Le­ben im Haus­la­bor

Auszeichnung «Umsicht – Regards – Sguardi»: NEST – Gemeinsam an der Zukunft bauen

«Gebäude und Betriebskonzept bilden ein einzigartiges Experiment. Obschon es für dieses Bauwerk keine Vorbilder gibt, überzeugt es in seiner architektonischen und ingenieurtechnischen Umsetzung. Das NEST (Next Evolution in Sustainable Building Technologies) steht für gelebte Interdisziplinarität. Die Jury würdigt mit der Auszeichnung ein ermutigendes, zukunftsweisendes Leuchtturmprojekt, das zeigt, wie sich die Ziele der Energiestrategie 2050 schon heute umsetzen lassen.» (Aus dem Jurybericht)

 

Publikationsdatum
12-04-2017
Revision
13-04-2017

Im Hinblick auf die Innovationsleistung ist das NEST unter den Umsicht-Preisträgern die Nummer 1. Und dabei handelt es sich nicht einmal um ein konventionelles Gebäude – das NEST, kurz für Next Evolution in Sustainable Building Technologies, ist eigentlich eine gebaute Versorgungsstruktur mit wechselnden Inhalten. 

Aber wofür? Im Mai 2016 wurde auf dem Gelände der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa in Dübendorf ZH das NEST als gebautes Labor der Baubranche eingeweiht. Neue Technologien können hier realitätsnah am Objekt und unter Nutzung getestet werden. Die per se eher langsame Baubranche mit ihren vielen Akteuren erhielt so eine Spielwiese, auf der geprobt, geträumt und vor allem auch gescheitert werden darf, ohne dass dabei ein «echtes» Bauwerk in Mitleidenschaft gezogen wird. Verschiedene Partner aus Industrie und Forschung betreiben ihre jeweils nur temporär installierten Raumeinheiten, die Units, individuell (vgl. TEC21 22/2016).

Funktionieren soll das Ganze wie ein Hochregallager: Ein zentraler Betonkern ist das Rückgrat des Baus, stützenfreie auskragende Geschossplatten dienen als Tablare. Eine klassische Fassade gibt es nicht, sie wird von den wechselnden Units gebildet, die von aussen direkt zwischen die Geschossplatten gestellt werden. Alle gebäudetechnischen Medien (Wärme, Kälte, Elektrizität, Trink- und Abwasser, Luft) werden mittels Plug-in über die Medienkanäle im Betonkern bereitgestellt respektive entsorgt. Auch deren Herstellung und Wiederaufbereitung findet im NEST selber statt.

Um trotzdem einen harmonischen Gesamteindruck zu schaffen, existieren rudimentäre Gestaltungsregeln. So gibt es einen Mindestabstand zur Gebäudekante, um die horizontale Schichtung und die Wirkung der Geschossdecken als prägende Elemente nicht zu negieren. Die maximale Bauhöhe der Units auf der obersten Ebene beträgt zwei Geschosshöhen, zudem müssen die Einheiten so gedämmt sein, dass sie sich nicht gegenseitig beeinflussen. Im Gegensatz zur wandelbaren Aussenansicht sind die Gemeinschafts- und Erschliessungbereiche im Innern einheitlich gehalten.

Alles soll möglich sein

Interessant ist auch die Technik: Um einen möglichst grossen Spielraum zu bieten, installierte man für die Gebäudetechnik eine Vielzahl redundanter Systeme. Drei verschiedene Wärmenetze bieten unterschiedliche Temperaturen, dazu kommen sechs verschiedene Möglichkeiten, das Abwasser aufzubereiten. Ähnliches gilt für das Tragwerk: Für eine maximale Gestaltungsfreiheit sind die vorgespannten Geschossplatten stützenfrei ausgeführt. Die Durchstanzgefahr bannte man mit eigens entwickelten Stahlpilzen. 

Initiiert hat den Bau die Empa in Kooperation mit der Eawag (Eidgenössische Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz). Die Idee entstand im Spätsommer 2009, doch lange Zeit fehlte die Finanzierung – bis die Atomkatastrophe von Fukushima 2011 der Diskussion um Energieerzeugung und Energieverbrauch auch des Schweizer Gebäudeparks neuen Schub verlieh. In der Folge konnten etliche Entwicklungspartner für das Projekt gefunden werden. Aktuell untersucht beispielsweise eine Kooperation von Empa und ETH Zürich, wie man holzbasierte Materialien weiterentwickeln könnte. Getestet werden unter anderem hydrophobes oder magnetisierbares Holz, eine bindemittelarme Holzfaserdämmung und antimikrobielle Holzoberflächen. Eine andere Gruppe untersucht unter dem Motto «solare Fitness & Wellness» Möglichkeiten, wie klassische Wellnessanlagen ohne den Verbrauch fossiler Energien betrieben werden können.
Der Saunabereich steht – natürlich zu Forschungszwecken – allen Wissenschaftern im NEST offen. Weitere Projekte beschäftigen sich mit Ultraleichtbau und adaptiver Gebäudetechnik, der Möglichkeit, Solarenergie an der Fassade zu gewinnen, oder dem Büro der Zukunft.  

Gemeinsam statt isoliert

Der Vorteile dieser gebündelten Forschungslandschaft liegen auf der Hand: Systeme, Technologien und Produkte lassen sich unter «echten» Bedingungen inklusive möglicher Wechselwirkungen testen. Charmant ist auch die Idee, dass die Forscher gleichzeitig Testpersonen sind. Und: Die Fachpersonen der unterschiedlichen Units können und sollen sich untereinander austauschen und vom Wissenstransfer profitieren. Als öffentlicher Begegnungsraum im NEST steht das Atrium zur Verfügung. 

Zum Zeitpunkt der Auszeichnung ist das NEST noch kein Jahr im Betrieb. Die innovative Idee, die interdisziplinäre Herangehensweise und die Signalwirkung des Projekts prämiert die Jury aber schon jetzt mit einer Auszeichnung.

 

Verwandte Beiträge