«Ein Bei­trag zur Wie­de­ran­nä­he­rung»

Alejandro Aravena im Interview

An der 17. Architekturbiennale betreut Pritzker-Preisträger Alejandro Aravena den chilenischen Pavillon, der im Arsenale im Bereich «As Emerging Communities» zu sehen ist. Sein Vorschlag ist eine konkrete Einladung zu Friedensverhandlungen zwischen Chilenen und den indigenen Mapuche: Architektur wird zur politischen Mediation. Silvia Berselli traf ihn zum Interview.

Data di pubblicazione
16-06-2021

Der chilenische Architekt Alejandro Aravena (*1967) hat eine besondere Beziehung zu Venedig. Hier absolvierte er ein Aufbaustudium an der Universität IUAV und der Akademie der Schönen Künste. Hier gewann er den Silbernen Löwen der 11. Architekturbiennale und war 2016 Kurator der 15. Auslobung der Biennale, die er unter den Titel «Reporting from the front» stellte. Damit wollte er den Horizont der Projekte um soziale, politische und ökologische Fragen erweitern – Fragen, die im Zentrum von Aravenas Forschungsprojekten und Werken stehen.

Ebenfalls 2016 wurde er mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet. Darauf folgten zahlreiche weitere Auszeichnungen, darunter 2018 der RIBA Charles Jencks Award für einen herausragenden Beitrag zur Vereinigung von Theorie und Praxis der Architektur.

Aravena ist seit 1994 Professor an der Päpstlichen Katholischen Universität von Chile und lehrte von 2000 bis 2005 an der Harvard University. Seit 2006 ist er Exekutivdirektor der Elemental S.A., einer Gesellschaft mit sozialer Zielsetzung, die flexible und erweiterbare Projekte für Wohnhäuser, den öffentlichen Raum und Infrastrukturbauten umsetzt.

Wir treffen den Architekten in seinem Pavillon im Arsenale in Venedig. Die intensiv und exotisch duftende Holzstruktur besteht aus einer Reihe kreisförmig aufgestellter, sich nach oben hin verjüngender Pfeiler. Sie ist eine Neuinterpretation der traditionellen Bauformen der Mapuche, der indigenen Bevölkerung Chiles und Argentiniens. Von aussen wirkt die Struktur als ringförmiger Ausstellungsraum, im Innern bildet sie einen kreisförmigen Platz.
 

espazium: Herr Aravena, wir haben genügend Abstand und befinden uns im Freien, Sie können die Maske abnehmen.

Alejandro Aravena: Das könnte ich, aber ich möchte nicht. Wenn man in Chile sieht, dass ich hier die Maske abnehme, würde das als Machtmissbrauch, als mangelnder Respekt gegenüber den gemeinschaftlichen Regeln verstanden. Das würde die Symmetrie der Macht zerstören und damit womöglich zum Scheitern der Verhandlungen führen, die wir initiieren möchten. Wir als Architekten dürfen unsere Stellung nicht ausnutzen und müssen uns im Hintergrund halten. Die Hauptakteure haben eine so komplizierte gemeinsame Geschichte, dass es nur sehr wenig braucht, um das heikle Gleichgewicht zu zerstören, auf dem diese Arbeit beruht. In Chile herrscht gerade ein sehr sensibles politisches Klima. Die Wahl der Delegierten für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ist ein historischer Moment. Die geltende Verfassung stammt noch aus der Zeit der Diktatur und entspricht nicht mehr den Regeln unseres heutigen Zusammenlebens. Es wäre hier und jetzt wohl legal, wenn ich die Maske ausziehen würde, aber es wäre nicht legitim. Und das ist ein grosser Unterschied.

Mit derselben Sensibilität mussten wir auch an unsere Intervention für die Biennale herangehen. Es ist wichtig, dass man sich in die Situation des anderen hineinversetzt und dessen Wert anerkennt, sonst funktioniert gar nichts. Ob das Anderssein nun kulturell oder wirtschaftlich bedingt ist, es wird als Bedrohung wahrgenommen. Getrieben wird diese Wahrnehmung von Angst, Wut oder Genugtuung, und daraus kann nichts Gutes entstehen.

Welchem Programm folgt Ihr Beitrag für die Biennale, und wie haben Sie die Fragestellung des Kurators interpretiert?

Wir haben versucht, auf die zentrale Fragestellung der diesjährigen Biennale, «How will we live together?», mit einem Projekt zu antworten, das in zwei Schritten dazu führt, einen Ort für Friedensverhandlungen zwischen Chilenen und Mapuche zu schaffen. Die beiden Völker haben eine lange und konfliktreiche gemeinsame Vergangenheit. Landrechtskonflikte, die bis in die Gründungszeit der Republik im frühen 19. Jahrhundert zurückreichen, haben in jüngerer Zeit an Intensität zugenommen. In der Tradition der Mapuche braucht es für die Aufnahme von Friedensverhandlungen eine minimale Symmetrie des Wissens zwischen den Parteien: Bevor man an den Verhandlungstisch geht, muss man sich gegenseitig kennen. Die Mapuche kennen die Chilenen, während die Chilenen so gut wie nichts über die Mapuche wissen. Deshalb bestand die erste Etappe des Projekts im Bau eines Kulturzentrums im Süden Chiles, mit Unterkünften, einem Raum für Zeremonien und einem Raum für Spiele. Die Mapuche dachten an ein grosses Gebäude, aber wir schlugen den Bau einer kleinen Stadt vor, verbunden mit einem feierlichen Gründungsakt. Für diese Feier haben wir eine Struktur entworfen, die auf rituellen Elementen beruht, und ihr den Namen Künü gegeben, das steht für einen Ort, an dem man einen Weg des gegenseitigen Verstehens beschreitet.

Nachdem die Voraussetzungen für Verhandlungen geschaffen waren, gingen wir zur zweiten Etappe über und erstellten im Rahmen der Biennale das eigentliche Verhandlungsgebäude. Venedig stellt den neutralen Boden dar, auf dem – nach alter Tradition der Mapuche – ein friedlicher Dialog zwischen Mapuche und Chilenen stattfinden kann. In der Tradition der Mapuche gibt es eine Art Parlament, das Koyaü-we (Ort, der Nutzen bringt). Diese Form der Zusammenkunft ist durch mündliche Überlieferungen und historische Drucke belegt, die wir im Pavillon zusammengetragen haben. Die Zusammenkünfte fanden unter freiem Himmel statt. Was fehlte, war eine geeignete Architektur für ein solches Treffen, und wir wollten einen Beitrag zur Wiederannäherung der beiden Völker leisten, indem wir das Projekt nutzten, um diesen Prozess greifbar zu machen. Wir hoffen, dass sich die Pandemiesituation während der Biennale so weit verbessert, dass es möglich wird, zu reisen und die Verhandlungen hier zu eröffnen. Auf jeden Fall wird der Pavillon aber am Ende der Ausstellung abgebaut und in Chile wieder aufgebaut, um die Verhandlungen fortzusetzen.

Was soll in diesem Raum geschehen?

Wir beschreiten einen alternativen, gewaltfreien Weg, indem wir die Akteure an den Verhandlungstisch bringen: eine Territorialgemeinschaft der Mapuche und ein chilenisches Forstunternehmen. Beide beanspruchen den gleichen Ort für sich und wollen dort bleiben. Dieser Interessenkonflikt hat zu langen und fruchtlosen Konfrontationen geführt. Da man so nicht weiterkam, waren beide Parteien bereit, Friedensverhandlungen aufzunehmen, um zu einem friedlichen Miteinander zu finden.

Rund um den kreisförmigen Innenraum waren Sitzgelegenheiten vorgesehen, die mit einem an die Holzstützen geknüpften Seil erstellt werden sollten. Diese über die Struktur hinausragenden Stützen haben ihre Funktion nun verloren – dieses Element wurde nicht umgesetzt, um Menschenansammlungen während der Pandemie zu vermeiden. In Chile wird es aber als funktionales und gleichzeitig symbolisches Element hinzugefügt, als Sinnbild für eine Zusammenkunft, bei der man nebeneinander sitzt, um sich kennenzulernen und die Regeln für das künftige Zusammenleben zu beschliessen.

Für einen tieferen Einblick empfiehlt sich das Buch «Elemental: The Architecture of Alejandro Aravena» von Alejandro Aravena, Gonzalo Arteaga, Juan Cerda, Victor Oddó und Diego Torres, Phaidon, 2018.

Den Originaltext auf Italienisch finden Sie hier. Übersetzung: Wulf Übersetzungen.

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