Vom Stall ins Bett

Rosshaarmatratzen aus Niederbipp

Rosshaarmatratzen sind ein Traditionsprodukt. Mit der Rückbesinnung auf Authentisches erlebt das Handwerk des letzten Schweizer Matratzenmachers eine Renaissance. Die Technik eignet sich aber auch für andere Anwendungen.

Publikationsdatum
23-06-2016
Revision
27-06-2016

Knapp zehn Jahre ist es her, da liess der Oberaargauer Polsterer Heinz Roth einen Versuchsballon steigen: Er lancierte die Website www.rosshaarmatratzen.ch, um herauszufinden, ob diese traditionelle Art der Matratze in der Schweiz auf Interesse stösst. Bereits sein Vater und sein Grossvater hatten in ihrer Sattlerei seit 1906 Matratzen auf diese Weise hergestellt, Roth war von dem Produkt überzeugt und wollte das Handwerk wiederbeleben. Die Nachfrage war so gross, dass er sich nun ausschliesslich der Herstellung von Rosshaarmatratzen widmet. Aus der Nische wurde ein Geschäft.

Blond ist weicher

Jahrhundertelang schliefen die Menschen auf Säcken, die mit Heu, Stroh oder Schilf oder – luxuriöser – mit Wolle oder Gänsefedern gefüllt waren. Mit den zurückkehrenden Kreuzrittern gelangten im 13. Jahr­hundert dann die Vorstufen der heutigen Matratzen nach Europa – der Name kommt von «matrah», arabisch für Bodenkissen. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts schlief nur der Adel auf Rosshaar­matratzen, erst die In­dustrialisierung machte Matratzen mit anderen Füllungen für alle Schichten erschwinglich.

Die Herstellung von Kunststoffen nach dem Zweiten Weltkrieg führte schliesslich zur Verbreitung der Schaumstoffmatratzen. Rosshaarmatratzen überzeugen aber nach wie vor mit ihren positiven Eigenschaften: Sie sind hygroskopisch und temperaturregulierend. Jedes einzelne Schweifhaar funktioniert wie ein dünnes Röhrchen, das Feuchtigkeit aufsaugt und weiterleitet. Durch das trockene Klima gelten Rosshaarfüllungen als milbenarm, zudem sollen sie Belastungen durch Elektrosmog und Erdstrahlen vermindern helfen.

Eine handgefertigte Matratze mit Rosshaarfüllung ist zwar teurer in der Herstellung, kann aber bei guter Pflege und einer Auffrischung der Füllung (auflockern, entstauben) alle 10 bis 15 Jahre bis zu 50 Jahre in Gebrauch sein. Ein Grund dafür sind die wenigen, aber hochwertigen Materialien. Die Bezugsstoffe, die Roth verwendet – Leinen, Halbleinen und Baumwolldamast – stammen aus Belgien und Frankreich. Sie werden speziell für Matratzen hergestellt und sind so dicht gewebt, dass die Füllung nicht hindurchstechen kann.

Zwischen Bezug und Füllung liegt deshalb zusätzlich ein Wollvlies aus Ostschweizer Schurwolle. Die Füllung aus Rosshaar bezieht Heinz Roth aus dem Toggenburg, bei der schweizweit einzigen Rosshaarspinnerei. Für die Matratzen werden lediglich Schweifhaare von Pferden benutzt (die Produktbezeichnung «Rosshaar» kann auch Ochsenschwanzhaare beinhalten). Diese gibt es in unterschiedlichen Qualitäten. Heinz Roth bevorzugt für seine Matratzen Schweifhaare in Schwarz – wegen der höheren Elastizität; blonde Haare sind weicher. 

In der Spinnerei wird das Haar zunächst in Seifenlauge gewaschen, dann in Heissluftöfen getrocknet, gehechelt,1 gekämmt und dann in einem Autoklav2 unter Vakuumdampf sterilisiert und zu gedrehten Strängen, dem Krollhaar, gedreht. Die Drehung ist wichtig für die Sprungkraft, so werden aus den einzelnen Haare kleine elastische Federn. 

Gezupft, garniert, gebüschelt

Jede Matratze, die Heinz Roth herstellt, ist eine Bestellung. In der Regel sind es Standardmasse, man kann aber auch individuelle Grössen ordern, sofern sie die Maximalbreite von 1.60 m nicht übertreffen. Diese ist zum einen durch die Stoffbreite vorgegeben, zum anderen sind breitere Grössen schwierig in der Herstellung. Dazu kommt das Gewicht: Eine Matratze mit dem Massen 90 × 200 cm wiegt 17 bis 20 Kilogramm. 

Zunächst wird der Bezugsstoff zugeschnitten, dann das Wollvlies aufgelegt. Um das Rosshaar als Füllung verwenden zu können, müssen die Stränge aufgezwirbelt werden. Heinz Roth benutzt dafür eine Zupfmaschine aus den 1950er-Jahren. Diese Geräte werden schon lang nicht mehr hergestellt, daher besitzt er noch weitere fünf davon – wann immer eine Sattlerei schliesst und die Maschinen aussortiert, ist Heinz Roth zur Stelle.

Das so aufgezupfte Rosshaar – für eine Matratze mit den Massen 90 × 200 cm benötigt man etwa 13 kg – wird nun in mehreren Lagen in einem ausgeklügelten System aufgebracht. In der Mitte, der Zone der stärksten Belastung, ist die Füllung mit etwa 50 cm am höchsten. Hier lassen sich auch Kunden­wünsche berücksichtigen, für schwere Personen kann mehr Füllung eingelegt werden, um die Matratze stabil zu halten. Über die Füllung kommt erneut ein Wollvlies, darüber wird der Stoff geschlagen, gespannt und ­zusammengeheftet.

Mit einer dicken, sichelförmigen Nadel und einem Nylonfaden näht Heinz Roth die Bezüge mit 1000 Stichen zusammen. Der Matratzenstich, den er verwendet, ermöglicht eine unsichtbare Naht – und wird im Übrigen auch von Ärzten beim Vernähen von Wunden geschätzt. Es folgt die Kantengarnierung: Was aussieht wie ein überdimensioniertes Kissen, wird mit zwei umlaufenden seitlichen Kanten, den Bourrelets, im Garnierstich in Form gebracht. Daneben existiert auch die Façon­einfassung ohne Kanten.

Sie wird für mit Wolle gefüllte und dadurch weichere Matratzen benutzt, ist für das elastische Rosshaar jedoch zu wenig stabil. Um die Füllung innerhalb der Matratze zu fixieren, werden nun die charakteristischen Abheftbüschel, Boufettes genannt, angebracht. Nach durchschnittlich zwölf Arbeitsstunden ist die Matratze fertig zum Einsatz. 

Napoleon und Chäserrugg

Die Mehrheit von Heinz Roths Kunden wünscht eine neue handgefertigte Matratze. Immer öfter aber lassen auch Besitzer von Rosshaarmatratzen anderer Hersteller ihre Bettunterlage bei ihm auffrischen. Und von Zeit zu Zeit wird er zum Restaurator: So erneuerte er vor kurzem die 50 Jahre alte Matratze für ein napoleonisches Bettgestell – komplett mit integrierten Sprungfedern.

Neben der klassischen Matratze lassen sich Materialien und Technik aber auch für andere Anwendungen einsetzen: So tauchten Roths Werke, mit Stickereien der Luzerner Künstlerin Daniela Schönbächler veredelt, auch schon als Kunst-im-Bau-Sitzinstallation in der umgebauten Poststation von La Rösa im Puschlav auf. Und die Architekten von Herzog & de Meuron verwendeten eigens angefertigte Kissen als Rückenpolster im Restaurant der im Juni 2015 wieder eröffneten Bergstation Chäserrugg im Toggenburg (vgl. «Auf dem Gipfel des Ursprungs», TEC21 25/2016).
 

Anmerkungen

1 Beim Hecheln werden die Fasern mit einer Art Kamm parallel ausgerichtet und von Kurzfasern gereinigt.

2 Autoklav: eine Art industrieller Schnellkochtopf, bei dem der Inhalt unter Überdruck sterilisiert wurde.


Stoffe aus Rosshaar

Neben seiner Funktion als Füllmaterial für Matratzen wird Rosshaar auch ­heute noch für eine Vielzahl anderer Anwendungen verwendet. Bekannt ist etwa die Bespannung von Streichbögen für Streichinstrumente oder der Einsatz in Bürsten, wo sich das Material durch seine Elastizität auszeichnet. Weniger bekannt ist seine Verwendung als Grundlage für Rosshaarstoff, der heute noch in der Polsterbranche oder für Luxusgüter Verwendung findet. Dabei handelt es sich um einen Oberstoff aus etwa 70 % Rosshaaranteil (Schussfaden) mit einem Kettfaden aus Baumwolle, Polyester oder Seide.

Früher häufiger benutzt, braucht man ihn heute zum Aufarbeiten historischer und für hochwertige neue Polstermöbel sowie als Wandbespannung repräsentativer historischer Räume. Für die Herstellung müssen die Schussfäden jeweils einzeln ins Webfach eingelegt werden. Rosshaarstoff wird auf historischen Webstühlen in Italien hergestellt. Bei der Weiterverarbeitung ist die geringe Breite von 65 – 75 cm zu beachten.
 

Weitere Infos: Preussisches Rosshaarstoff Archiv rosshaarstoff.com

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