Un­be­re­chen­bare Sihl

Mit dem Regionalen Hochwasservorhersagesystem IFKIS-Hydro Sihl das Gefahrenpotenzial der Sihl eindämmen

In Zürich hat man das Hochwasserrisiko der Sihl lange unterschätzt. Nach dem Hochwasser 2005 entschied der Kanton Zürich, ein regionales Hochwasservorhersage­system zur Verbesserung der Hochwassersicherheit der Stadt Zürich und des Sihltals einzurichten. Beschleunigt wurde dieses Vorhaben, weil mit dem Bau der Durchmesserlinie zusätzliche Risiken bezüglich der Durchflusskapazität der Sihl beim Hauptbahnhof entstanden.

Date de publication
18-01-2012
Revision
31-12-2018

«Zu den schönsten vor allen in der Schweiz gehören diejenigen Städte, welche an einem See und an einem Flusse zugleich liegen, so dass sie wie ein weites Tor am Ende des Sees unmittelbar den Fluss aufnehmen, welcher mitten durch sie hin in das Land hinauszieht.» Diese Zeilen stammen nicht aus einem Schweizer Reiseführer. Gottfried Keller beginnt mit diesem Satz seinen Roman «Der Grüne Heinrich» (1. Fassung). Dass der Dichter dabei in erster Linie seine Heimatstadt und die Limmat vor Augen hatte, liegt auf der Hand.
In der Limmatstadt gibt es aber auch noch einen anderen Fluss – die Sihl. Sie entspringt im Hochtal von Einsiedeln, fliesst in den 1937 gestauten Sihlsee und von dort durch das Sihltal nach Zürich. Kurz nach dem Zürcher Hauptbahnhof mündet sie in die Limmat. Der Schriftsteller Hugo Lötscher hat der Sihl in seinem letzten Buch ein eindrückliches Denkmal gesetzt. Er charakterisiert sie als wilden Fluss mit verbauten Ufern. Neben der Limmat werde sie von vielen als minderer Fluss betrachtet. Lötscher räumt der Sihl in seinem Buch viel Platz ein – und er kritisiert, wie die Zürcher mit ihr umgegangen sind: «Wie geschichtsträchtig die Sihl auch war, sie wurde malträtiert», schreibt er. «Sie wurde ein Opfer der Verkehrsplanung. Wo sie in die Stadt einmündet, hat man sie mit einer Strasse überdacht; sie fliesst seither eingezwängt zwischen Pfeilern. Man hat dem Fluss den Himmel genommen, und dem Himmel die Möglichkeit, sich in der Sihl zu spiegeln.»1 

Unterschätztes Hochwasserrisiko

Wie sich nun zeigt, unterschätzte man in Zürich die von der Sihl ausgehenden Gefahren jahrzehntelang. Nach einem schweren Unwetter könnte der meist harmlose Fluss grössere Teile der Stadt überschwemmen. Der Schaden könnte laut Schätzungen 3 bis 5 Mrd. Fr. betragen. Dieses Risiko ist selbst Fachleuten erst in den letzten zehn Jahren bewusst geworden. Bisher hatte man in Zürich vor allem Angst vor einem Dammbruch beim Sihlsee. Hugo Lötscher schreibt dazu: «Mindestens einmal im Jahr rief sich die Sihl in Erinnerung, und dies mit Sirenengeheul. Die Alarmanlagen wurden geprüft für den Fall, dass die Sihl ihre Staumauer durchbrach; dann würde der Fluss über die Ufer treten und die Innenstadt in kürzester Zeit überschwemmen. Es hätte mich nicht überrascht, wenn sich die Sihl zu diesem Racheakt hätte hinreissen lassen – bis zu acht Meter hoch wird das Wasser dann im Zentrum auf dem Bahnhofplatz stehen, höher als der Monumentalbrunnen, so dass keiner der Denkmalköpfe aus dem Wasser schauen wird.»2
Zu einer solchen Überschwemmung ist es bisher glücklicherweise nie gekommen. Ein Dammbruch ist nach Einschätzung von Fachleuten auch sehr unwahrscheinlich. Bedrohlich sind jedoch Überschwemmungen aufgrund von heftigen Unwettern. Im August 2005, als etwa Thun und das Berner Mattequartier unter Wasser standen, war auch in Zürich die Situation kritisch. Beim Sihlhölzli in Zürich betrug der Abfluss 280 m3/s – ein Wert, der in der über 90-jährigen Abflussmessreihe der Sihl nur 1934 mit 340 m3/s übertroffen worden war. Die Pegel der Sihl stiegen 2005 bedrohlich an, obwohl es sich lediglich um ein Ereignis mit einer 20- bis 30-jährigen Wiederkehrdauer handelte. Das schreckte auf. Und die Fachleute fragten sich, was wohl geschehen wäre, wenn ein vergleichbares Niederschlagsereignis wie 2005 nicht in der Innerschweiz, sondern im Einzugsgebiet der Sihl stattgefunden hätte.
«Ich wollte diese Frage unbedingt beantwortet haben», erinnert sich Matthias Oplatka vom Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft (Awel) des Kantons Zürich. Unterstützung erhielt er dabei vom Geographischen Institut der Universität Bern und vom Zürcher Büro TK Consult. Die Wissenschafter übertrugen die im Entlebuch bzw. in Engelberg aufgetretenen Niederschlagsverteilungen ins Einzugsgebiet der Sihl und errechneten 16 mögliche Szenarien, indem sie das Zentrum des Ereignisses mit dem Niederschlagsmaximum jeweils leicht verschoben. Das Ergebnis war eindeutig und zugleich beunruhigend. Zürich wäre bei nicht weniger als 15 der 16 Szenarien überschwemmt worden. Mit anderen Worten: Man hat in den letzten 100 Jahren viel Glück gehabt.

Lage auf dem Schwemmkegel

Zürich liegt westlich der Limmat auf einem Schwemmkegel; eine solche Lage bedeutet immer auch Überschwemmungsgefahr. Laut Experten ist bei der Sihl ein Spitzenabfluss von bis zu 600 m3/s möglich.3 Besonders gefährdet ist der Hauptbahnhof, unter dem lediglich etwas mehr als 360 m3/s hindurchfliessen können. Bereits ab einem Abfluss von 260 m3/s ist der erforderliche Abstand zwischen Wasserspiegel und Bauwerk (Freibord) nicht mehr eingehalten. Weitere neuralgische Stellen sind eine tief liegende Brücke der Sihltalbahn in der Allmend Brunau sowie die Sihlhochstrasse mit ihren zahlreichen Pfeilern im Fluss, an denen bei Hochwasser das Schwemmholz hängen bleibt. 
Wie konnte es geschehen, dass man die Hochwassergefahr der Sihl so lange nicht erkannt hat? Weil seit Jahrzehnten nichts Gravierendes passiert ist. Das letzte Sihl-Hochwasser mit Überschwemmungen fand im Juni 1910 statt. Möglicherweise hatte die Sihl damals noch etwas mehr Raum, um sich unter dem Hauptbahnhof hindurchzuzwängen.
In den Jahrzehnten danach blieb es ruhig. 1977 und 1978 kam es an der Thur zu Überschwemmungen, weil die Dämme den Wassermassen nicht mehr standhielten. Dies löste in der Region eine intensive Diskussion über die Massnahmen zum Hochwasserschutz aus, die im Rahmen der zweiten Thurkorrektion in Angriff genommen wurden. 1987 führten im gesamten Alpenraum Unwetter zu schweren Schäden. An Auffahrt und Pfingsten 1999 traf es dann erstmals grossflächig das Mittelland. Als die Gewässer 2005 vielerorts erneut über die Ufer traten, war endgültig klar, dass sich die Situation bezüglich Hochwassergefahr grundlegend verändert hatte. Die in den letzten Jahren vorgenommene Beurteilung des Überflutungsrisikos in Zürich verdeutlicht die Problematik und zeigt angesichts der potenziellen Schäden einen klaren Handlungsbedarf auf.  

Ein regionales Hochwasservorhersagesystem

Aufgrund der neu erkannten Bedrohung entschied das Awel nach dem Unwetter 2005, zusammen mit Partnern ein regionales Hochwasservorhersagesystem zur Verbesserung der Hochwassersicherheit der Stadt Zürich und des Sihltals zu realisieren. Dieses trägt den Namen IFKIS-Hydro Sihl (IFKIS steht für Interkantonales Frühwarn- und Kriseninformationssystem).3 Beteiligt an der Entwicklung waren insbesondere Meteo Schweiz, die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), die Universität Bern, das Zürcher Büro TK Consult sowie das Bundesamt für Umwelt (Bafu). Kernstück von IFKIS-Hydro Sihl ist ein hydrologisches Modell des Sihl-Einzugsgebietes. Dieses wiederum wird durch die Wettermodelle von Meteo Schweiz angetrieben. Von besonderer Bedeutung ist dabei ein spezielles meteorologisches Modell, das alle 24 Stunden 16 Vorhersagevarianten der Wetterentwicklung für die nächsten fünf Tage liefert. Damit wird eine Abschätzung des Hochwasserrisikos innerhalb der nächsten drei bis fünf Tage möglich. Diese Zeitspanne reicht aus, um einerseits in Zürich Vorbereitungen für den Notfall zu treffen und andererseits, den Sihlsee abzusenken, um zusätzliches Rückhaltevolumen zu schaffen. Als flächenmässig grösster künstlicher See der Schweiz ist der Sihlsee in der Lage, die Hochwasserspitzen entscheidend zu dämpfen – jedoch nur, wenn er nicht voll ist. Dank dem Vorhersagesystem ist es nun also möglich, den Sihlsee im Vorfeld eines möglichen Extremereignisses aktiv für den Hochwasserschutz zu nutzen und nötigenfalls vorher abzusenken.
Beschleunigt wurde die Entwicklung von IFKIS-Hydro Sihl durch den Bau des Bahnhofs Löwenstrasse der Durchmesserlinie in Zürich.4 Die Sihl fliesst in fünf parallelen, 200 m langen Durchlässen unter dem Hauptbahnhof hindurch. Diese Anordnung ist ungünstig, weil über dem Gewässer kein Raum besteht und die Gefahr einer Verklausung durch Schwemmholz mit anschliessender Verstopfung gross ist. Dieses bereits bestehende Hochwasserrisiko wurde noch einmal beträchtlich erhöht, weil während des Baus des Bahnhofs Löwenstrasse von April 2008 bis Ende April 2011 jeweils zwei der fünf Durchlässe geschlossen waren. Dadurch verringerte sich die Abflusskapazität um 40 %. 

Heikle Entscheidung der Vorabsenkung des Sihlsees

Die Verantwortlichen für die Baustelle hatten somit ebenfalls grosses Interesse an zuverlässigen Abflussvorhersagen. Während der Bauarbeiten im Flussbett der Sihl standen zwei organisatorische Massnahmen im Vordergrund: die Vorabsenkung des Sihlsees sowie eine Alarmorganisation zur Räumung und Flutung der Baustelle. Mit dem Öffnen aller Durchlässe hätte sich die Durchflusskapazität kurzfristig erhöhen lassen. Eine Räumung der Baustelle hätte einige Stunden gedauert und wäre frühestens 24 Stunden vor einem Ereignis angeordnet worden. Der Entscheid für eine Absenkung des Sihlsees müsste hingegen drei Tage vor dem Ereignis getroffen werden. Und genau hier liegt das Dilemma. Wird nämlich eine Absenkung angeordnet und das prognostizierte Niederschlagsereignis bleibt aus oder ist schwächer als erwartet, dann wird der Sihlsee nach dem Fehlalarm nicht wieder gefüllt, was zu Produktionsausfällen beim Kraftwerk führt. 
Die Bauarbeiten in der Sihl werden Ende April abgeschlossen. Bisher ist es zu keinen kritischen Situationen gekommen. Es waren auch nur wenige Fälle zu beurteilen, aus denen sich ernste Hochwasser hätten entwickeln können.4 Waren grössere Niederschläge angekündigt, so trafen diese jeweils nicht mit einem bis an den Rand gefüllten Sihlsee zusammen. Der Entscheid, den Sihlsee abzusenken, ist und bleibt schwierig. Die mehrtägigen Abflussvorhersagen sind nämlich jeweils mit einer bestimmten Eintretenswahrscheinlichkeit verbunden. Während der Bauarbeiten in der Sihl wurde jeweils ein spezielles Gremium, die Beratungsgruppe «Vorabsenkung Sihlsee», einberufen, wenn die Eintretenswahrscheinlichkeit eines kritischen Abflusses von über 300 m3/s mehr als 5 % betrug.4 
Mit dem Abschluss der Bauarbeiten in den Durchlässen geht die Organisation für die Vorabsenkung des Sihlsees von der SBB-Durchmesserlinie an den Kanton Zürich über. Gegenwärtig werden die Kriterien, nach denen der Kanton Zürich künftig in dieser Frage entscheiden wird, im Detail ausgearbeitet. Matthias Oplatka geht davon aus, dass sich in rund einem Drittel der Fälle eine andere Entwicklung ergibt als diejenige, die aufgrund der Vorhersagen am wahrscheinlichsten erschien. Mit anderen Worten: Es wird nicht zu vermeiden sein, dass entweder Fehlalarme ausgelöst oder aber Hochwasserereignisse verpasst werden. Aus diesem Grund ist es verständlich, wenn die Verantwortlichen beim Kanton auf klare und nachvollziehbare Entscheidungskriterien im Vorfeld eines möglichen Hochwassers drängen. 

Integration in das FrühwarnSystem des Bundes

Das Hochwasservorhersagesystem der Sihl wird künftig in das Flood Early Warning System (FEWS) des Bafu integriert. Der Kanton Zürich sei finanziell nicht in der Lage, ein solches Warnsystem selber zu betreiben, sagt Oplatka. Bis und mit 2012 werden die Systeme jedoch parallel laufen. Bereits heute werden die Abflussvorhersagen für die Sihl auch auf der Gemeinsamen Informationsplattform Naturgefahren (GIN) des Bundes dargestellt. Eine Weiterentwicklung des gesamten Hochwasservorhersagesystems für Zürich ist vorgesehen. Insbesondere sollen auch das Einzugsgebiet der Limmat und damit der Zürichsee mit einbezogen werden. Bei den Hochwassern von 2005 und 2007 konnte im Zürichsee nämlich erfolgreich Wasser zurückgehalten werden. Dadurch hätten noch grössere Schäden entlang der Limmat und zum Teil auch entlang der Aare verhindert werden können, sagt Oplatka. Zurzeit würden die Grundlagen erstellt, die bei der Entscheidung helfen sollen, wie und wann welches Rückhaltevolumen in den Seen zur Verfügung gestellt werden soll. Die Regulierung des Seespiegels und der Hochwasserrückhalt sind also auch beim Zürichsee ein Thema. Doch während es beim künstlichen Sihlsee in erster Linie um ein ökonomisches Abwägen von möglicherweise vermeidbaren Schäden auf der einen Seite und von einem potenziellen Verlust bei der Stromproduktion auf der anderen Seite geht, sind beim Zürichsee auch die ökologischen Auswirkungen, die mit der Regulierung des Seespiegels verbunden sind, zu berücksichtigen.

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