Der Stadt-Land-Gra­ben wurde über­rollt

Abstimmungsanalyse nach dem deutlichen Ja zum Fonds für die Nationalstrassen und den Agglomerationsverkehr

Das Ja zum Fonds für die Nationalstrassen und den Agglomerationsverkehr ist kein visionärer Entscheid sondern zementiert den Status-Quo im Strassenbau. Bestehende und künftige Engpässe oder Nadelöhre sollen baulich, durch zusätzliche Röhren und breitere Strassen, aus der Welt geschaffen werden.

Date de publication
15-02-2017
Revision
16-02-2017

Die Neue Zürcher Zeitung besitzt hellseherische Fähigkeiten. «Die Schweiz braucht Visionen», schrieb sie einen Tag vor dem letzten Abstimmungssonntag. Und siehe da; das Stimmvolk denkt ebenso. Sie schickte die Steuerreform an der Urne bachab und nahm dagegen die Einbürgerungsrevision an. Beide Beschlüsse sind jedoch ähnlich motiviert: Die Bevölkerung entschied sich gegen kleinkrämerische, engstirnige Vorlagen und vor allem dagegen, den bisherigen Zustand, etwa in der Steuerpolitik, faktisch weiterzuführen. Wie die «alte Dame» vom Falkenplatz schon vor dem Verkünden der Abstimmungsresultate wusste: Einfach so weiter wie bisher, entspricht keinem automatischen Reflex. Nein, die Schweizerinnen und Schweizer liebäugeln immer öfter damit, eine weltoffenere und wegweisendere Perspektive für die Zukunft anzustreben.

 Verkehrspolitischer Status-Quo

Die Rolle als Ausnahmefall scheint die Verkehrspolitik zu spielen. Denn das Ja zum Fonds für die Nationalstrassen und den Agglomerationsverkehr ist kein visionärer Entscheid sondern zementiert den Status-Quo im Strassenbau. Die Verkehrsinfrastruktur soll konzeptionell so wie bisher weiterentwickelt werden: Bestehende und künftige Engpässe oder Nadelöhre werden baulich, durch zusätzliche Röhren und breitere Strassen, aus der Welt geschaffen. Die in Aussicht gestellten, aber im Einzelnen noch nicht beschlossenen Ausbauprojekte provozieren kaum Widerstand.

Ebenso wenig wurde das Leistungsvermögen des Autobahnnetzes hinterfragt, obwohl die langjährige Erfahrung sagt: Früher oder später wird jeglicher Strassenausbau durch steigende Frequenzen überholt und heute ausreichende Kapazitäten werden langfristig überlastet sein. Selbst im Vorfeld der Abstimmung blieb die sonst ideologisch schnell aufgeladene Verkehrsdebatte bemerkenswert lau. Entgegen dem NZZ-Kommentar sucht man für die mobile Zukunft der Schweiz noch keine Vision, sondern weiterhin freie Fahrt.

Ohne das Auto oder den Individualverkehr an den Pranger zu stellen, wäre jedoch langsam eine Debatte über die Folgen zusätzlicher Autobahnen und schnellerer Verbindungen angebracht. Kulturlandverbrauch, Zersiedelung und auch der  Energiekonsum sind Themen, die mit den täglichen Verkehrsströmen eng verbunden sind. In Städten, Agglomerationen und auf dem Land ist vielen längst klar, dass die individualisierte Mobilität überbordet, schädliche und störende Emissionen produziert und allein der Unterhalt von Strassen den Kampf um öffentliche Finanzen weiter anheizen wird.

Eine nachhaltigere Raumnutzung zu fordern, gehört auf nationaler und kantonaler Ebene inzwischen zum guten Ton. Frei über die Widersprüche zwischen einem ungesteuerten Verkehrswachstum und der Siedlungsentwicklung nach innen wird jedoch erst in Fachkreisen oder im Raumplanungslehrgang gesprochen. Auf der politischen Bühne und am Stammtisch ist darüber meist wenig zu erfahren. Das eindeutige Votum für mehr Strassen vom 12. Februar überrascht daher nur bedingt. Die motorisierten Pendler möchten verständlicherweise nicht mehr jeden Tag, morgens und abends, weiterleiden. Und die Regionen, die bisher noch keinen Autobahnanschluss besitzen, warten schon lange auf den wirtschaftlichen Zusatzimpuls. Mit dem Finanzierungsfonds ist nun jedoch ein Wettstreit um regionale Verkehrsprojekte lanciert. Ob die Verkehrszukunft nicht auch andere Diskussionen nötig hätte; diese zentrale Frage scheint derzeit obsolet.

Wichtige Investitionen

Auch der zweite Blick auf das Abstimmungsverdikt verblüfft: Weder der Röstigraben noch das Stadt-Land-Kliff haben die Verkehrsvorlage aufgehalten. Ein Jahr zuvor war über die zweite Gotthardröhre abgestimmt worden. Damals waren Genf und die Waadt, als einzige Stände überhaupt, dagegen; und weil städtische Regionen generelle Skepsis gegen Strassenausbauten zeigen, war der Nein-Stimmenanteil in Basel und Zürich erhöht.

Diesmal standen auch urbane Kreise, angeführt vom Städteverband, für den Nationalstrassenfonds ein. Grund dafür war, dass eben auch Geld für die stadtnahe und innerstädtische Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung gestellt werden soll. Solche Investitionen sind sicher richtig. Und wichtig ist vor allem, dass hier über das einzelne Transportmittel hinaus gedacht werden kann. Trotzdem bleibt der Eindruck, dass der Fokus auch in einigen Agglomerationen zu wenig auf nachhaltige Lösungen gerichtet ist und von allem etwas, also Strassen, Trams und Velowege, ausgebaut werden darf. Die Verkehrspolitik der letzten Jahre ist ideell blockiert und bewegt sich von Kompromiss zu Kompromiss, weil auf allen staatlichen Ebenen der Konsens für eine gemeinsame Richtung fehlt. Jeder aufgehobene Parkplatz und jede geplante Tempo-30-Zone wird mit Einsprachen und Rekursen bekämpft. Und selbst links regierte Städte scheuen sich davor, die Verkehrsflut mit Road-Pricing-Modellen zu dämpfen - weil zumindest kurzfristig hartnäckiger Widerstand erwartet wird.

Das Ja zum Finanzierungsfonds war deutlich. Dennoch kann es so nicht weitergehen: Die Vision für eine nachhaltige, mobile Zukunft der Schweiz wird daher noch zu entwickeln sein.

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