Auf dem Prüf­stand

Aus einem ehemals dynamisch belasteten Kragarm wird ein statisch beanspruchter Träger. Ob diese Transformation möglich ist, sollten einfache Versuche aufzeigen. Die gewonnenen Erkenntnisse sind zwar gemischt, aber sie weisen auf vielversprechende Ansätze hin.

Date de publication
03-11-2023

Es bietet sich an, Rotorblätter als Ressource in der Baubranche zu nutzen und sie als Bauteile im Gebäudepark einzusetzen. Allerdings sind sie keine standardisierten Profile wie beim Stahlbau, die nach Jahrzehnten in einer Erstnutzung noch dieselbe Qualität aufweisen und deren Eigen­schaften bekannt sowie für statische Bemessungen abrufbar sind.

Der Stahlbau eignet sich ideal für eine Wiederverwertung in einer modernen Kreislaufwirtschaft. Zwar ist der Ressourcenverbrauch bei der Herstellung zunächst einmal vergleichsweise hoch, doch können Stahlprofile ohne Qualitätsverlust immer wieder recycelt werden, was letztlich zu einer Verringerung von Treibhausgasemissionen führt. In der Regel werden genormte Profile verwendet und die Stahlgüte ist ebenfalls bekannt, gut dokumentiert oder in einfacher Weise bestimmbar. Stahlprofile zeichnen sich durch ihre ausserordentliche Langlebigkeit aus. Aufgrund der guten Bearbeitbarkeit sind sie einfach wieder instand zu setzen oder zu reparieren.

Das Rotorblatt hingegen weist eine Sandwichbauweise in Verbundwerkstoff und in typischer Ab­folge Deckschicht-Kern-Deckschicht auf. In der Regel kommen Glas- oder Kohlenstofffasern als Fasermaterialien zum Einsatz, während Epoxidharze als gängige Kunststoffmatrix verwendet werden. Die Form der Blätter besteht aus zwei miteinander verklebten Halbschalen, die die aerodynamische Form des Blatts bilden und der Tor­sion entgegenwirken. Längs angeordnete faserverstärkte Gurte nehmen Zug- und Druckkräfte auf und wirken der Biegebeanspruchung entgegen. Die faserverstärkten Schichten im Rotorblatt sind zwar sehr zugfest, wegen der Schlankheit der Konstruktion aber auch anfällig für Biegen und Beulen. Deshalb wird zwischen den beiden Halbschalen im Kernbereich leichtes Balsaholz oder Schaumstoff eingebracht. Das stabilisiert die Wände des Rotorblatts. Schubkräfte werden über Stege im Innern des Querschnitts übertragen. Das Rotorblatt besteht somit aus einer typischen Verbundbauweise, die jeweils eine herstellerspezifische Geometrie und eine spezifische Materialzusammensetzung aufweist. Aufgrund seiner nicht genormten Zusammensetzung stellt es ein treffendes Beispiel für die Herausforderungen dar, die sich bei der Wiederverwendung und Integration solcher verschiedener Bauteile in eine künftige Kreislaufwirtschaft ergeben.

Zero Waste erst ab 2060

Die Industrie ist sich der Umweltbelastung durch den Entsorgungsprozess der Blätter durchaus bewusst und denkt über neue Materialien nach, die nicht wie bis­­her aus verklebten Kompositen wie Epoxidharz, Poly­­ur­ethan, Balsaholz und Polyester bestehen, sondern am Ende des Prozesses auf Zero Waste abzielen. Es wird beispielsweise bereits seit 2021 an vollständig recycelbaren Windturbinenblättern getüftelt. Der eingesetzte Verbundwerkstoff besteht bei diesen nach wie vor aus Harz und Glasfasern. Das Harz kann aber aufgrund von neuen Entwicklungen mit Thermoplasten als Matrix auf chemischem Weg wieder getrennt werden. Allerdings wird diese Technologie voraussichtlich erst um 2040 so weit ausgereift sein, dass sie für Rotor­blätter zum Einsatz kommen kann. Bei einer Nutzungsdauer der Rotorblätter von 20 Jahren bedeutet dies, dass diese bis 2060 weiterhin auf anderem Weg recycelt oder umgenutzt werden müssen. Aufforderung genug, um nach grossmassstäblicheren Verwertungskonzepten zu forschen (vgl. «Der Müllberg wird uns überfluten»). Allerdings müssen solche Bauteile für ihren Re-Use-Einsatz geprüft und bewilligt werden. Dafür braucht es Forschung und Versuche.

Vorher Effizienz, jetzt Sicherheit

Die Umnutzung von Rotorblättern aus Windkraft­­­an­lagen für statische Zwecke stellt eine Herausforderung dar. Diese Bauteile wurden nämlich ursprünglich entwickelt, um dynamischen Belastungen standzuhalten und Windenergie möglichst effizient umzuwandeln. Jetzt werden sie in einer neuen Rolle betrachtet, bei der ihre Hauptaufgabe darin besteht, Sicherheit und Stabilität von Bauwerken zu gewährleisten. Eine der zentralen Herausforderungen ist nun also, die Anforderungen an die Rotorblätter anzupassen. Während sie zuvor auf Effizienz und Leistungsfähigkeit mit maximiertem Wirkungsgrad im Windantrieb ausgelegt waren, liegt nun der Fokus auf konservativen Bemessungen, die höchste Sicherheitsstandards erfüllen müssen. Wenn ein Windrad einen Fehler aufweist oder Mängel auftreten, führt dies im schlimmsten Fall zu einer verringerten Energieerzeugung und verminderter Effizienz, und die Rotorblätter werden in der Regel ausgetauscht. Ist ein Rotorblatt hingegen als Bauteil in einem Gebäude statisch unzureichend, ist es nicht tragfähig und stellt ein grosses Sicherheitsrisiko für Menschenleben dar. Dieser Schwenk der Umnutzung erfordert eine Neubewertung der Bauteile und deren Eignung für statische Anwendungen.

Die Rotorspitze als Prüfkörper

Um die Machbarkeit dieser Umnutzung zu prüfen, wurden Untersuchungen durchgeführt, bei denen Rotor­blätter einerseits als Biegeträger fungierten und einem Vier-Punkt-Biegeversuch unterzogen wurden und andererseits Druckstäbe waren und Knickversuchen ausgesetzt wurden. Diese Tests sollten die Tragfähigkeit und Zuverlässigkeit der Rotorblätter in ihrer neuen Rolle als statische Bauteile bewerten, und es sollte aufgezeigt werden, ob überhaupt ein Potenzial für ihre Wiederverwendung vorhanden ist. Neben dem Widerstandsmoment standen vor allem die Steifigkeit der Verbundkonstruktion und die Art des Versagens im Fokus der Betrachtung.

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Das Rotorblatt wurde für den Versuch zunächst als Prüfkörper zugeschnitten und anschliessend schematisch aufgemessen. Der Versuch erfolgte an einem 3 m langen Flügelabschnitt. Die Auflager und Krafteinleitungspunkte wurden wegen der Anfälligkeit des loka­len Beulens mithilfe von grossflächigen Lastverteil­elementen aus Stahl ausgebildet. Diese folgten über eine Vergussmasse kraftschlüssig der Flügelform und verhinderten so ein durchstanzähnliches Versagen der filigranen Flügel.

Die beiden Vier-Punkt-Biegeversuche wurden bis zum Bruch mit einer Belastung von 0.05 mm/s durchgeführt, wobei sich der Verbundwerkstoffträger – wie zu erwarten war – äusserst verformbar zeigte. Der Bruch trat bei 89.3 mm beziehungsweise 96.7 mm und damit bereits bei gut einem Dreissigstel der Spannweite ein. Der Querschnitt versagte jeweils unter einem Last­einleitungspunkt bei 25.4 kN beziehungsweise 33.9 kN Auflast.

Die beiden Knickversuche erfolgten an einem 3.2 m langen Versuchskörper. Dabei wurde die Lasteinleitung wiederum mittels eines Betonvergusskörpers realisiert, den man 10 cm in den Versuchskörper versenkte. Weg­auf­nehmer befanden sich wie üblich an den Viertelspunkten und in der Mitte. Der Prüfkörper wurde stufen­weise belastet, wobei zweiminütige Belastungspausen eingehalten wurden, um allfällige plastische Verformungen beobachten zu können. Das Versagen trat zum ersten Mal bei einer Last von 339 kN ein, wobei ein lokales Ausknicken am Stützenkopf erkennbar war. Beim zweiten Versuch knickte die Stütze global bei einer Last von 427 kN aus.

Vielversprechend oder ernüchternd?

Die Ergebnisse der Untersuchungen waren relativ ernüchternd, insbesondere bezüglich der Verwendung von Rotorblättern als Biegeträger. Aufgrund der geometrischen Schlankheit und der individuellen Zusammensetzung des Sandwichprofils war im Prüfstand zu beobachten, dass das Versagen unter einer vergleichsweise grossen Verformung eintritt. So ist – im Unterschied zu duktilen Stahlbetonquerschnitten – kein Fliessplateau zu beobachten, sondern der Querschnitt verformte sich quasi-elastisch vor dem schlagartigen, also spröden Bruch. Es zeigte sich zudem, dass Anpassungen erforderlich sind, um die Rotorblätter effektiv in statischen Anwendungen einzusetzen. So gestaltet sich die Ausbildung der Auflagerbereiche bei Biege­trägern komplex, weswegen eine Verwendung im klassischen Hochbau als Deckenträger trotz des statisch widerstandsfähigen und vorhersagbaren Verhaltens aus tragwerkspezifischer Sicht fraglich erscheint.

Dennoch gibt es Potenzial für die Umnutzung von Rotorblättern, insbesondere wenn geeignete Lösungen entwickelt werden – als leichte Überdachungs- oder Verschattungselemente beispielsweise. Ausgediente Rotorblätter sollen auch in der Bergstation Crap Sogn Gion als Baumaterial eingesetzt werden (vgl. «Re-Use auf dem Crap Sogn Gion»). Beim bestehenden Bau auf 2252 m ü. M oberhalb von Laax soll nur wo nötig eingegriffen oder rückgebaut werden. Vielmehr soll der Bestand als Ressource erkannt und die Erweiterung als Bauteil-«Aufnehmer» betrachtet werden. In diesem Projekt dienen die Rotorblätter als Stützen, weil die Knickversuche gezeigt haben, dass relativ grosse Drucklasten aufgenommen werden können. Über weitere ­Versuche wäre ein Abminderungsfaktor für das Verbundprofil zu bestimmen. Alternativ könnte das Sicherheitsniveau durch eine additive Verwendung von mehreren Stütz­elementen in einer sternartigen Anordnung gesteigert werden. Der Krafteinleitungskopf müsste dann aber eine Lastumlagerung in ein benachbartes Element ermöglichen. Konstruktive, statische und gestalterische Aspekte sollten auf jeden Fall interdisziplinär angegangen, besprochen, aufeinander abgestimmt und präzisiert werden.

-> «Re-Use auf dem Crap Sogn Gion» – Projekte, die demontierten Rotorblättern zu einem zweiten Leben verhelfen, sind eine 2022 im irischen East Cork County errichtete Brücke, der 2017 erbaute Wikado Playground in Rotterdam oder die 2020 gebauten Velounterstände im dänischen Aalborg.

Die ausführliche Version dieses Artikelst ist erschienen in TEC21 36/2023 «Rotorblatt wird zum Bauteil».

Mehr zum Thema Kreislaufwirtschaft finden Sie in unserem E-Dossier.

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