«Es ist die Rea­li­tä­tsnä­he, die die Stu­den­ten in­te­res­siert»

Für den aussergewöhnlichen Einsatz, Studierende für den Bauwerkserhalt zu begeistern – zuletzt mit der Semesterarbeit «Readymade – Bauen mit Fundstücken» – erhält das Institut Konstruktives Entwerfen IKE der ZHAW einen Spezialpreis der SIA-Fachgruppe für die Erhaltung von Bauwerken FEB. Norbert Föhn, Vorstandsmitglied der FEB, sprach mit zwei Dozierenden des Instituts.

Data di pubblicazione
07-01-2020

Norbert Föhn, FEB: Marc Loeliger, Andreas Sonderegger, herzliche Gratulation zur Sonderauszeichnung FEB. Welchen Stellenwert besitzt die Bauwerkserhaltung und das Bauen im Bestand in Ihrer Lehrtätigkeit?

Marc Loeliger: Neben Neubauthemen behandeln wir in unseren Entwurfssemestern schon seit Jahren Verdichtungs-, Umbau- und Aufstockungsthemen. Die Semester zum Thema Bauen im Bestand haben in den letzten Jahren aber eher zugenommen. Neu ist, dass wir die Entwurfssemester wissenschaftlich begleiten, auswerten und parallel zum Entwurf Forschung betreiben.
Andreas Sonderegger: Der Umgang mit bestehender Bausubstanz ist in der Architekturausbildung noch im Aufbau. Unser Ziel ist es, dass die Studenten in unseren Semestern zum Bestand ein Grundwissen erarbeiten, damit sie später als Architekten im Umgang mit Bestandsbauten die richtigen Entscheidungen treffen und mit den Spezialisten wie den Denkmalpflegern in einen Dialog treten können. Wir bearbeiten in unseren Semestern sowohl kleinmassstäbliche Umbau- und Aufstockungsthemen als auch grossmasstäbliche städtebauliche Verdichtungsthemen.

Welche Forschungsschwerpunkte im Bestand gibt es aktuell am Institut Konstruktives Entwerfen (IKE)?

Andreas Sonderegger: Ein langfristiges Forschungsthema ist «EnergieKultur». Bauten aus verschiedenen Zeiten werden analysiert, technisches Wissen in den Entwurfsprozess integriert und zu Low-Tech-Strategien weiterentwickelt. Auch das  Forschungsfeld «Siedlungsbiografie» ist Teil von «EnergieKultur». Darin erforschen wir nachhaltige Transformationsstrategien für den Erhalt und die Erneuerung von Bestandssiedlungen als Alternative zum Totalabbruch und Ersatzneubau. Und ausserdem, wie durch das Vermeiden von Abbrüchen graue Energie gespart werden kann. Ein weiterer Schwerpunkt ist «Weiterbauen in Stahl» als konstruktives Bauwissen zu Aufstockungen von Gebäuden. Weiter gibt es in Kooperation mit der ICOMOS Suisse Forschungsprojekte zum Schweizer Systembau.

Wie ist das Interesse der Studenten an diesen Themen?

Andreas Sonderegger: Die Bestandserhaltung hat mit der aktuellen Klima- und Energiediskussion eine andere Relevanz erhalten. Im Zusammenhang mit dem Semesterhema «Siedlungsbiografie» haben wir festgestellt, dass der Betriebsenergieverbrauch einer der grössten Treiber für einen Gebäudeabbruch ist. Erst in den letzten Jahren entstand das Bewusstsein, dass die Debatte über die graue Energie anders geführt werden muss. Denn ein Ersatzneubau heisst vor allem Vernichtung von Energie, dem in der Berechnung des Gesamtenergieverbrauchs Rechnung getragen werden muss.

Zum Semesterthema «Readymade – Bauen mit Fundstücken». Was beinhaltete das Entwurfssemester?

Andreas Sonderegger: Ausgangspunkt war eine reale Bauaufgabe auf dem Lagerplatzareal in Winterthur: die Aufstockung des Kopfbaus Lagerplatz 118. Prototypisch sollte hier die Verwendung wiederverwertbarer Bauteile untersucht werden. Ein Raumprogramm wurde nicht vorgegeben, die Suche nach zukünftigen flexiblen Arbeits- und Wohnformen war aber wichtiger Teil der Aufgabenstellung. Am Anfang drehte es sich vor allem um die Gebäudestruktur. Die Studenten erstellten in Zusammenarbeit mit dem Bauingenieur Urs Oberli Strukturmodelle und unterzogen diese Belastungstests. Strukturell ist eine 25 Meter hohe Aufstockung auf einen Bestand, der fast nichts trägt, eine grosse Herausforderung. Darauf folgte eine Ausbauübung: Die Studenten packten selber im Orion-Gebäude an der Förrlibuckstrasse in Zürich beim Ausbau von Bauteilen mit an. Sie realisierten, was es heisst, ein Haus auseinanderzunehmen. Dann folgte die Erstellung eines Bauteilkatalogs von Bauteilen, die im Projekt wiederverwendet werden sollten. Darauf basierte der architektonische Entwurf.
Marc Loeliger: Die Frage nach der Systematik eines Bauteilkatalogs und wie man einen solchen erstellt, war uns in diesem Semester sehr wichtig. Diese Fragestellung wurde in einem eigenen Research-Modul untersucht. Durch das ganze Semester hinweg gab es zudem einen engen Austausch mit dem Baubüro in situ, das die Aufstockung der Lagerstrasse 118 als reales Bauprojekt mit wiederverwendeten Bauteilen bearbeitet.

Welchen Einfluss hat die Wiederverwendung von Bauteilen auf den Entwurfsprozess?

Marc Loeliger: Bei der Wiederverwendung von Bauteilen lautet die Frage nicht – wie normalerweise –, welches Material passt zu meinem Entwurf sondern vielmehr, wie entwickle ich meinen Entwurf aus den bestehenden Materialien. Grundsätzlich passt es zu unserem Verständnis vom «Synchronen Entwurfsverfahren». Das Synchrone Entwerfen beruht auf der Parallelität von verschiedenen Massstabsebenen. Dabei werden verschiedene Aspekte vom Bauen gleichzeitig angeschaut, aus verschiedenen Ebenen vom Masstab 1:500 bis ins Konstruktionsdetail. Im Fall des Bauteilrecyclings wird der Bauteilkatalog genau so wichtig wie die am Schluss gebaute Form oder das Raumprogramm. Man darf dies aber nicht mit einem Legospiel oder einem Baukasten gleichsetzen, denn daraus könnte auch ein Algorithmus etwas zusammensetzen. Das Bauen mit wiederverwerteten Bauteilen ist unserer Meinung nach eine architektonische Disziplin, ein bewusstes Entwerfen. Die Gebäude werden zwar anders gedacht, vielleicht nicht primär von einem formalen, sondern eher von einem konstruktiven Ansatz her, doch die Formgebung und Schönheit steht nach wie vor im Zentrum.

Wie fanden sich die Studenten in diesem Entwurfsexperiment zurecht und welche Resultate entstanden dabei?

Marc Loeliger: Die Studenten empfanden das Ganze als überaus inspirierend. Es eröffnete ihnen die Möglichkeit, das Gebäude anders zu denken, gestaltet aus Materialien, die nicht per se schön sind. Der Ansporn dabei war, aus diesen Materialien etwas Interessantes zu gestalten. Das schöne daran ist, dass die wiederverwendeten Bauteile den Entwürfen immer eine grosse Dichte gaben. Die Elemente besitzen eine Geschichte, die man sofort spürt. Und obwohl die Puzzleteile – der Bauteilkatalog – für alle der Gleiche war, fand sich in den Projekten dennoch eine unglaubliche Breite. Die Unterschiedlichkeit der Projekte hat uns selber überrascht.
Andreas Sonderegger: Diese andere Herangehensweise ans Entwerfen haben die Studenten sehr schnell angenommen. Die Jungen sind diesbezüglich auch durch ihren Umgang mit den neuen Medien extrem gewandt. Der Bauteilkatalog beispielsweise wurde komplett in 3D aufgebaut mit Beschrieben, Attributierungen zu den Bauteilen, quasi als BIM-Projekt.

Planen Sie weitere Semester zum Thema Bauteilrecycling?

Andreas Sonderegger: In unserem laufenden Semester «Bauteilrecycling vor Ort» untersuchen wir auf dem SBB Areal Neugasse in Zürich eine Wiederverwendung von Bauteilen am Ort, ohne Transport. Lagerhaltung und Logistik sind die grössten Schwierigkeiten im Bauteilrecycling, daher versuchen wir dies möglichst zu vermeiden.
Marc Loeliger: Das Bauteilrecycling ist auch bei den SBB auf grosses Interesse gestossen. Wir konnten sie als Forschungspartner gewinnen. Die SBB nehmen aktuell ihren gesamten Gebäudepark auf und erstellen einen Katalog ihrer Bausubstanz. Insbesondere bei SBB-Hallen gibt es viele Stahlbauteile, die wiederverwendet werden können.

Wie seht ihr die Bedeutung von Bauen mit rezyklierten Bauteilen in der Bauwirtschaft?

Marc Loeliger: Die Sensibilisierung für alternative Baumethoden ist im Moment aufgrund der aktuellen Klimadebatte sehr gross. Das Bauteilrecycling steht in der Schweiz aber noch ganz am Anfang. Auch gibt es noch ganz viele offfenen Fragen um die Bauteilwiederverwendung. Zum Beispiel ist die Quantifizierung der Energiebilanz sehr schwierig zu berechnen. Dazu haben wir weder die richtigen Instrumente noch verlässliche Zahlen. Es ist Teil der IKE-Forschung, zu ermitteln, wie viel Energie für den Ausbau der Bauteile, den Transport, die Zwischenlagerung und den Wiedereinbau wirklich verbraucht wird.
Andreas Sonderegger: Die Planer von In situ etwa führen immer eine doppelte Buchhaltung, um vergleichen zu können, ob die Kostenersparnis durch das Wiederverwenden von Bauteilen die erhöhten Kosten des Planungsaufwands rechtfertigen. Ziel ist es, dass das Bauen durch das Wiederverwenden von Bauteilen nicht teurer wird.
Die Stiftung Madaster etwa ist daran, eine Plattform als Online-Bibliothek von Materialien in der gebauten Umgebung aufzubauen. Es werden auch Materialpässe von Immobilien erstellt mit Wertangaben zu den Materialien. Belgien zum Beispiel ist im Bereich des Bauteilreyclings schon viel weiter. Dort gibt es bereits einen grossen Markt von gebrauchten Materialien, mit verschiedenen Anbietern, die sich auf Baumaterialien spezialisiert haben.
Marc Loeliger: Die Stadt Brüssel schreibt bei Bauten der öffentlichen Hand einen minimalen Anteil an wiederverwendeten Bauteilen vor.
Ein grosse Frage in der baulichen Praxis stellt sich auch bezüglich der Normierung der wiederverwendeten Bauteilen. Wer garantiert für den Einbau bestehender, ungeprüfter Materialien? Die Normierung und die ständig erhöhten Anforderungen ans Material, an Materialprüfungen und Zertifizierungen sind für das Bauteilrecycling alles andere als förderlich. Ein weiteres Thema betrifft auch die Trennbarkeit von Materialien und die Frage der Fügung von Materialien zueinander. Heute wird auf dem Bau viel geklebt statt geschraubt. Ziel beim Bauen sollte sein, dass man neue Bauteile zu einem späteren Zeitpunkt auch wieder einfach voneinander trennen kann und somit die nächste Wiederverwendung des Bauteils mitdenkt.
Andreas Sonderegger: Es ist wichtig, dass jedem Planer bewusst wird, dass das, was man einbaut, einen Wert als wiederverwendbares Element besitzt. Dieser Bewusstseinsbildungsprozess bei den Beteiligten und insbesondere den Studenten ist im Moment sicher das wichtigste.

Verfolgen Sie in Ihren eigenen Büros ebenfalls schon Projekte mit Wiederverwendung von rezyklierten Bauteilen?

Marc Loeliger: In Wettbewerben haben wir Wiederverwendung von Bauteilen schon im grossen Massstab angedacht. Bei den gebauten Projekten geschieht dies eher episodenhaft. So haben wir uns bei zwei Ersatzneubauten im ländlichen Gebiet sehr stark für den Erhalt des Sockels als Zeichen der Permanenz eingesetzt.
Andreas Sonderegger: In unserem Büro stelle ich ein langsames Umdenken fest. Man überlegt sich zum Beispiel, wie man das Schalungsholz auf der Baustelle allenfalls für den Innenausbau wiederverwenden kann. Insgesamt fehlt uns aber wie allen anderen Büros die praktische Erfahrung, wie man konkret Bauteilrecycling umsetzen kann. Das ist auch das, was uns am IKE in unserer momentanen Forschungstätigkeit am meisten interessiert; der Schritt vom Forschungslabor der akademischen Ausbildung in die bauliche Praxis.

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