Hoch­hau­swoh­nen im Wan­del der Zeit

Über das letzte Jahrhundert hat sich die Wahrnehmung von Wohnhochhäusern in der Schweiz verändert. Ein Rückblick zeigt: Hochhäuser boten und bieten unterschiedlichen Lebensraum – vom Experiment über die Wohnversorgung für breite Schichten bis hin zu exklusiven Luxuswohnungen.

Data di pubblicazione
24-06-2020
Eveline Althaus
Sozialwissenschaftlerin Mitglied des ETH Wohnforums – ETH CASE (Center for Research on Architecture, Society & the Built Environment)

Das Wohnen im Hochhaus kam in der Schweiz erst relativ spät auf. Erste Projekte mit Wohnnutzung wie der zehngeschossige Wohnturm an der Rue Frédéric-Chaillet in Fribourg (1929–1932) oder der «Tour de rive» in Genf (1934–1938) passten sich baulich noch stark ins Stadtgefüge ein und an die benachbarten Gebäude an und fielen kaum auf.1 In der Regel war der Hochhausbau jedoch einzelnen öffentlichen Gebäuden vorbehalten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die Situation. «Es liegt was in der Luft», schrieb etwa der Raumplaner Hans Marti mit Bezug auf die Popularität, die dem Wohnhochhaus nun in Fachkreisen und der Öffentlichkeit zuteil kam.2 In Zürich baute der Stadtbaumeister A. H. Steiner die beiden Letzigraben-Hochhäuser im Heiligfeld (1950–1952). In Basel entstand zur selben Zeit die Entenweid-Siedlung mit drei Wohntürmen. Diese – nunmehr im Stadtraum frei stehenden – Hochhausprojekte wurden mehrheitlich positiv rezipiert: als neue, bereichernde Akzente im Stadtbild wie auch als Möglichkeit, die bebaute Fläche zugunsten von Park- und Freiflächen zu reduzieren und so Luft und Sonne in uniforme Wohnsiedlungen zu bringen.3 Ein prominenter Befürworter dieser Entwicklung war Max Frisch, der 1953 aus New York nach Zürich zurückkehrte. Er relativierte aber, es seien «Hochhäuslein», die hierzulande entstünden.4

Modernes Wohnen

Die ersten Wohnhochhäuser in der Schweiz galten allgemein als Inbegriff des modernen Wohnens. Die Bauten veranschaulichten den wirtschaftlichen Aufschwung der damaligen Zeit und ermöglichten hohen Wohnkomfort. Der Ausbaustandard mit Zentralheizung, Lift, Waschmaschinen, ja mit einem eigenen Bad in der Wohnung war in der damaligen Zeit für viele eine Neuheit. Unter den ersten Hochhausbewohner/-innen war denn auch das Bewusstsein verbreitet, Teil eines neuen, zukunftsgerichteten Lebensstils zu sein. Entsprechend waren die Mietzinsen anfänglich relativ hoch.5 Eine erste Schweizer Hochhausstudie aus dem Jahr 1963 stellte eine starke Bejahung des Hochhauswohnens fest, wobei die Bewohnerinnen und Bewohner (darunter auch viele Familien mit Kindern) insbesondere die unkomplizierten sozialen Kontakte hervorhoben, die diese Wohnform ermögliche: Man könne in einem Hochhaus einfach miteinander in Kontakt kommen, wenn man wolle, müsse aber nicht.6 Diese positive Einschätzung ist auch heute noch verbreitet.

Hochhausboom der 1960er- und 1970er-Jahre

Von 1950 bis 1970 wuchs die Schweizer Bevölkerung um mehr als ein Viertel. Parallel dazu wanderten die Menschen von peripheren Regionen zunehmend in wirtschaftlich prosperierende Gegenden der Schweiz. Viele Städte und Agglomerationsgemeinden waren mit einer ausgeprägten Wohnungsnot konfrontiert. Es galt in kurzer Zeit viel Wohnraum für breite Bevölkerungsschichten zu schaffen. In diesem Zusammenhang wurde zunehmend kompakt und in die Höhe gebaut. Zahlreiche Grossüberbauungen entstanden, wie z. B. das Tscharnergut in Bern (1958–1965), das Lochergut in Zürich (1963–1966), die Cité du Lignon in Vernier bei Genf (1963–1971) oder die Mittlere Telli in Aarau (1971–1991).

Auch diese Neubauten galten anfänglich als Inbegriff des modernen Wohnens. Relativ bald setzten aber Abwertungsprozesse ein. Mit dem Konjunktureinbruch nach der Ölkrise wurde die Idee eines grenzenlosen Wachstums – und so auch das Bauen im grossen Massstab – zunehmend infrage gestellt. Zudem zeigten sich in den oft binnen weniger Monate errichteten Hochhäusern erste bauliche Mängel. Auch die Monofunktionalität des Wohnens in vielen Siedlungen stellte sich als problematisch heraus, und Segregationsprozesse setzten ein. Parallel zu dieser Entwicklung wurde der Bau von Wohnhochhäusern in der Schweiz für die nächsten 30 Jahre praktisch eingestellt. In der Aussenwahrnehmung kursieren bis heute viele Negativbilder zu Grossüberbauungen aus den 1960er- und 1970er-Jahren. Von «Betonbunkern» oder gar von «Ghettos» ist die Rede, meist jedoch, ohne das Leben vor Ort wirklich zu kennen.

Verkannte Wohnqualitäten

Bewohnerinnen und Bewohner selbst berichten hingegen von vielseitigen Wohnqualitäten. Sie schätzen die Weitsicht – bzw. aus unteren Stockwerken den Blick ins Grüne –, aber auch verkehrsfreie Aussen- und Spielräume, verschiedene Treffpunkte und Begegnungsmöglichkeiten in den (halb-)öffentlichen Räumen sowie einen guten Anschluss an die Nahversorgung und die Quartierinfrastruktur. Nicht zu unterschätzen sind auch die günstigen Mieten in diesem Baubestand, die gerade für Menschen mit kleinen Einkommen unabdingbar sind – und auch dazu beigetragen haben, dass die Bewohnerschaft heute sehr international und intergenerationell gemischt ist.

Die Erfahrungen von Hochhaussiedlungen aus der Bauboomzeit zeigen, dass das Wohnen im Hochhaus gut funktionieren kann und auch sehr geschätzt wird, wenn sich verschiedene Akteure vor Ort (Bewohnerinitiativen, Hauswarte, Verwaltung, Quartierarbeit etc.) um den Unterhalt, aber auch um ein lebendiges, gutes Zusammenleben in den Häusern und im Quartier kümmern.7

Hochhaus-Revival als Prestigesache

Heute sind (Wohn-)Hochhäuser wieder im Trend. Im Unterschied zu den 1960er- und 1970er-Jahren, als es um Wohnversorgung für alle ging, ist das Hochhauswohnen nun zu einer Prestigefrage geworden. Die heutigen Projekte entstehen meist an zentralen Lagen und nicht «auf der grünen Wiese» – und haben gemischte Nutzungsprogramme. Aktuelle Projekte (wie zum Beispiel der Mobimo-Tower, die Escher-Terrassen oder der Hardturmpark in Zürich) richten sich explizit an eine kaufkräftige Zielgruppe und beinhalten auch Wohneigentum oder möblierte Apartments. Um günstige(re) Mietwohnungen in Hochhäusern zu schaffen, bräuchte es eine stärkere politische Steuerung (etwa über Subventionen oder Querfinanzierungen) oder eine gezielte strategische Entscheidung seitens gemeinnütziger Wohnbauträger (wie etwa beim geplanten ABZ-Projekt im Zürcher Koch-Areal).

Mit der Revision des Raumplanungsgesetzes und dem gesetzlichen Auftrag, haushälterisch mit dem Boden umzugehen, orientieren sich viele neue Wohnprojekte an dichteren, kompakteren Typologien. Allerdings weisen die meisten gebauten Wohnhochhäuser in der Schweiz mit ihren – auch planungsregulatorisch bedingten – grosszügigen Aussenräumen bei Weitem nicht eine so hohe effektive Ausnutzung auf wie dicht bebaute historische Altstadtquartiere oder städtische Blockrandbebauungen.8

In der Architekturtheorie hat sich deshalb die Erkenntnis durchgesetzt, dass Dichte nicht unbedingt Hochhausstrukturen erfordert. Nichtsdestotrotz erfreuen sich Hochhausprojekte heute in vielen Schweizer Städten grosser Attraktivität. Dies hängt natürlich in erster Linie mit ökonomischen Interessen zusammen – und vielleicht auch mit dem Interesse, Inseln von Urbanität zu schaffen. Eine «Hochhüsli»-Urbanität, wie Max Frisch im internationalen Vergleich wohl präzisieren würde.

Notes

 

1. Walker, R. (2000): «Der steinige Weg zum ersten Hochhaus der Schweiz», in: Baudoc Bulletin Nr 2/2000.

 

2. Marti, H. (1951): «Es liegt was in der Luft», in: Schweizerische Bauzeitung, Bd. 69, Heft 43, S. 603.

 

3. Jenatsch, G.-M. (1997): Die Siedlung Letzigraben-Heiligfeld in Zürich, 1951–1955 von Albert Heinrich Steiner. Studienarbeit am Institut für Kunst- und Architekturgeschichte (Prof. W. Oechslin), ETH Zürich, S. 15ff., sowie Weidmann, R. (2001): «Handlungsspielräume bei der Realisierung einer neuen Bauform. Die Letzigraben-Hochhäuser von A. H. Steiner 1950–1952», in: Oechslin, W. (Hg.): Albert Heinrich Steiner. Architekt – Städtebauer – Lehrer. Zürich: gta Verlag, S. 72–107.

 

4. Tages-Anzeiger vom 15.09.2007. «Zürich bleibt die Stadt der Hochhüsli» (von Adi Kälin), S. 17.

 

5. Althaus, E. (2014): «Hochhäuser Heiligfeld (1950–1952) – Das Innovative konventionell umgesetzt», in: Glaser, Marie A. (Hg.): Vom guten Wohnen. Vier Zürcher Hausbiografien. Zürich: Niggli, S.138–169.

 

6. Zahner, H. (1963): «Das Wohnen in Hochhäusern. Ergebnisse einer Umfrage der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft bei 32 alleinstehenden Ehepaaren und Familien mit Kindern in 13 Hochhäusern der Städte Zürich, Winterthur, Basel, Birsfelden, Biel und Genf», in: Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit, Vol. 11, S. 284f.

 

7. Althaus, E. (2018): Sozialraum Hochhaus. Nachbarschaft und Wohnalltag in Schweizer Grosswohnbauten, Bielefeld: transcript.

 

8. Lampugnani, V. M.; Keller, Th. (2007): «Urbanität und Dichte: Ausgewählte Bestandesaufnahmen», in: Lampugnani, V. M. et al. (Hg.): Städtische Dichte. Zürich: Verlag NZZ, S. 49–128.

Eveline Althaus studierte Sozial- und Kulturanthropologie an der Universität Freiburg und der Humboldt-Universität Berlin und promovierte danach bis 2015 am Departement Architektur der ETH Zürich (ETHZ). Seit 2011 ist sie als Sozialwissenschaftlerin Mitglied des ETH Wohnforums – ETH CASE (Center for Research on Architecture, Society & the Built Environment), wo sie sich mit den sozialen und kulturellen Aspekten des Wohnens beschäftigt.

Alle Artikel des Dossiers «Vertikales Wohnen»

 

Wohnraum Turm – Renaissance einer Form der Verdichtung,  Tania Perret

 

Hochhauswohnen im Wandel der Zeit, Eveline Althaus

 

Video 01 – Antoine Hahne, architeckt, Pont12, Lausanne

 

Video 02 – Paolo Poggiati, Landschaftsarchitekt, Bellinzona

 

Video 03 Maria Lezzi, Direktorin des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE)

 

Turm und Wolkenkratzer. Eine kurze Geschichte des Hochhauses, Matteo Moscatelli

 

Video 4 - Heinrich Degelo , architekt, Basel

 

Video 5 Fredy Hasenmaile, Managing Director bei der Credit Suisse

 

Video 6 – Etienne Räss, Bauingenieur und Stadtplaner, Leiter von La Fabrique de Malley

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