Ur­ba­ne Ka­ko­pho­nie

Ausstellung «Napoli Super Modern»

Die Lage am Mittelmeer und unter dem Hang des stetig drohenden Vesuvs macht aus der Stadt Neapel einen einmaligen Ort. Das Schweizerische Architekturmuseum S AM in Basel dokumentiert 18 moderne Bauten, die dort zwischen 1930 und 1960 entstanden sind.

Data di pubblicazione
07-06-2022

In vier thematisch bespielten Räumen sind diese Bauwerke und der städtische Kontext mit Bildern, Plänen und erläuternden Texten dokumentiert. Die Ausstellung «Napoli Super Modern» ist kuratiert vom Pariser Büro LAN Paris (Benoit Jallon und Umberto Napolitano) und von Andreas Kofler, stv. Künstlerischer Leiter des S AM. Fünf thematische Gruppen liegen der Schau zugrunde – das Fortbestehen der Stadt bezüglich Form, Sprache, Begrenzung, Funktion und Natur. Diese Kriterien schlüsseln wesentliche Aspekte und Gemeinsamkeiten der ausgewählten Projekte auf.

Schicht über Schicht gebaut

Die komplexe Schichtung der sich am Hang des Vesuvs – die letzte Eruption fand 1944 statt – erstreckenden Stadt Neapel macht es schwierig, ihre fast unentwirrbaren Wachstumsphasen zu erkennen und zu verstehen. Wer den Strassenzügen des Spaccanapoli folgt, erahnt diese komplexen Schichtungen. Eine Strasse dieses Namens gibt es offiziell nicht, es sind sieben einander folgende Strassen, die von den Quarteri Spagnioli in Richtung Bahnhof die Altstadt schnurgerade in zwei Teile trennen.

Und wer weiss, dass Neapel eine Stadt mit einem weitverzweigten Höhlensystem im Untergrund ist, auf porösem Tuffstein gebaut, der staunt umso mehr über die in diese urbane Kakophonie, ein Tohuwabohu von Strassenzügen, Häusern, Treppen und Übergängen, eingefügten Bauwerke der Moderne, die so markant anders wirken als der Bestand und die sich dennoch mit ihrer Umgebung auf das Selbstverständlichste verbunden haben.

Ausstellung als Stadtspaziergang

Der erste Raum in der noch bis 21. August laufenden Ausstellung dokumentiert die Stadtgeschichte von 1930 bis 1960 und zeigt die bauliche Entwicklung jener Epoche mithilfe einer grossen Stadtkarte. Ein Ausschnitt aus dem Schwarz-Weiss-Film «Le mani sulla città» (Die Hände über der Stadt) von Francesco Rosi (1963) macht die politische Korruption und Spekulationstätigkeit eines Baulöwen in der Nachkriegszeit greifbar. Der Film erhielt 1963 in Venedig den Goldenen Löwen.

Die Räume zwei und drei dokumentieren die ausgesuchten Projekte aus den Jahren 1930 bis 1960, die von LAN analysiert und in Form eines Gebäudeatlasses aufgearbeitet wurden. Diesen Bauwerken gemeinsam ist es, sich als Neubauten im Stadtgefüge zu behaupten und sich gleichzeitig ganz selbstverständlich in den gegebenen Kontext einzufügen. In einem abstrahiert weissen Stadtmodell sind die neuen Bauten als winzige und liebevoll gestaltete Modelle unauffällig und fast versteckt verortet. «Allen diesen Werken gemein ist der Wunsch, sich vor allem auf die Stadt zu beziehen und dabei den Begriff des Kontexts nicht mehr als unbewegliche Kulisse für die Handlung der Architektur zu formulieren, sondern vielmehr als Neufassung derjenigen Elemente zu verstehen, die sie auszeichnen», so die Worte von Umberto Napolitano von LAN.

Der Fotograf Cyrille Weiner hält diese Integration von Neubauten in das bestehende Stadtgefüge eindrücklich mit seinen Bildern fest. Sie zeigen die Bauten ungeschönt und optisch verbunden mit ihrer heterogenen Umgebung. In der begleitenden Publikation sind die betreffenden 18 Architekturen eingehend dokumentiert. Eigens neu gezeichnete Pläne vermitteln die Lage und die Strukturen der Bauwerke und geben Auskunft über ihre Architekten und Ingenieure und teils auch über ihre Baugeschichte.

Aufgehängte textile Elemente mit Aufdrucken von Bildern aus der Stadt Neapel unterteilen die Räume im S AM und erzeugen so eine nahezu mediterrane Stimmung. Die darin ausgeschnittenen Tore verbinden die Ausstellungsteile optisch und erzeugen eine Enfilade ähnlich den Raumfolgen in einem napolitanischen Palazzo. Die Fotografien hängen schlicht gerahmt an den Wänden, detaillierte Dokumentationen zu den Bauwerken liegen auf Tischen.

Eindrücklicher Dokumentarfilm

Im vierten und letzten Raum wird klar, was unter urbaner Kakophonie zu verstehen ist. Der Dokumentarfilm «Homo Urbanus Neapolitanus» des französischen Duos Ila Bêka und Luise Lemoine beginnt an Neapels Strandpromenade und führt durch die engen Gassen hinauf bis zum Vesuv. Das Geschehen kommentiert sich durch Bild und Geräusche, manchmal Getöse wie auch Stille selbst und gibt einen eindrücklichen Einblick in die quirlige, akustisch und optisch verwirrende Atmosphäre dieser unvergleichlichen Stadt. Er führt von der Piazza del Plebiscito durch die Via Toledo und die Quarteri Spagnoli vorbei an der Piazza del Duomo hinauf über den Spaccanapoli bis hin zum schon fast unheimlich stillen Krater des Vesuvs.

Die ausgestellten Projekte und Themen zeigen sich in einem anderen und neuen Licht, aus einer anderen Perspektive. Es fehlen einzig die olfaktorischen Eindrücke aus den Cafeterias, den Pizzerien und aus den Auspuffen der herumpreschenden Roller und Taxis. Die Ausstellung «Napoli Super Modern» empfiehlt sich für alle an Architektur und Städtebau Interessierte, aber auch für jene, die neugierig sind, einen vertieften Einblick in Napoli, diese so andersartige und so faszinierende Stadt Italiens, zu erhalten.

«Napoli Super Modern» im Schweizerischen Architekturmuseum S AM in Basel ist noch bis zum 21. August zu sehen. Infos zu Ausstelllung und Begleitprogramm gibts hier.

 

Dokumentierte Projekte

  • Fischmarkt, 1929–1935, Luigi Cosenza
  • Stazione Marittima (Schiffsterminal), 1933–1936, Cesare Bazzani
  • Postgebäude, 1933–1936, Giuseppe Vaccaro, Gino Franzi
  • Sitz des Istituto Nazionale Assicurazioni, 1935–1937, Marcello Canino
  • Sitz der Uffici Finanziari e Avvocatura di Stato, 1935–1937, Marcello Canino
  • Teatro Mediterraneo, 1939–1940, Luigi Piccinato
  • Station Fuorigrotta der Cumana-Eisenbahnlinie, 1939–1940, Frediano Frediani
  • Cubo d’Oro, 1940, Mario Zanetti, Luigi Racheli, Paolo Zella Milillo
  • Sozialwohnungen in Rione Cesare Battisti, 1946–1947, Luigi Cosenza, Carlo Coen, Francesco della Sala
  • Clinica Mediterranea, 1940–1952, Sirio Giametta
  • Büro- und Wohngebäude in Ponte di Tappia, 1949–1963, Raffaello Salvatori
  • Eckgebäude an der Piazza Municipio, 1950–1953, Marcello Canino
  • Hochhaus der Società Cattolica Assicurazioni, 1956–1958, Stefania Filo Speziale, Carlo
  • Chiurazzi, Giorgio Di Simone
  • Bürogebäude der Suditalia, heute Sitz der INPS, 1957–1959, Renato Avolio De Martino
  •  Wohngebäude in der Riviera di Chiaia 206, 1954–1960, Amedeo d’Albora, Lorenzo d’Albora
  • Palazzo Della Morte, 1954–1960, Stefania Filo Speziale, Carlo Chiurazzi, Giorgio Di Simone

Buch «Napoli Super Modern»

Das reich bebilderte Buch enthält rund 50 Fotos des französischen Fotografen Cyrille Weiner sowie historische Bilder, Illustrationen wichtiger architektonischer Details und einen Atlas mit 18 bedeutenden Gebäuden aus den Jahren 1930 bis 1960, die mittels Lageplänen, Grundrissen, Ansichten und Schnitten präsentiert werden.

 

Die Publikation zeigt, wie sich in der süditalienischen Metropole eine eigene Form der Moderne entwickelt hat, die es geschafft hat, die mediterrane Kultur mit lokalen Materialien und einem starken internationalen Geist zu verbinden.

 

Park Books, 232 Seiten, 90 Farbabbildungen und 140 Grundrisse, Lagepläne, Schnitte und Ansichten, ISBN 978-3-03860-218-7, Englisch oder Italienisch, Fr. 49.– / € 48,–

Im S AM Shop zusammen mit anderen thematischen Publikationen erhältlich.

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