekts «Akari» der Planergemeinschaft von Hager Landschaftsarchitektur, giuliani.hönger Architekten und Stadt Raum Verkehr Birchler + Wicki wurde ein als ­G­laskörper ausgebildeter Kubus entworfen. Er sollte den neuen Hauptzugang zu den Zügen akzentuieren, die neue Mitte des Bahnhofs bilden und die Fassadenlücke zwischen dem alten Bahnhofsgebäude und dem Rathaus schliessen.

Wichtigstes Anliegen des Projekts war es, das gesamte Bahnhofsareal unabhängig von einzelnen Eigentümern als zusammenhängenden öffentlichen Ort und Drehscheibe zu verstehen und diesen mit punktuellen Eingriffen so gut wie möglich zu vernetzen und neu zu ordnen. Der Neubau bildet nun als prägnanter Stahl-Glas-Kubus das Tor zur zentral gewordenen Personenunterführung Ost und vernetzt gemeinsam mit der tief greifenden Umgestaltung des Bahnhof- und des Kornhausplatzes, dem Ausbau der Unterführungen und der Instandsetzung der alten Schalterhalle die Stadträume vor, in und hinter dem Bahnhof neu. Der un­ver­kenn­bare und zugleich einladende Orientierungspunkt löst so das Aufnahmegebäude als Schnittstelle zwischen Stadt und Bahnhof ab.

Impuls für neues Verkehrsgeflecht

Der neue Glaskubus ist nicht nur einfach ein grosszügiges Dach für einen Stufen- und Rolltreppenabgang. Er ist zugleich auch Teil des sich wandelnden umliegenden Stadtraums. Der Bahnhofplatz verknüpft sich optisch und verkehrstechnisch mit dem Bahnhof. So übernehmen die Dächer der Bushaltestellen beispielsweise die Stahl-Glas-Materialisierung, und ihre Höhe korrespondiert mit der Durchgangshöhe unter dem Kubus. Vor der Halle führt ein grosszügiger Fussgängerkorridor ebenerdig über den vom Individualverkehr befreiten Bahnhofplatz.

Der öffentliche Raum rund um das neu gebaute, instand gesetzte und modernisierte Bahnhofsareal verkommt auf diese Weise nicht zur stiefmütterlich behandelten Restfläche, sondern wird Teil der Transformation. Somit steht die neue Ankunftshalle sinnbildlich dafür, dass hier im Kern der Stadt interdisziplinär geplant wurde; die Verkehrsplanung, die städtebauliche Konzeption, die landschaftsarchitektonische Gestaltung und die Umsetzung in einem adäquaten Tragwerk waren ineinander verwoben.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 41–42/2019 «Ankommen in lichten Hallen».


Der Artikel «Mehr Leuchte als Dach» ist in anderer Form bereits in steeldoc 03/18 erschienen.

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