Dämme gegen Naturgefahren
Bau von Schutzdämmen gegen Rügen und Lawinen in Pontresina
Rund fünf Prozent der schweizerischen Landesfläche bestehen aus so genanntem Permafrost, ganzjährig gefrorenem Untergrund also. Wenn dieser infolge der allgemeinen Klimaerwärmung langsam auftaut, kann sich das Risiko von Muränen beträchtlich erhöhen. In Pontresina hat man sich nach einer Reihe von Untersuchungen dazu entschlossen, mit einem Dammbauwerk zwei Probleme gleichzeitig zu lösen: sowohl gegen Schneelawinenn als auch gegen Rüfen einen dauerhaften Schutz zu erhalten.
Am Schafberg in Pontresina werden seit 1882 Verbauungen gegen Lawinen und Murgänge (Rufen) erstellt. 1978 begann man mit den Arbeiten am Verbau des Val Giandains direkt oberhalb des Dorfkerns. Ein Projekt, das schon 1892 unter dem Namen «106 Giandains» geplant, aber nie ausgeführt worden war. In vier Etappen sollten durch den Einbau von leichten Stahlwerken mit Sprengankerfundationen Lawinen- und Rüfenverbauungen realisiert werden. Doch bereits nach der ersten Etappe wurden die Arbeiten wegen grosser bautechnischer Schwierigkeiten eingestellt. Wasserführende, schmierige und sehr kalte Schichten behinderten das Bohren in 2,5 m Tiefe.
Ankerversuche des Eidgenössischen Instituts für Schnee- und Lawinenforschung Davos (SLF) ergaben, dass eine Runse im Verbauungsgebiet Giandains mit den bestehenden Werktypen mit gebohrten Ankern nicht verbaubar ist. Daraufhin führte die Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich (VAW) erstmals mit einfachen Schneesondierungen Permafrostkartierungen durch. Der zugehörige Kurzbericht beschreibt neben der Permafrostverbreitung auch die vermuteten Bewegungsrichtungen des Permafrostkriechens und die daraus resultierende extreme Labilität des Lockerschutts im bezüglich Verankerungen kritischen Perimeter. Folgende Schlüsse wurden damals gezogen:
- Der Verbauperimeter befindet sich teilweise in einem heiklen Bereich von eisreichem, kriechendem Permafrost.
- Eischarakteristik und Mächtigkeit des Permafrostes sind nicht bekannt.
- Interaktionen zwischen Schnee und Permafrost sind nicht erforscht.
- Bis dato sind keine Lawinenschutzmethoden für Permafrostgebiete entwickelt worden.
- Die Bauarbeiten müssen vorläufig eingestellt werden.
- Ein neues, der Lawinen- und Murganggefahr Rechnung tragendes Schutzkonzept für das Val Giandains muss entwickelt werden.
Massnahmen zum Schutz von Menschen und erheblichen Sachwerten werden in der Schweiz auf der Grundlage einer Risikoanalyse subventioniert. Diese Analyse gründet auf der Abschätzung beziehungsweise Berechnung des Gefahrenpotenzials sowie des Schadenpotenzials. Dabei werden die Gefahrenarten Murgang, Lawinen und Steinschlag analysiert und mögliche Schutzmassnahmen abgeleitet. Die zu untersuchenden Prozesse stehen in Pontresina wegen des Permafrosts in besonderer Wechselbeziehung zueinander.
Bezüglich der Lawinenproblematik spielt der Permafrost ausschliesslich als möglicher Baugrund für Verbauungen eine Rolle, während bezüglich Murgängen Veränderungen der Permafrostbedingungen zu beachten sind. Permafrost als solcher kann nicht als Naturgefahr bezeichnet werden, sondern er beeinflusst als klimaabhängiges Phänomen verschiedene relevante Prozesse. Dabei ist sein Anteil von 4 bis 6% der Schweizer Landesfläche mehr als doppelt so gross wie derjenige von Gletschern.1
Projekt «Permafrost»
Im Februar 1989 wurde das so genannte Ergänzungsprojekt «Permafrost» von der VAW in Zusammenarbeit mit dem SLF gestartet. Neben den geophysikalischen Baugrunduntersuchungen2 und den Grundlagenuntersuchungen zu den Schnee-Permafrost-Beziehungen3 entstand dabei eine erste Ingenieurstudie4. Aus diesen Arbeiten konnten folgende Schlüsse gezogen werden:
- In der Runse am Anfang des Val Giandains oberhalb rund 2700 m ü. M. ist Permafrost in zwei Bohrlöchern mit einer Mächtigkeit zwischen 40 und 70 m festgestellt worden. Die Permafrosttemperaturen sind mit -1,6 °C respektive -0,6 °C nahe dem Schmelzpunkt.
- Die eisreichen Lockergesteine kriechen mit Geschwindigkeiten von einigen Zentimetern pro Jahr annähernd oberflächenparallel in die Steilhänge der Lawinenverbauungszone.
- Etwa 100 m gefrorener Schutt fliessen jährlich in die Runse des Val Giandains hinein und verändern dadurch langsam aber stetig die Geometrie der übersteilen Hangpartie. Es stürzen jährlich ein paar grosse Blöcke von der Runsenoberkante ab.
- Falls der tief liegende Permafrost in der allenfalls zu verbauenden Runse (Val Giandains) abschmölze, wäre damit eine Veränderung der Stabilität und der Erosionsanfälligkeit des Steilhangs verbunden. Infolge der dabei sich verändernden Disposition für Murgänge muss die vorwiegend auf Erfahrung basierende Ausscheidung von Gefahrengebieten im Siedlungsgebiet neu untersucht werden.
Beurteilung der Murfähigkeit
Auf der Grundlage einer ersten Studie der ETH Zürich wurde im Jahre 1994 eine Beurteilung der durch Murgänge gefährdeten Dorfteile Pontresinas durchgeführt.5 Bei der Abschätzung der Murganggefahrdung bildet die Murgangfracht den zentralen Parameter. Im Permafrost hängt das mobilisierbare Schuttpotenzial von der Dicke der sommerlichen Auhauschicht an der Oberfläche ab. Bei intakten Permafrostbedingungen beträgt deren Dicke zwischen drei und fünf Meter. Die darunter liegenden, dauernd gefrorenen Schichten sind durch das Eis vor Erosion geschützt.
Klimaszenarien gehen in der betroffenen Zone bis im Jahre 2050 von einer Erwärmung von 1,5 bis 2 °C aus. Auf den Permafrost kann ein solches Szenario unterschiedliche Auswirkungen haben. Einerseits kann durch geringere Schneehöhen im Herbst der Boden stärker auskühlen (sogenannter Herbstschnee-Effekt). Andererseits kann bei andauernd warmen Temperaturverläufen bereits nahe am Schmelzpunkt sich befindender Permafrost durch eindringendes Wasser flächenhaft auch in grösseren Tiefen auftauen. Die Geschwindigkeit des Auftauprozesses lässt sich schwer abschätzen, denn sobald zirkulierendes Wasser Wärme transportieren kann, sind rasche Auftauprozesse innerhalb von 5 bis 10 Jahren möglich.
Bei einer Erwärmung würde sich als direkte Reaktion die Auftauschicht des Permafrosts und damit das Schuttpotenzial markant vergrössern.6 Zur Gefahrenbeurteilung von murgangfähigen Wildbächen werden oft sehr grobe empirische Methoden angewendet.7,8 Dabei bilden die oben besprochenen Grössen die Grundlagen zur Abschätzung der wichtigen Murgangparameter. Dies sind insbesondere Gerinnelänge, die Einzugsgebietsgrösse, das Gefälle des gesamten Gerinnes inklusive Kegel sowie die daraus berechnete Murgangfracht.
Zur Beschreibung des Fliess- und Ablagerungsverhaltens wurden m jüngerer Zeit auch numerische Simulationsmodelle entwickelt. Eine Unsicherheit bildet dabei aber die Bestimmung der Modellparameter zur Charakterisierung des Matenaiverhaltens, die meist aufgrund der Nachrechnung von Naturereignissen abgeschätzt werden.9 Da systematische Nachrechnungen dieser Parameter fehlen, wurden solche Simulationsrechnungen für praktische Anwendungen bisher nur in beschränktem Umfang durchgeführt.10
Für die Beurteilung der Murgangablagerung ist die Schätzung des Maximalabflusses im Gerinne von Bedeutung. Dazu wird der Maximalabfluss des Wasser-Feststoff- Gemischs in Beziehung zur Murgangfracht gebracht. Die höchsten m den Alpen beobachteten Maximalabflüsse von Murgängen liegen bei etwa 1000 mVs. Die berechneten Maximalabflüsse streuen im Val Giandains zwischen 360 und 1100 m/s, was bedeutet, dass der letztgenannte Wert eher zu hoch sein dürfte. Zwischenablagerungen sind generell zwar möglich, doch eher von bescheidenem Ausmass.
Die Reichweite des Murgangs, das heisst die Distanz von der Anrisszone bis zum untersten Ablagerungspunkt, wurde mithilfe der Murgangfracht abgeschätzt und beträgt 1700 m für das «seltene» und 2700 m für das «sehr seltene» Ereignis. Eine weitere wichtige Grösse ist die Ablagerungslänge LK auf dem Kegel, die sich auf die Distanz zwischen Ausbruchstelle aus dem Gerinne bis zum untersten Punkt der murgangartigen Ablagerung (ohne Schwemmmaterial) bezieht. Sie kann ebenfalls mithilfe der Murgangfracht abgeschätzt werden und beträgt für eine «seltene» Murgangfracht von 25 000 m3 etwa 500 m. Dies entspricht ungefähr zwei Drittel der gesamten Länge des Kegels.
Gefahr für das Dorf?
Eine halbquantitative Abschätzung im Kegelbereich zeigt, dass die Aufnahmekapazität des künstlichen, kanalisierten Gerinnes auf dem Kegel des Val Giandains nicht genügt, um den Abfluss grösserer Murgänge aufzunehmen. Der berechnete Höchstabfluss, den das Gerinne (Querschnitt im Kegelbereich: etwa 8 nr) aufnehmen kann, liegt zwischen 65 und 86 mVs. Der Maximalabfluss eines «seltenen» Ereignisses entspricht aber etwa 360 mVs. Demnach wird ein solcher Murgang das bestehende Gerinne schon kurz unter dem Kegelhals verlassen und sich ausbreiten. Überdies bestehen drei Verklausungsmöglichkeiten (Brücken, Engnisse), die zu einem Ausbrechen des Murganges aus dem Gerinne führen können.
Diese Verklarungen spielen vor allem bei kleineren Murgängen eine Rolle. Diese brechen oft überhaupt erst bei Hindernissen aus dem Gerinne aus. Weiter ist in der Murgangfracht mit vereinzeltem, mitgeführtem Lawinenholz zu rechnen, das die Verklausungsgefahr erhöht. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Siedlungsgebiet von Pontresina infolge möglicher Veränderungen des Permafrosts durch Murgänge bedroht ist und die heute in der Raumplanung geltenden Sicherheitsansprüche nicht mehr gewährleistet sind. Zu dieser Einschätzung trägt die Tatsache entscheidend bei, dass sich die Temperaturen des Permafrosts im betroffenen Gebiet nahe dem Schmelzpunkt befinden.
Auffangwerke
Die Evaluation verschiedener Möglichkeiten zur Eindämmung der Gefahren führte schliesslich zum Projekt, das sich nun in der Realisierungsphase befindet. Mit Auffangdämmen oberhalb des Dorfs können einerseits Murgänge und andererseits aber auch Lawinenniedergänge aufgefangen werden. Statt eines durchgehenden Damms mit einer Bresche für den Bachdurchgang hat man sich für eine Lösung mit zwei gegeneinander versetzten Dämmen entschieden. Ausschlaggebend war neben der Wirtschaftlichkeit vor allem die bedeutend bessere Einpassung in die Umgebung.
Die Dämme haben eine Länge von je 230 m, eine bergseitige Höhe von 13,5 m und können mit dem am Baustandort vorhandenen Material erstellt werden. Die maximale Breite beträgt 67 m. Die Dämme werden an bestehende Geländekanten angepasst und die talseitigen terrassierten Böschungen renaturiert. Der Abtrag des Dammschüttmaterials erfolgt bergseits der Dämme. So werden die Lawinen hinter die Dämme geleitet, und es entsteht ein Becken, das 240'000 m3 Schnee aus Lawinen oder 100'000 m3 Rüfenmaterial auffangen kann.
Gegen Grosslawinen sind noch zusätzliche Massnahmen notwendig, die die Lawinengeschwindigkeit vor den Dämmen reduzieren. Dies geschieht mittels zweier ebenfalls versetzt angeordneter Vordämme im Auffangbecken mit einer bergseitigen Höhe von rund 8 m. Von der Erstellung des Auffangbeckens und der Dämme werden etwa 4,2 ha tangiert.
Für die sofortige Leerung des Auffangbeckens nach einem allfälligen Murgang ist eine Zufahrtsstrasse für Baumaschinen und Lastwagen notwendig. Die neue Strasse dient in der Bauphase auch dafür, einen Teil der Steine für die bergseitige Befestigung der Dämme und das Baumaterial für die Dammbalkensperre zwischen den zwei Dämmen zuzuführen. Der Einpassung der Dämme in die Landschaft ist bei der Projektierung grosses Gewicht beigemessen worden. So bleibt z.B. talseits der Dämme praktisch über deren gesamte Länge ein Waldstreifen bestehen.
Die Baukosten entsprechen etwa einem Viertel der Aufwendungen, die für einen gegen Murgänge wenig hilfreichen, konventionellen Vollverbau der Anrissgebiete des Val Giandains gegen Lawinen hätten aufgewendet werden müssen.
Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 5-6/2010 «Bauen im Permafrost».
Literatur
1 Keller, F., Frauenfelder, R., Gardaz, J.-M., Hoelzle, M., Kneisel. Chr., Lugon, R., Phillips, M., Reynard. E., Wenker, L.: Permafrost Map of Switzerland In: Proceedings of Seventh International Conference on Permafrost No 57/1998, 557–562.
2 Vonder Mühll, D. S.: Geophysikalische Untersuchungen im Permafrost des Oberengadins, Graubünden. Mitt. der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie ETH Zürich, Nr 122/1993, 222 S.
3 Keller, F.: Interaktionen zwischen Schnee und Permafrost. Eine Grundlagenstudie im Oberengadin, Mitt. der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie ETH Zürich Nr 12/1994, 146 S.
4 Stoffel: Bautechnische Grundlagen für das Erstellen von Lawinenverbauungen im alpinen Permafrost, Mitteilungen des Eidgenossischen Institutes für Schnee- und Lawinenforschung Davos. Nr 52/1995.
5 ILU alpin: Risikoanalyse Pontresina; Bericht über die durch Murgänge aus dem Val Clux und Val Giandains gefährdeten Zonen von Pontresina. Im Auftrag des Kreisforstamts 28, 7524 Zuoz. 1994. 16 S.
6 Haeberli, W., Kaàb, A., Hoelzle. M., Bosch, H., Funk, M., Vonder Mühll, D., Keller, F.: Eisschwund und Naturkatastrophen, Schlussbericht NFP31, vdf Hochschulverlag, ETH Zürich. 1999, 190 S.
7 Rickenmann, D.: Beurteilung von Murgangen. Schweizer Ingenieur und Architekt, 48/1995, 1104–1108.
8 Rickenmann, D.: Empirical relationships for debris flows. Natural Hazards, 19 (1), 1999, 47–77.
9 Modelling approaches In: «Debris-Flow Hazards Mitigation: Mechanics, Prediction, and Assessment», Ed. Chen-lung Chen, (Proc. of the first Int Conference, San Francisco, USA), American Society of Civil Engineers, 1997, 576–585.
10 Rickenmann. D : Murgänge in den Alpen und Methoden Gefahrenbeurteilung. In: Mitteilungen des Lehrstuhls und Instituts fur Wasserbau und Wasserwirtschaft, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen. Band 124/2001, 51–77.