«Ein biss­chen Kli­mas­chutz wird nicht rei­chen»

Engagiert sich der SIA genug für das Klima? Was kann die Baubranche zum Erreichen der Schweizer Klimaziele beitragen? Darüber sprechen Jakob Schneider, Architekt, Remo Thalmann, Ingenieur, Verein Countdown 2030 und Jörg Dietrich, Verantwortlicher Klima/Energie beim SIA.

Date de publication
01-11-2021

SIA: Wieso hängt ein Countdown-Zähler des Vereins Countdown 2030 im Schaufenster des SIA-Kurslokals?

Jörg Dietrich: Wie dringend das Thema Klimaschutz ist, ist noch nicht überall angekommen. Kosten- und Termindruck haben noch immer Priorität. Der Countdown zeigt, wie nah das Jahr 2030 ist. Der SIA setzt sich für den Klimaschutz ein. Daher hat er für den November den Themenmonat Klima ausgerufen. Mit Tagungen und Lehrgängen setzt er das Thema auf seine Agenda und gibt Countdown 2030, in dem sich auch viele SIA-Mitglieder engagieren, mit der Platzierung des Zählers eine Plattform.

SIA: Wieso braucht es den Verein Countdown 2030?

Remo Thalmann: Wir wollen allen am Bau Beteiligten klar machen, dass es höchste Zeit ist, unverzüglich Massnahmen zum Klimaschutz zu ergreifen. Ausserdem setzen wir uns für eine hohe Baukultur ein. Dafür braucht es klimapositive Städte, Gebäude und Infrastrukturen sowie eine grosse Biodiversität: Diese Voraussetzungen wollen wir aktiv mitgestalten.

SIA: Branchenverbände wie der SIA setzen sich ebenfalls für den Klimaschutz ein. Reicht ihr Engagement?

Jakob Schneider: Der SIA windet sich auch heute noch den anstehenden Klima- und Biodiversitätskollaps als solchen zu benennen. Er benutzt dafür das Wort «Klimawandel», welches das Phänomen beschönigt. Es geht um nicht weniger als den Fortbestand unserer Gesellschaft und die Lebensgrundlagen für die kommenden Generationen. Ein bisschen Klimaschutz wird nicht reichen, um das 1.5-Grad-Ziel zu erreichen. Wir dürfen uns nicht hinter dem vom Bundesrat definierten Ziel Netto-Null bis 2050 verstecken – im Wissen, dass dieser Absenkpfad nur die im Inland produzierten Emissionen umfasst und unser CO2-Budget bei weitem überstrapaziert.

SIA: Was sollte der SIA aus Ihrer Sicht tun?

Jakob Schneider: Er sollte einen Absenkpfad anstreben, der mit einer hohen Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein wird. Was der SIA heute als Ziel definiert, bewegt sich an der Grenze des politisch Machbaren. Es entspricht aus wissenschaftlicher Sicht nicht dem notwendigen Tempo.

Remo Thalmann: Der Bausektor ist träge und versteckt sich oft hinter Normierungen. Dort müsste der SIA proaktiv vorangehen und Leitplanken setzen, damit sich die Planenden in Richtung Netto-Null bewegen – und zwar in einem Zeitraum, welcher dem drohenden Klimakollaps sowie der Schweiz als internationales Vorbild und Wirtschaftsland gerecht wird.

Jörg Dietrich: Der SIA hat in seinem Positionspapier «Klimaschutz, Klimaanpassung und Energie» festgehalten, dass er hinter dem 1.5-Grad-Ziel steht. Das ist ein sehr ambitioniertes Ziel. Nicht alle sind sich bewusst, wie wenig Zeit uns bleibt und wie klein unser verbleibendes CO2-Budget ist. Normen zu verändern, ist ein langer Prozess – und der SIA hat hier schon viel getan. Die grauen Emissionen berücksichtigt er beispielsweise bereits im Effizienzpfad, aber in der Praxis wird er nicht umgesetzt. Das muss sich ändern.

SIA: Was ist Ihre Meinung zum SIA-Positionspapier?

Jakob Schneider: Beim SIA gibt es Stimmen, die sich seit den 70er-Jahren um eine gesellschaftliche Transformation zu mehr Nachhaltigkeit bemühen. Dass sich der SIA nach fünfzig Jahren dank der Klimabewegung zu einem Positionspapier durchringt und den Klimaschutz als strategisches Ziel definiert, ist erfreulich – und überfällig. Im Positionspapier werden aber zu wenige Vorschläge für politische Massnahmen genannt. Damit verpasst der SIA die Chance, eine aktive Position einzunehmen. Bezüglich der Aussagen zur Kreislaufwirtschaft, der Erzeugung erneuerbarer Energien und Klimaanpassung bei Hitzeinseln decken sich die Einschätzungen weitestgehend. Speziell lobenswert ist die Passage zu den Suffizienzprinzipien: «Klimaschutz und -anpassung sind nicht zuletzt eine Frage von Lebensstilen. Ein erhöhter Flächenverbrauch soll die Effizienzsteigerungen nicht zunichtemachen. Für eine tatsächliche Reduktion des Energiebedarfs ist Suffizienz entscheidend, insbesondere mit Blick auf die beanspruchte Siedlungsfläche oder die Art und Menge der Mobilität. Auch Komfortansprüche im Sommer und Winter sind zu überdenken und Vorgaben entsprechend anzupassen.» Der SIA sollte nun eine Strategie entwickeln, die sich am 1.5-Grad-Ziel orientiert (Netto-Null bis 2030), die notwendigen Instrumente zur Verfügung stellen – und deren Anwendung aktiv bei seinen Mitgliedern einfordern.

SIA: Wieso bleibt es in der Baubranche oft bei Lippenbekenntnissen?

Remo Thalmann: Das Portemonnaie drückt mehr als die gesellschaftliche Forderung, nachhaltig zu handeln. Dazu kommt, dass das nötige Wissen oft nicht bis in die Tiefe vorhanden ist.

Jakob Schneider: Das ist nicht nur im Bausektor so. Alle haben bisher davon profitiert, das Problem auf die kommenden Generationen abzuschieben. Leider handelt es sich beim Klimaschutz um ein sogenanntes «Wicked Problem», also ein Problem, das schwer und nicht abschliessend zu definieren ist. Das erschwert die Suche nach Lösungen. Wir können das Problem nicht nur innerhalb unserer Disziplin und auch nicht nur rein technisch lösen. Neben dem Erarbeiten von tragfähigen Lösungen in der Nische geht es darum, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern. Das kann mühsam sein, aber wir wollen gerade deswegen auf die Chancen und Potenziale hinweisen, die bereits heute im Alltag realisierbar sind.

SIA: Was müssen Planende besser machen, damit die Schweiz ihre Klimaziele erreicht?

Remo Thalmann: Wir müssen uns bewusstwerden, dass wir als Planende einen effektiven Beitrag zum Erreichen der Schweizer Klimaziele leisten können. Eigentlich können wir, Stand heute, schon viel mehr tun als derzeit oft geschieht. Aber damit nun zügig etwas in Bewegung kommt, müssen wir unser Ziel auf 2030 justieren.

Jakob Schneider: Kleine Massnahmen, die sich heute umsetzen lassen, haben in der Summe einen grösseren Effekt als sehr wirksame, die sich erst in zehn Jahren realisieren lassen. Das Wichtigste ist, diese Themen lustvoll in unseren Alltag zu integrieren. Wo ein Wille ist…

SIA: «Countdown 2030» spricht auf seiner Website von der «Neuerfindung der Moderne». Was ist damit gemeint?

Jakob Schneider: Unsere linearen Produktionsprozesse in kreislauffähige zu überführen, erfordert ein Umdenken, das einem Neuerfinden nahekommt. Wir können den Ehrgeiz der Planenden wecken und diese Krise als Chance verstehen, um gestalterische und gesellschaftliche Paradigmen über Bord zu werfen. Es braucht auch in der Architektur eine Debatte über eine Postwachstumsgesellschaft. Und es braucht mehr Mechanismen, die das Gemeinwohl fördern. Baukultur lässt sich nicht losgelöst weiterentwickeln – sie erfordert den Einbezug gesellschaftlicher Rahmenbedingungen.

SIA: Angenommen, Sie könnten ab morgen die Geschicke des SIA bestimmen: Was würden Sie verändern, um Netto-Null bis 2030 zu erreichen?

Remo Thalmann: Ich würde alle klimarelevanten Normen und Merkblätter frei verfügbar machen, um den Zugang zu diesem Wissen zu vereinfachen. Das wäre zudem ein klares Commitment, dass der Klimaschutz dem SIA wirklich ein zentrales Anliegen ist. Ausserdem würde ich die Normen «durchkämmen» und prüfen, wo Fehlanreize bestehen oder Schlupflöcher behoben werden müssen.

Jakob Schneider: Ich würde ein Klimalabel auf die Beine stellen, das ab sofort einen Netto-Null-Nachweis für alle Bauten ermöglicht und die so erstellten Bauten in einer nationalen Referenzsammlung aufbereiten und frei zur Verfügung stellen. Mit der Klimaoffensive Baukultur und dem Klima Atlas der ZHWA gibt es dafür erste Ansätze.

SIA: Und wie würde die Schweizer Klimapolitik mit Ihnen als Bundesräten aussehen?

Jakob Schneider: Dann würde ich alle Gebäudelabels wieder abschaffen (lacht) und einen Absenkpfad bis Netto-Null 2030 vorgeben, sprich den Import von fossilen Energieträgern mittels «Cap and Dividend» kontinuierlich reduzieren und die Transformation sozialverträglich abfedern, inklusive notwendiger Grenzanpassungsmechanismen bezüglich CO2-Preise.

Remo Thalmann: Als Erstes würde ich einen Absenkpfad auf Deponiegütern definieren sowie entsprechende Gebühren festlegen und damit Anreize für die Kreislaufwirtschaft schaffen. Und ich würde das CO2-Gesetz, in einer etwas anderen Form, zeitnah wieder aufs Tapet bringen.

Jörg Dietrich: Ich würde ebenfalls auf einen verbindlichen Absenkpfad setzen. Ab 2050 dürfen in der Schweiz keine fossilen Brennstoffe mehr verwendet werden. Die technischen Lösungen dafür sind vorhanden. Nun müssen wir sie umsetzen.

SIA-Themenmonat Klima und Countdown 2030


Der November 2021 steht beim SIA im Zeichen des Klimas. An mehreren Tagungen und in Lehrgängen werden Massnahmen zum Klimaschutz diskutiert. Weitere Informationen und Anmeldung: https://events.sia.ch/themenmonat-klima/themenmonat-klima


Als Zeichen des Themenmonats Klima hängt im Schaufenster des SIA-Kurslokals an der Manessestrasse in Zürich der «Countdown 2030»: Rot auf schwarz zeigen die Ziffern auf die Sekunde genau, wie lange es noch bis zum Ende des Jahres 2029 dauert. Der Countdown 2030 ist namensgebend für den Verein Countdown 2030. Seine Mitglieder sind Architekturschaffende, welche die Auswirkungen ihres beruflichen Handelns auf den Klimawandel den Planenden bewusst machen möchten. Sie fordern, dass die Schweiz bis 2030 Netto-Null erreicht.

 

Weiterführende Informationen:

 

Countdown 2030:

https://countdown2030.ch/

 

SIA-Positionspapier «Klimaschutz, Klimaanpassung und Energie»: https://www.sia.ch/de/politik/klimaschutz-klimaanpassung/

 

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