An­nä­he­run­gen an Hein­rich Tes­se­now

Ausstellung

Das Teatro dell’architettura Mendrisio (TAM) auf dem Campus der Università della Svizzera italiana zeigt eine Ausstellung zum vielschichtigen Meister der Architektur des frühen 20. Jahrhunderts, kuratiert von Martin Boesch.

Data di pubblicazione
30-06-2022

Die Ausstellung «Heinrich Tessenow. Avvicinamenti e progetti iconici» im TAM in Mendrisio ist ebenso emblematisch, vielfältig und komplex, wie es das Werk des deutschen Architekten ist, das im Laufe der Jahrzehnte die Kritik begeisterte und immer wieder neu interpretiert wurde. Ausgehend von seinen Forschungen, seiner Lehrtätigkeit und seinem persönlichen fil rouge geht der Kurator Martin Boesch – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einer Reihe von Themen nach, die er als «Annäherungen» an das Werk Tessenows (1876–1950) versteht. Sein Ziel ist es, neue Linien aufzuzeigen und herauszuarbeiten, dass Tessenows Gesamtwerk – realisierte Gebäude, nicht umgesetzte Entwürfe und zahlreiche Schriften – auch heute noch von grosser Bedeutung ist.

Die Ausstellung ist in drei thematische Abschnitte gegliedert: Bauen in der Landschaft, Projekte für die Stadt, Das grosse Haus und das kleine Haus. Gezeigt werden wertvolle Originalzeichnungen (das Archiv des Architekten wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört), aber auch Pläne und Modelle der Entwürfe, Originalaufnahmen, Schriften und Veröffentlichungen, einige von ihm entworfene Möbelstücke, Materialproben und Fundstücke (sogar ein Fenster ist ausgestellt), um die Vorstellung eines Details oder einer Farbe zu vermitteln.

Mehr als vierzig Jahre nach der Wiederentdeckung Tessenows durch die venezianische Architekturschule – von Giorgio Grassi bis Marco de Michelis1 – bietet die Ausstellung einen offenen Interpretationsschlüssel an. Das bringen auch die von den Studierenden der Akademie in Mendrisio angefertigten Modelle zum Ausdruck: Der Bezug auf Vergangenes regt dazu an, zeitgenössische Architektur zu denken und zu bauen. Martin Boesch, so betont er selbst, ist Architekt, nicht Architekturhistoriker, und seine Forschungsmethode entspricht dieser Herangehensweise.

Viele verbinden mit Tessenow seine für Bäuer:innen, Arbeiter:innen, Handwerker:innen und die Mittelschicht entworfenen Häuser in einfachen, kubischen Formen, mit wohlkontrollierten Proportionen, schmucklos, fast archetypisch: Der Teil der Ausstellung Das grosse Haus und das kleine Haus befasst sich mit diesem zentralen Aspekt, den der Architekt selbst in seinem Buch Wohnhausbau (1909) eingehend besprochen hat.

Aber Tessenow ist ein Rundum-Talent und entwirft alles: «vom Löffel bis zur Stadt».2 Neben den Wohnbauten gehören zu seinen bekanntesten Projekten das Stadtbad Mitte (1930) in Berlin, die Tessenow-Siedlungen als «regelrechte Miniatur-Städte», die Bildungsanstalt für Rhythmik (1912, heute Festspielhaus) in Hellerau, wo Tessenow mit verschiedenen Haustypen experimentieren konnte, und die Umwandlung der Neuen Wache von Karl Friedrich Schinkel in Berlin in eine Gedenkstätte für die Opfer des Ersten Weltkriegs, eines der emblematischsten Projekte seines Gesamtwerks.3

1996 reist Boesch auf der Suche nach einem Bauwerk in die ehemalige DDR, das durch die turbulenten politischen und militärischen Ereignisse unter sowjetischer Herrschaft zerstört wurde: die Landesschule (1925–1927) in Klotzsche (Dresden), ein Internat für 252 Schüler. Diese Reise ist der Beginn einer höchst interessanten archäologischen Ausgrabung, die es zum Ziel hat, Spuren eines Gebäudes zu finden, das auf den ersten Blick nicht mehr zu existieren scheint. Doch die Recherchen vor Ort und die Analyse von Dokumenten fördern wertvolle Bruchstücke zutage – die Fundamente der Stützen und deren Abstände, Teile des verwendeten Putzes – die Rückschlüsse auf das eingesetzte Material, die Farben und die Proportionen des Säulengangs zulassen.

Wie ein Mosaik setzt Boesch diese Informationen geduldig und mithilfe der Aussagen von ehemaligen Schüler zusammen. So gelingt es ihm, mit Zeichnungen und Modellen eine minutiöse Rekonstruktion des Gebäudes zu erstellen. Die in einem Wald gelegene Landesschule gab Tessenow die Möglichkeit, den Gegensatz zwischen natürlicher und künstlicher Umgebung aufzuzeigen: Das Gebäude erscheint wie durch einen «Birkenschleier» (O-Ton Tessenow) gefiltert, der den Blick allmählich von den in natürlicher Ordnung gesetzten Bäumen auf den monumentalen Säulengang lenkt, eine Reihe sehr schlanker Säulen (18 Zentimeter im Querschnitt und bis zu 7 Meter in der Höhe), die ein halbes Jahrhundert später die europäische Architektur inspirieren sollte.

In dem Abschnitt Projekte für die Stadt hingegen sind viele städtische Grossprojekte zu sehen, die zum Teil gar nicht umgesetzt wurden: Es sind Tessenows «Idealstädte», also solche mit 20.000 bis 60.000 Einwohner:innen. Ein urbanes Gefüge aus Häusern, Schulen und Verwaltungsgebäuden, die sich um Plätze und Strassen gruppieren, deren Form durch leichtes Zurückversetzen der Gebäude und Verbreiterungen bzw. Verengungen der Strassen stets variiert, so zum Beispiel in der Bleistiftskizze für die Stadt Diedrichshagen oder im Entwurf der städtischen Siedlung Mogiskau von 1941.

Das Thema der Wiederholung und der Variation, durch das Tessenow, frei von formalem oder stilistischem Schematismus, im Grossen und im Kleinen Städte gestaltet. «(...) so vernünftig ist es auch, dass wir immer wieder suchen, innerhalb der grossen städtischen Gemeinschaft, an der Strasse, in erster Linie männlich-ruhig oder unauffällig zu sein, und dass wir als Städter immer wieder suchen, alles das, was betontermassen mit unserem persönlichen Geschmack, mit unseren besonderen Lieblingsfarben, überhaupt mit unseren ganz persönlichen Eigenheiten zu tun hat, möglichst nur dort zu betonen, wo die Welt uns sehr persönlich zugehört. Und das ist hier - im besonderen Hinblick auf unsere Häuser - das Hausinnere.»4

Die Bezugnahme auf die Natur zeigt sich deutlich im Abschnitt Bauen in der Landschaft: Das Haus Böhler (1917, später abgerissen) in der Nähe von St. Moritz ist in die Engadiner Landschaft eingebettet, jene mystische Landschaft der Alpen, in der das ikonische Profil der Berggipfel als geometrischer Anklang mit dem Dachprofil des Berghauses korreliert. Ein Projekt in einer völlig anderen Landschaft ist das Badeferienzentrum in Prora an der Ostseeküste (1936), von dem heute nur noch die Bilder des Festsaals in Form eines grossen offenen Hypostyls erhalten sind.

Die ebenfalls von Boesch verantwortete Ausstellungsgestaltung bringt den Besucher*innen die «reale Dimension» der Architektur auf zwei Weisen näher: mit der Frottagetechnik, wobei erstmalig auf grossen Papierbögen Abdrücke der von Tessenow gebauten Oberflächen (Steine, Wände und Fussböden) im Massstab 1:1 gezeigt werden, und mit einer 2005 von Marco Introini angefertigten und auf eine Grossleinwand projizierten Fotoreportage, die die räumliche Wahrnehmung von Tessenows Architektur zu einer allumfassenden, fast realen Erfahrung werden lässt.

Boesch hat ein auf internationaler Ebene bedeutendes Projekt verwirklicht, und dies auch dank eines wissenschaftlichen Komitees von hohem Rang: Theodor Böll, Hartmut Frank und Bruno Reichlin sowie dreissig weitere Wissenschaftler:innen aus aller Welt, die Essays beigesteuert haben, die in einem (demnächst erscheinenden) Band versammelt sind, um all die verschiedenen Facetten dieses Meisters der Architektur des frühen 20. Jahrhunderts zu beleuchten.

Die Ausstellung (italienisch/englisch) «Heinrich Tessenow. Avvicinamenti e progetti iconici» im Teatro dell’architettura Mendrisio läuft noch bis zum 17. Juli.


Weitere Infos: www.tam.usi.ch

 

Eindrücke der Ausstellung gibt es auf www.heinrich-tessenow.ch

 

Anmerkungen

 

1 Die erste umfassende Ausstellung über Tessenows Werk fand 1991 statt, kuratiert vom Architekturhistoriker Marco de Michelis für das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt und die Architekturbiennale in Venedig.

 

2 Ausdruck, der von Ernesto N. Rogers in der Charta von Athen (1952) verwendet wurde, um den Umfang der Arbeit eines Architekten zu bezeichnen.

 

3 Tessenow gewann den Wettbewerb, gefolgt von Mies van der Rohe und Hans Poelzig.

 

4 Heinrich Tessenow: «Die äussere Farbe unserer Häuser», 1925, wiederveröffentlicht in: Heinrich Tessenow, Geschriebenes, Braunschweig 1982

Articoli correlati