Leu­cht­turm oder Cha­mä­leon?

Wer mitten in einer imposanten und geschützten Gletscherlandschaft baut, muss sich unweigerlich mit der landschaftlichen Einbindung befassen. Die Wettbewerbsbeiträge für den Wiederaufbau des Mittelaletschbiwaks begegneten dieser Herausforderung mit unterschiedlichen Ansätzen – vom Verschmelzen mit dem Berg bis hin zum bewussten Hervortreten aus der Umgebung.

Data di pubblicazione
20-06-2022

Im Winter 2019 wurde das auf 3013 m ü. M. gelegene Mittelaletschbiwak von einer Lawine vollständig zerstört. Der rustikale Blockbau mit sechseckigem Grundriss wurde 1978 am linken Rand des gleichnamigen Gletschers erstellt und bot Platz für 13 Personen. Glücklicherweise befand sich zum Zeitpunkt des Lawinenniedergangs niemand im Biwak. Nach mehreren Risikoanalysen lancierte die Sektion Diablerets des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) im Herbst 2021 einen Architekturwettbewerb für den Wiederaufbau des Biwaks. Der Neubau soll auf 3200 m ü. M. in unmittelbarer Nähe zum alten Standort entstehen und mit 20 Schlafplätzen über eine leicht höhere Kapazität verfügen.

Zu den grössten Herausforderungen des Wettbewerbs gehörte naturgemäss, ein Gebäude zu entwerfen, das Lawinen- und Steinschlageinwirkungen Stand hält. Wer im Hochgebirge bauen will, muss sich aber immer auch mit der landschaftlichen und ästhetischen Einbindung des Projekts auseinandersetzen. In besonderem Masse gilt das in einer so grandiosen Umgebung, die durch das Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler (BLN 1706 Berner Hochalpen und Aletsch-Bietschhorn-Gebiet) sowie als Teil des UNESCO-Welterbes «Swiss Alps Jungfrau-Aletsch» geschützt ist. Weitere Bewertungskriterien waren die Funktionalität, eine rationale und effiziente Raumorganisation, die Ökonomie der Mittel sowie eine nachhaltige Bauweise.

Verbergen oder sichtbar machen?

Was beim Betrachten der Wettbewerbsbeiträge auffällt, sind die unterschiedlichen Herangehensweisen an die landschaftliche Einbindung. Soll das Biwak die Natur nachahmen und mit der Landschaft verschmelzen oder soll es vielmehr die Präsenz des Menschen kundtun, ein Zeichen setzen und bei schlechtem Wetter als eine Art Leuchtturm für die Alpinisten dienen?

Diese Frage beantworteten die eingereichten Projekte auf sehr unterschiedliche Weise: Das Projekt «Peaky Bear Spirit» verschwindet im Fels, die Beiträge «Sous les rochers», «Brise glace» und «trigon 2.0» bilden mehr oder weniger eine Einheit mit dem Gelände, während sich die Projekte «portale(tsch)» und «Cube magique» fast gänzlich davon loslösen. Die Materialisierung der Aussenhülle – die Vorschläge reichen von Beton über Edel- und Cortenstahl bis zu Aluminium – verstärkt oder mildert den gewählten Ansatz.

Der Entwurf «Sous les rochers» (3. Preis) überrascht mit einer besonders radikalen Lösung: Er nimmt mit einer Betonhülle – hergestellt mit vor Ort gewonnener Gesteinskörnung – die Mineralität der Gebirgslandschaft auf und gibt dem Biwak eine organische Form. Mit dieser regelrechten Nachbildung eines Stück Berges treibt der Entwurf die Mimese auf die Spitze. Doch die Jury befand zu Recht, dass ein derart gestaltetes Biwak für die Alpinisten schlecht sichtbar wäre und vollständig zugeschneit werden könnte.

Einen gegenteiligen Ansatz verfolgen die Projekte «portale(tsch)» (2. Preis) und «Cube magique». Sie markieren Präsenz durch eine Edelstahlverkleidung, wie sie jüngst schon bei anderen Neubauten, Renovationen oder Erweiterung von Hütten zum Einsatz kam (z. B. Tracuit-, Chanrion- und Rambert-Hütte). Zusätzlich heben sichtbare, in Punktfundamenten verankerte Sprengwerkstützen den Bau deutlich vom Boden ab.

Dem Siegerprojekt «trigon 2.0» schliesslich gelingt eine interessante Synthese der beiden Ansätze: Seine geometrische Form ist explizit menschengemacht, die Basis des Gebäudes fügt sich aber harmonisch in die Topografie ein und die Fassadenverkleidung aus Cortenstahl nimmt die mineralischen Farbtöne der Umgebung auf.

Für den Lawinenschutz nutzen die Wettbewerbsbeiträge eines oder mehrere von drei Grundkonzepten: den Kopf einziehen, das Hindernis überspringen oder die Lawine spalten. Die vier Projekte, die sich entlang der Topografie entwickeln, minimieren durch ihre gedrungene Morphologie die Fläche, auf die eine Lawine einwirken kann. Die Projekte «Brise glace» und «trigon 2.0» nutzen zusätzlich ein steiles Satteldach als Spaltkeil. Der Beitrag «portale(tsch)» kombiniert einen sorgfältig ausgerichteten Spaltkeil in der Verlängerung des klassischen polygonalen Grundrisses, wie man ihn von Jakob Eschenmosers Hütten kennt, mit einer Sprengwerkkonstruktion, dank der die Hütte höher als der gleitende Schnee liegt und so der Lawine ebenfalls eine möglichst geringe Angriffsfläche bietet.

Das Projekt «Cube magique» setzt dieselbe Strategie mittels einer 45°-Drehung des Grundrisses um. Im Wissen darum, dass die Art und die Grösse von Lawinen unberechenbar sind, hat das Team von «portale(tsch)» zusätzlich einen einfachen Schutzdamm vorgesehen, der jedoch die Jury aufgrund seiner Auswirkungen auf die Landschaft nicht zu überzeugen vermochte. Diese Sorge um die Unversehrtheit des Standorts ist zu begrüssen, auch wenn eine zusätzliche Schutzbaute die Lebensdauer des Biwaks sicher verlängern würde, denn die Liste der durch Lawinen beschädigten oder zerstörten Hütten ist lang. So fielen unter anderen die Panossière- (1988), Anen- (2007), Mittelaletsch- (2019) und die Trifthütte (2021) einer Lawine zum Opfer.

Die besondere Logik eines Biwaks

In vier der sechs Projekte sind die Räume auf mehreren Ebenen organisiert. Nur zwei Beiträge begnügen sich mit einem einzigen Geschoss, wie es für Biwaks eigentlich üblich ist. Das mag an der Zahl der Schlafplätze liegen, die aufgrund der relativ stark frequentierten Route zum Aletschhorn etwas höher ist als bei anderen Biwaks und schon fast dem Platzangebot einer kleinen Hütte gleicht.

Die Projekte «Sous les rochers» und «Brise glace» sind räumlich sehr interessant. Das erste passt sich mit einer Reihe von kurzen Treppen der Geländemorphologie an, und dieses Eintauchen in die Landschaft wird durch die vertiefte grosse Öffnung im unteren Gebäudeteil noch zusätzlich betont. Das zweite ist wie ein kleines Theater konzipiert: Die Schlafkojen bilden die Zuschauertribüne und die Landschaft ist die Bühne. Diese beiden Projekte bieten zudem besonders viel Privatsphäre beim Schlafen – vielleicht zu viel für den gemeinschaftsorientierten Bergsport. Die voneinander abgetrennten Schlafplätze beeinträchtigen zudem die Flexibilität, die bei der Nutzung einer solchen Unterkunft erwartet wird. Schliesslich muss diese bei überraschenden Witterungsumschwüngen deutlich mehr Besucher aufnehmen können, als Schlafplätze vorhanden sind.

Trotz der bescheidenen Grösse des Biwaks hat dieser Wettbewerb Fragen aufgegriffen, die über die Architektur hinausgehen, und darauf eine Vielzahl spannender und breit gefächerter Antworten und Überlegungen zu Themen wie Landschaft, Energiesuffizienz, Notunterkunft oder Bauen im alpinen Raum erhalten. Mit der Wahl des Siegerprojekts «trigon 2.0» würdigt die Jury eine elegante Synthese zwischen dem Schutz vor Naturgefahren und räumlicher und baulicher Einfachheit, die auf einer nüchternen, zugleich markanten und letztlich selbsterklärenden Geometrie beruht.

Weitere Bilder und Pläne sowie den Jurybericht finden Sie hier.

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