Zwi­schen al­len Fron­ten

Auf der Suche nach einem austarierten Projekt

Das Projekt Rhesi (Rhein – Erholung und Sicherheit) will in erster Linie den Hochwasserschutz verbessern. Noch dominieren die ­Partikularinteressen. Dass Rhesi dem Rheintal eine einmalige ­Chance bietet, ist der Bevölkerung noch zu wenig bewusst.

Publikationsdatum
27-10-2016
Revision
28-10-2016

Wer den Alpenrhein bei St. Margrethen überquert, staunt über die Flussbreite. Das Mittelgerinne misst hier zwar nur rund 60 m; auf beiden Seiten schlies­sen sich aber ähnlich breite Vorländer an. Sie werden durch die Aussendämme begrenzt und sind nur bei Hochwasser überflutet. In den Vorländern wächst üppiges Gras. Der landwirtschaftliche Ertrag wird durch Dünger gesteigert; von extensiver Nutzung keine Spur.

Grosses Schadenpotenzial

Auf österreichischer Flussseite liegt Lustenau. Zahlreiche Bauten schmiegen sich an den Aussendamm. Von den mehrstöckigen Häusern aus können die Bewohner den Rhein sehen, und wenn er viel Wasser führt, kann einem schon angst und bange werden. Vor fast 30 Jahren brach im untersten Abschnitt nördlich von Fussach der linke Rheindamm. Die Sache ging glimpflich aus, die Fluten beschädigten lediglich Freizeiteinrichtungen.

Kommt es im Rheintal zu einer Überflutung, dann liegen die Schäden in Milliardenhöhe – auf Schweizer Seite bei geschätzten 2.5 und auf österreichischer Seite bei 3.2 Milliarden Franken (vgl. Überflutungs-Visualisierung). Betriebsunterbrüche sind dabei nicht eingerechnet. Sofern die Dämme im oberen Rheintal halten, wird das Wasser durchgeleitet. Ab Diepoldsau wird es kritisch, denn die Abflusskapazität verringert sich in diesem Abschnitt auf rund 3100 m3/s – das entspricht einem Hochwasser mit einer Wiederkehrperiode von 100 Jahren. «Fliesst mehr Wasser ab, so kommt es in diesem Nadelöhr zu einem Rückstau, und Widnau, Diepoldsau, Au, St. Margrethen und Lustenau stehen, je nachdem, auf welcher Seite der Rheindamm zuerst überströmt wird, zu einem grossen Teil unter Wasser», sagt der Schweizerische Rheinbauleiter Daniel Dietsche.

Kurt Fischer ist Bürgermeister von Lustenau. «Die Bevölkerung realisiert langsam, was passieren könnte», sagt er und bezieht sich auf eine im Januar 2015 durchgeführte Umfrage. Diese ergab, dass die ­Menschen in Lustenau ein Hochwasser zwar für eher unwahrscheinlich halten, sollte es aber eintreten, dann erwarten sie hohe Schäden. Bräche der Damm in Lustenau, würden grosse Teile des Siedlungsgebiets innerhalb von ein bis drei Stunden überflutet. Das letzte Mal sei dies in Lustenau 1888 und 1890 der Fall gewesen, sagt Fischer.

Mit seinem Team hat er in den letzten Jahren für seine Gemeinde einen Katastrophenschutzplan erarbeitet. Im August 2015 präsentierte er der Bevölkerung am Rheindamm die Ergebnisse der Umfrage. Das Interesse war so gross, dass Gemeinde und Rettungskräfte die Bevölkerung am 11. September 2016 zu einem Hochwasserschutztag einluden. Der Anlass war ein Riesenerfolg. Die Besucher konnten unter anderem ihre Wohnadresse eingeben und am Computer Überflutungsszenarien durchspielen lassen. 

Das Projekt Rhesi

Um den Rhein und seine Dämme kümmert sich von der Illmündung bis zum Bodensee die Internationale Rheinregulierung (IRR). Geführt wird die IRR durch die Gemeinsame Rheinkommission (GRK), die aus je einem Vertreter der Republik Österreich, der Eidgenossenschaft, des Bundeslands Vorarlberg und des Kantons St. Gallen besteht1.

Bereits 2005 verabschiedete die IRR zusammen mit der Internationalen Regierungskommission Alpenrhein (in dieser sind die Kantone Graubünden und St. Gallen, das Fürstentum Liechtenstein sowie das Bundesland Vorarlberg vertreten) das Entwicklungskonzept Alpenrhein. Es enthält einen Massnahmenkatalog zur nachhaltigen Entwicklung des Alpenrheintals. Das erste grosse Umsetzungsprojekt ist Rhesi: Rhein – Erholung und Sicherheit.

Das Hauptziel von Rhesi ist die Erhöhung der Abflusskapazität2 von derzeit 3100 auf 4300 m3/s sowie die Beherrschung des Überlastfalls (vgl. «Randvoll, nur nicht brechen»). Das Schutzziel, auch ein Hochwasser mit einer Wiederkehrperiode von 300 Jahren sicher zwischen den Dämmen ableiten zu können, wird mit dem hohen Schadenpotenzial begründet. Weitere Ziele von Rhesi sind es, den heute sehr schlechten ökologischen Zustand des Alpenrheins zu verbessern sowie attraktivere Erholungsmöglichkeiten zu schaffen, etwa einen besseren Zugang zum Wasser. Die Trinkwasserversorgung, die zu einem beträchtlichen Teil auf Grundwasserfassungen im Rheinvorland beruht, muss sowohl während der baulichen Eingriffe als auch danach in Menge und Qualität gesichert sein.

Im April 2016 legte die GRK die Eckwerte für das Generelle Projekt fest. Nach den Varianten­studien ist damit sozusagen der Startschuss für die Ausarbeitung eines konkreten Projekts gefallen.Es muss den gesetzlichen Anforderungen beider Staaten Rechnung tragen und ist von beiden zu genehmigen. Damit Rhesi umgesetzt werden kann, bedarf es eines vierten Staatsvertrags zwischen Österreich und der Schweiz. Die ­Gesamtkosten werden auf 600 Millionen Franken geschätzt.

Mehr Platz für den Alpenrhein

Zu den Eckwerten gehört, dass die Abflusskapazität nicht durch Dammerhöhungen oder Ausbaggerungen im Mittelgerinne gewährleistet wird, sondern durch die dafür erforderliche Abtragung der Rheinvorländer. «Wir wollen den Flusslauf möglichst naturnah gestalten. Ausnahmen sind nur bei Nutzungen vorgesehen, die zwingend im Vorland stattfinden müssen», erläutert Markus Mähr, der Projektleiter von Rhesi bei der IRR. Zudem werden ergänzend an drei Stellen sogenannte Dammabrückungen vertieft geprüft (vgl. Karte). Dort würden die Dämme vom Gewässer weg verlegt, was grössere Flussbreiten und das Aufwachsen von Auenwäldern ermöglicht. 

Dem jetzt angepeilten Konzept haben sich die Projektverantwortlichen in Schritten angenähert. Aus sechs Basisvarianten entstanden zwei Kombivarianten, die die angestrebte höhere Abflusskapazität erfüllen. Die eine trug insbesondere der Ökologie Rechnung, während die andere weiterhin von einer starken Nutzung der Vorländer ausging. Bei der ökologischen Variante hätten mehrere Trinkwasserbrunnen in den Vorländern aufgehoben und verlegt werden müssen. Die Präsen­tation im Herbst 2012 führte zu einem Aufschrei der Landwirtschaft sowie der Gemeinden und Trinkwasser­versorgungen, deren Grundwasserfassungen davon betroffen gewesen wären. Aufgrund des Widerstands entschied die GRK, dass in Begleitplanungen die Themen Grund- und Trinkwasser, Landwirtschaft, Dammstabilität und Materialbewirtschaftung separat untersucht werden sollen.

Inzwischen hat sich die Zusammenarbeit mit den Gemeinden und Trinkwasserversorgungen verbessert. Man sucht gemeinsam nach Lösungen. Den Bauern ist ihrerseits klar, dass sie auf einen Teil des gepachteten Lands in den Vorländern verzichten müssen. Als Eigentümer können der Kanton St. Gallen und der Staat Österreich dieses Land selber beanspruchen. Und die Wiesen in den Vorländern werden, falls sie erhalten bleiben, künftig sowieso extensiv und ohne Düngung zu bewirtschaften sein. 

Die Festlegung des Gewässerraums, der auf Schweizer Seite aufgrund der Gewäs­serschutz­gesetz­gebung vorzunehmen ist, erfolgt hier parallel mit dem Projekt Rhesi. Nach aktuellem Planungstand verliert die Landwirtschaft in den Vorländern 200 bis 240 ha Wiesland. Das entspricht rund einem Prozent des gesamten Landwirtschaftslands in der Region. Synergien ergeben sich jedoch, wenn das in den Vorländern ausge­hobene Erdmaterial zur Bodenverbesserung der Felder ausserhalb der Rheindämme verwendet wird. Von Fluss­aufweitungen und Dammabrückungen wollen die Bauern auf beiden Seiten des Rheins jedoch nichts wissen. 

Ökologische Trittsteine und Aufweitungen

Die Naturschutzorganisationen hingegen setzen sich für möglichst viel Land für die Natur ein. Sie fordern zwar nicht den ursprünglichen Naturzustand, der Flussbreiten von 300 m und mehr bedeutete. Aber sie pochen auf die konsequente Umsetzung des sogenannten Tritt­steinkonzepts. Weil nicht auf der ganzen Länge des Flusses optimale ökologische Bedingungen wiederhergestellt werden können, sind in regelmässigen Abständen ökologische Trittsteine zu schaffen. Damit das Konzept funktioniert und eine natürliche Wiederbesiedlung durch Tier- und Pflanzenarten erfolgen kann, dürfen die Trittsteine nicht zu weit auseinander liegen und müssen 250 bis 350 m breit sein. Trittsteine bedeuten nicht zwingend Dammabrückungen, zum Teil ist genügend Platz zwischen den Aussendämmen vorhanden.

Gelingt es, einige Stellen mit sehr grossen Flussbreiten und Auenwäldern zu schaffen, lässt sich das Trittsteinkonzept einfacher umsetzen. Doch die Gemein­den sehen für Aufweitungen ausserhalb der bisherigen Dämme kaum Spielraum. «Die Dammabrückungen sind die umstrittensten unter den vorgeschlagenen Massnahmen», sagt Markus Mähr. Grosses ökologisches ­Potenzial für eine Aufweitung bietet der Bereich, wo die Frutz in den Rhein mündet. 

Heute befindet sich dort eine hohe Schwelle, die Fischen den Aufstieg vom Rhein ins Seitengewässer verunmöglicht. Zu klären sind ein möglicher Rückstau des Rheins in die Frutz und vor allem in den Ehbach sowie der Einbezug der existierenden Freizeitflächen. Verloren gingen auch Flächen, die für den Gemüseanbau genutzt werden. Die Stelle bietet sich für eine ökologische Aufwertung aber an, weil die Verhandlungen mit lediglich drei Grundeigentümern – zwei Agrargenossenschaften und der Gemeinde Koblach – geführt werden müssen. 

Ganz anders präsentiert sich die Situation in Hard-Fussach. Dort würde Land von mehr als zwanzig Grundeigentümern beansprucht, die teilweise fundamental gegen diese Aufweitung sind. Enteignungen wären wohl unumgänglich. Eine Rolle spielt hier, dass bereits für den Durchstich vor 120 Jahren Land zur Verfügung gestellt werden musste. Der ökologische Trittstein wäre aber wichtig, um die Vernetzung von Bodensee und Alpenrhein zu gewährleisten. Auch Diepoldsau musste vor hundert Jahren Land für die Verkürzung des Flusslaufs hergeben. Hier würden für die Aufweitung zudem bis zu 15 ha Fruchtfolgeflächen benötigt, also ackerfähiges Land. 

Die Aufweitungen in Diepoldsau und Fussach sind auch in Zusammenhang mit den engen Verhältnissen dazwischen zu sehen. Hier wird es nämlich schwierig, genügend Raum für ökologische Aufwertungen zu finden. Allein schon die für den erforderlichen Abflussquerschnitt nötige Flussbreite von knapp 120 m zu erreichen ist eine Herausforderung. In diesem Abschnitt befinden sich bei Widnau im Vorland sechs Trinkwasserbrunnen. Daran schliessen sich flussabwärts die­jenigen von Au, St. Margrethen und Höchst an; auf der anderen Seite befinden sich ebenfalls im Vorland die­jenigen von Lustenau (vgl. Karte).

Einige dieser Grundwasser­fassungen liegen für das Projekt Rhesi sehr ungünstig. Deshalb finden ­zwischen Widnau und Höchst koordinierte hydrogeologische Untersuchungen über die Grundwasserverhältnisse beidseits der Landesgrenze statt. Sie sollen aufzeigen, welche Brunnenanlagen versetzt werden können. Dafür werden mögliche Stand­orte im Vorland und ausserhalb der äusseren Dämme untersucht. Die Ergebnisse fliessen in die regionale Massnahmenplanung zur Trinkwasserversorgung ein. Beurteilt wird dabei auch der künftige Bedarf an Trinkwasser im Rheintal sowie die Ersatzwasserbeschaffung während der Bauphase, wenn betroffene Brunnenfelder aus Sicherheitsgründen vorübergehend ausser Betrieb genommen werden müssen.

Zankapfel Trinkwasserbrunnen

Das Wasserwerk Mittelrheintal sowie die Wasserversor­gungen Diepoldsau, St. Margrethen-Rheineck, Höchst und Lustenau beliefern rund 80 000 Menschen sowie Gewerbe, Industrie und Landwirtschaft. Auch haben sich Firmen angesiedelt, die viel Wasser benötigen, in Widnau beispielsweise ein grosser Getränkehersteller3

«Ohne eine qualitativ und quantitativ gleichwertige Trinkwasserversorgung mit entsprechenden Zukunftsreserven kann Rhesi nicht umgesetzt werden», sagt Christa Köppel, die Gemeindepräsidentin von Widnau. Als Präsidentin des Wasserwerks Mittelrheintal stellt sie klar, dass die bestehenden Wasserfassungen im Rheinvorland bestehen bleiben müssen und dort auch notwendige Neuanlagen gebaut werden können. Ausserhalb des Hochwasserdamms sei es infolge der Siedlungsdichte und der Verkehrswege kaum möglich, neue Schutzzonen für Trinkwasserfassungsanlagen auszuscheiden.

Eine Verschiebung in den ­bestehenden Brunnenfeldern hingegen ist laut Köppel eine mögliche Op­tion, sofern valable Ersatzstandorte gefunden werden. Regionale Versorgungskonzepte seien wichtig, auch grenzüberschreitende Optionen sollten miteinbezogen werden. Ungeeignet seien hingegen Wasserlieferungen aus einem Seewasserwerk am Bodensee oder aus einem grossen Pumpwerk in Buchs oder Sargans.

Gemäss dem Leitbild 2014 für die Wasserversorgung im Kanton St. Gallen soll sich die Trinkwasser­gewinnung auf örtliche Vorkommen abstützen. Für die Wasserversorgung sind die Gemeinden zuständig. «Die Wasserfassungen im Rheinvorland sind historisch gewachsen», sagt Markus Oberholzer vom Amt für ­Umwelt und Energie des Kantons St. Gallen. Ausserhalb des Rheinvorlands gebe es zwar auch Fassungen. Doch aufgrund von feinkörnigen und schlecht durchlässigen Verlandungssedimenten mit organischen Beimengungen wie Torf sei das Grundwasser im Rheintal oft sauer­stoffarm und deshalb für die Trinkwasser­gewinnung nicht oder nur bedingt geeignet. 

2014 deckten die Wasserfassungen in den Rheinvorländern etwa 60 % des Wasserbedarfs im unteren Rheintal; in einzelnen Gemeinden dürfte dieser Anteil deutlich grösser sein. Im kantonalen Richtplan sind die Fassungen denn auch als wichtige Wassergewinnungsanlagen aufgeführt. Markus Oberholzer sieht im Projekt Rhesi aber gerade für die Wasserversorgungen eine grosse Chance. Die Abhängigkeit von rheinnahen Fassungen sei teilweise sehr hoch. Darauf verzichten könne man zwar nicht, doch wäre es seiner Meinung nach sinnvoll, den Anteil an Trinkwasser aus Fassungen ausserhalb des Nahbereichs des Rheins zu vergrössern. So ist denn auch seit Längerem ein neues Grundwasser­pumpwerk im Raum Oberriet vorgesehen. 

Bei Trinkwasserfassungen in Flussnähe kann eine erhöhte Gefährdung bestehen. Gemäss der Gewässerschutzverordnung des Bundes ist beispielsweise die Zone S2 von Grundwasserschutzzonen so zu dimensionieren, dass die Fliessdauer des Grundwassers vom Rand der Zone S2 bis zur Grundwasserfassung mindestens zehn Tage beträgt und diese in Zuströmrichtung eine Ausdehnung von mindestens 100 m aufweist.

Bei den bestehenden Fassungen in den Vorländern verläuft der Alpenrhein oftmals in der Zone S2, was seitens der Wasserversorger zusätzliche Massnahmen bezüglich der Überwachung und Aufbereitung erfordert. Es besteht jedoch keine Vorschrift, deswegen eine Grundwasserfassung aufzuheben. Die Qualitätsanforderungen der Lebensmittelgesetzgebung müssen aber stets erfüllt sein. Laut Oberholzer weist das Trinkwasser aus dem Grundwasserstrom des Alpenrheins im kantonalen Vergleich eine überdurchschnittlich gute Qualität auf.

Unzufriedene Naturschützer

Gar nicht zufrieden mit dem Projektverlauf sind die Naturschutzorganisationen. «Wir sind der Meinung, dass die Verlegung der Trinkwasserfassungen aus dem Rheinvorland nicht ernsthaft geprüft wird», sagt Lukas Indermaur vom WWF Regionalbüro in St. Gallen. «Es darf nicht sein, dass bei einem Jahrhundertprojekt die offensichtlich machbare Verlegung von Infrastrukturen tabuisiert wird und eine politische Interessenabwägung vorweggenommen wird.» Nach Ansicht der Naturschutzorganisationen müssen nicht alle Brunnen weg. Diejenigen bei Widnau sind ihnen aber ein Dorn im Auge, weil so auf einer viel zu langen Flussstrecke die ökologischen Minimalan­forderungen nicht erfüllt werden.

Auch der ungünstig gelegene Brunnen am Rheinspitz zwischen dem Neuen Rhein und der Rheinschleife bei Diepoldsau muss in ihren Augen weichen. Dass die Verlegung von Trinkwasserbrunnen unter bestimmten Umständen gerechtfertigt sein kann, zeigt etwa ein Bundesgerichtsentscheid im Kanton Aargau4. Um das Misstrauen der Naturschützer aufzufangen, wäre es wichtig, die Ergebnisse der separat durchgeführten Trinkwasseruntersuchungen nach ihrem Abschluss 2017 zu veröffentlichen, denn diese bilden eine zentrale Planungsgrundlage. Doch die Naturschutzorganisationen stellen sich bereits auf eine gerichtliche Auseinandersetzung ein, und sie sagen dies auch öffentlich. Rhesi droht das Damoklesschwert der Verbandsbeschwerde nach dem Umweltschutzgesetz.

Und so stellt sich die Kardinalfrage, wo die rote Linie liegt. Wann wird die Genehmigung des Projekts aus ökologischer Sicht infrage gestellt? Die schweizerischen Gesetze und die EU-Wasserrahmenrichtlinie liefern dazu keine eindeutige Antwort. Klar ist, dass bei baulichen Eingriffen in die Gewässer diese ökologisch aufzuwerten sind. Die EU-Wasserrahmenrichtlinie gibt als Ziel «das Erreichen des guten ökologischen Potenzials» vor. Und in der Schweiz schreiben sowohl das Wasserbau- als auch das Gewässerschutzgesetz vor, dass «bei Eingriffen in das Gewässer dessen natürlicher Verlauf möglichst beibehalten oder wiederhergestellt» werden muss.

Doch was heisst das konkret? Die Projekt­verantwortlichen müssen sich an die Anforderungen herantasten. Auf Schweizer Seite gibt es aber mit den Sanierungen des Linthwerks und des Hagneckkanals sowie dem Rhoneprojekt immerhin bereits einige wertvolle Erfahrungen.

Wo bleibt die Vision?

Leider wird Rhesi im Rheintal noch zu wenig als einmalige Chance wahrgenommen. Im Schlepptau des Hochwasserschutzprojekts könnten die Gemeinden ihre Trinkwasserversorgung nämlich auf eine solidere Grundlage stellen, und bei der Erholung liessen sich deutliche Aufwertungen erzielen, die gleichzeitig auch der Natur zugutekämen. Und so fragt man sich: Wird hier eine ­Chance vergeben? Wo bleibt die Vision? Wieso gelingt (in der Schweiz) nicht auch einmal ein grosser Wurf? 

In Lustenau, das von den Anrainergemeinden am engsten mit dem Fluss gelebt hat, gibt es ein altes Volkslied. Da heisst es: «Wir leben an dem schönen Rhein / und trinken Most und sauren Wein / im schönen Lustenau. Und auf den Rhein, da sind wir stolz, er bringt uns alle Jahre Holz / für Haus und Hof und Herd. Und kommt der Rhein ins Dorf herein, so solls in Gottes Namen sein, wir fassen frischen Mut.» 

Möge der Rhein wieder schöner werden, als er jetzt ist, und aus seinem engen Korsett befreit werden. Das Problem ist nur, dass unter «schön» nicht alle das Gleiche verstehen. Leider stehen derzeit die Zeichen dafür eher schlecht, dass sich die Akteure auf einen gemeinsamen Weg und ein zukunftsweisendes Projekt einigen können. Vielleicht hilft die Zeit: Bis zum ersten Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Österreich von 1892 dauerte es auch mehrere Jahrzehnte.


Anmerkungen

1 Die Gemeinsame Rheinkommission besteht derzeit aus: Urs Kost (Kanton St. Gallen), Vorsitz; Heinz Stiefelmeyer (Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft, Wien); Hans Peter Willi (Bundesamt für Umwelt, Bern); Walter Sandholzer (Bundesland Vorarlberg).

2 Wenn mehr Wasser abgeleitet wird als heute, wirkt sich das auf den Wasserstand des Bodensees aus. Aufgrund seiner grossen Fläche dürfte der Pegel aber nur um zwei Zentimeter zusätzlich ansteigen.

3 1924 siedelte sich die Kunstseidenfabrik «Viscose» in Widnau an. Produziert wurden erst Kunstseide, dann Zellwolle und zuletzt synthetische Polyestergarne. Dafür wurde viel Wasser benötigt, das die eigenen sechs Viscose-Brunnen im Rheinvorland lieferten. Im Zuge der Globalisierung und des Strukturwandels hat die Firma ihre Tore 2005 definitiv geschlossen. 2002 übernahm das Wasserwerk Mittelrheintal die Viscose-­Brunnen. 2005 eröffnete die Firma Rauch ihre Produktionsstätte in Widnau, in der sie laut Medienberichten pro Jahr 2.5 Milliarden Dosen Red Bull abfüllt.

4 Das Generelle Projekt im Gebiet Sins-Reussegg sah zugunsten einer Auenlandschaft vor, ein Grundwasserpumpwerk in Sins im Kanton Aargau aufzuheben, eine Ersatzfassung zu erstellen und später auch noch ein zweites Pumpwerk zu schliessen. Dagegen wehrten sich die Wasserversorgungsgenossenschaft sowie die Ge­meinde Auw. Das Bundesgericht bestätigte 2013 das Urteil der Vorinstanz, die befunden hatte, das Interesse der Realisierung der standortgebundenen Auenlandschaft überwiege die Interessen der Erhaltung der Pumpwerke, die auch andernorts gebaut werden können.

Weitere Informationen unter: www.rhesi.org


Der Blick aus Bern und Wien

Heinz Stiefelmeyer (A) und Hans Peter Willi (CH), die Vertreter der Republik Österreich und der Eidgenossenschaft in der Internationalen Rheinregulierung, äussern sich zum Projekt Rhesi.

TEC21: Was fällt Ihnen im jeweils anderen Land beim Hochwasserschutz und im Flussbau besonders auf?
Heinz Stiefelmeyer: Ich bewundere am Wasserbau in der Schweiz, dass trotz erheblichem Siedlungsdruck und dem begrenzten zur Verfügung stehenden Raum vielfach ökologische Anforderungen mitberücksichtigt werden. Die Festlegung des Gewässerraums und das Finanzierungsmodell für ökologische Massnahmen sollten Vorbild für Österreich sein.
Hans Peter Willi: Im Rahmen von Wasserbautagungen in unserem Nachbarland konnten wir sowohl in Tirol als auch in Vorarlberg wegweisende, naturnahe Schutzmassnahmen besichtigen. Diese guten Resultate waren jeweils nur durch partizipative Prozesse möglich.

TEC21: Wo sehen Sie beim Projekt Rhesi im eigenen Land die grössten Heraus­forderungen?
Heinz Stiefelmeyer: Neben den teilweise sehr unterschiedlichen Interessen und Wünschen der Akteure besteht die grosse Herausforderung darin, die be­troffene Bevölkerung vom Handlungsbedarf zu überzeugen. Es soll ein Projekt sein für die Menschen im Rheintal und nicht als eines von Wien und Bern wahrgenommen werden. Die möglichen Synergien konnten wir noch nicht vermitteln.
Hans Peter Willi: Nach fünf Jahren Planung und Grundlagenbeschaffung kennen wir die Anliegen der verschiedenen Akteure. Das Generelle Projekt bildet die Grundlage für den vierten Staatsvertrag. In beiden Ländern müssen die Parlamente überzeugt werden, dass ein ausgewogenes, nachhaltiges Projekt vorliegt. Die notwendige Konsenslösung kann nur gelingen, wenn alle Akteure Kompromissbereitschaft zeigen und nicht auf Maximalforderungen beharren. Vor allem in der Schweiz wird teilweise mit harten Bandagen gekämpft. Eine Knacknuss ist die Trinkwasserversorgung, die während wie nach der Bauzeit zu gewährleisten ist.

TEC21: Was wünschen Sie sich für das Projekt?
Heinz Stiefelmeyer: Ich wünsche mir, den Spatenstich für dieses europäische Jahrhundertprojekt noch in meiner aktiven beruflichen Zeit zu Beginn des kommenden Jahrzehnts zu erleben. Dafür sind aber Partikularinteressen zu überwinden und das gemeinsame Interesse in den Vordergrund zu stellen.
Hans Peter Willi: Ich erhoffe mir, dass wir basierend auf den vorliegenden guten Grundlagen tragfähige Lösungen aufzeigen können und mit der Umsetzung des Projekts in wenigen Jahren beginnen können.

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