«Die Trä­gheit löst hier ei­nige Pro­bleme»

Anergienetz wird zum Stand der Technik

An der ETH Hönggerberg Zürich benötigen 10 000 Personen jährlich 27 GWh Wärme und 16 GWh Kälte. Zur Deckung wird das Anergienetz seit 2013 laufend ausgebaut. Zwei beteiligte Planer berichten von ihrer Arbeit.

Date de publication
20-08-2015
Revision
22-11-2015

Herr Gautschi, Herr Häusermann, Sie haben das thermische Netz der ETH Zürich am Hönggerberg geplant. Welchem Zweck dient es? 
Gautschi: Die bestehende Heizzentrale der ETH war abzulösen, weil der Heizkessel saniert werden musste. Es kam die Frage auf, wie die Energieversorgung am Hönggerberg in Zukunft aussehen kann. Ziel war, die CO2-Emissionen bis 2020 um 50 % zu reduzieren. Über verschiedene Varianten wurde das realisierte Anergienetz entwickelt. Anergie ist Energie, die nicht direkt eine Arbeit verrichten kann. 

Ein Wärmenetz auf niedrigen Energieniveau. 
Gautschi: Genau. Wasser in Form von 8 bis 20 °C wird erst durch eine Wärmepumpe veredelt. Auf der Kälteseite stimmt der Begriff Anergie physikalisch nicht, denn man kann mit kaltem Wasser direkt kühlen. Anergienetz war ein Übungstitel, im Markt spricht man sonst von kalter Fernwärme. 
Am Hönggerberg haben wir eine thermische Ver­netzung, bei der wir die Gebäude über diesen ­Veredelungsprozess heizen, aber auch direkt kühlen. Die Synergie liegt in der Prozesskälte, der Labor­kälte und der Klimakälte, die über dieses Netz produziert werden. 

Es gibt dort gleichzeitig Kälte- und Wärmebedarf. 
Gautschi: Teilweise gleichzeitig, teilweise auch saisonal verlagert. Gerade im Sommer brauchen wir vor allem Wasser, um Klimakälte zu produzieren. Zugleich können wir so die Erdspeicher für die Übergangszeit und den Winter regenerieren. Derzeit gibt es drei von voraussichtlich fünf Erdspeichern. 

Momentan existiert ein einzelner Ring, an dem alle drei Speicher angeschlossen sind. Ein lineares oder sternförmiges Netz stand nie zur Diskussion? 
Gautschi: Nein. Wir hatten den Vorteil, dass wir bereits einen Energiekanal hatten, der kreisförmig unter diesem Areal durchführt. Es gibt eine Ringleitung im Energiekanal, an der alle Speicher und Energiecluster angehängt sind. Sie sind völlig dynamisch und offen, nicht Gebäuden zugeordnet. 

Läuft das Ringnetz bidirektional? Und wie viele Leitungen gibt es für die Temperaturniveaus? 
Gautschi: Ja, bidirektional. Eigentlich ist es ein Zweileiter, aber wir haben einen dritten Leiter als Korrekturleiter eingeplant. Ganz am Anfang war das Thema, dass wir Abwärme auf sehr hohem Temperaturniveau direkt in die Kältezentrale bzw. zum Rückkühler bringen, wo die Abwärme vernichtet wird. Wir wollten diese hohen Abwärmen nicht im Zweileiter, weil die Temperaturschichtung zerstört würde. Und der Ring hat hydraulisch grosse Vorteile. 

Was sind diese Vorteile? 
Gautschi: Wir können den Druckverlust halbieren. Und eine allfällige Erweiterung ist ­einfacher. Wenn wir andere Stadtteile versorgen würden, sähen wir nicht einen grossen Ring, sondern eher einzelne Arealringe, die mit anderen Arealringen vernetzt werden, wie eine Kette. 

Das wäre dann ein vermaschtes Netz.
Gautschi: Genau das ist jetzt Thema bei einem grösseren Netz: bei der Familiengenossenschaft am Fuss des Uetlibergs in Zürich. 

Um auf die hydraulischen Vorteile zurückzukommen: der Druckverlust halbiert sich, weil ein Fluss in beide Richtungen möglich ist. 
Gautschi: Das ist der eine Vorteil. Der andere Vorteil ist die Redundanz. Wenn wir irgendwo ein Problem hätten, eine undichte Leitung, dann könnten wir einseitig versorgen. 

«Es geht darum, die Technologien zu verbinden, die Hydraulik besser zu verstehen und die Hilfsenergie der Pumpenströme zu optimieren.» Marc Häusermann 

Gibt es für dieses Energienetz ein Monitoring? 
Gautschi: Aus dem Monitoring werden circa monatlich die Daten ausgelesen und dann beurteilt. Diese Daten werden in weitere Systeme und auch in die Entwicklung des Anergienetzes einfliessen. 
Häusermann: Die Komponenten sind gut erforscht. Es geht darum, die Technologien zu verbinden, die Hydraulik besser zu verstehen und die Hilfsenergie der Pumpenströme zu optimieren. 

Wie löst man Probleme in der Hydraulik – gerade bei Bidirektionalität? 
Häusermann: Wir geben die Strömung nicht vor. Das Wasser sucht sich den Weg des geringsten Widerstands, und so ergeben sich die Strömungen. Regeln wollen wir das nicht. Wenn eine Zentrale Wasser braucht, holt sie es sich. Es ist nicht vorge­geben, woher es kommt. Wenn zum Beispiel eine Zentrale im Heizbetrieb ist und eine im Kühlen, dann kommt die Wärme direkt von der Zentrale, die kühlt. 

Wie sieht es denn mit den Drücken und Geschwindigkeiten im Netz aus? 
Gautschi: Das Anergienetz ist ausgelegt auf maximal 1 m/s, da wir dann sehr wenig Druckver­luste haben. Vor allem die Anschlussleitung und die Erdsonde generieren Druckverluste, wie bei einem kleineren konventionellen System. 

Häusermann: Wir haben zwar relativ geringe Geschwindigkeiten, aber für die grosse Wassermenge grosse Pumpen. Eine Erkenntnis aus dem Betrieb war, dass wir die Pumpen sehr langsam hochfahren, um keine Druckschwankungen im Netz zu erzeugen. 

Die Druckverluste können auch zu Kavitation führen. Wenn der Verdampfungspartialdruck unterschritten wird, bilden sich Dampfbläschen, die die Pumpen zerstören können, wenn sie schlagartig kollabieren. 
Häusermann: Zu Beginn war der Systemdruck auf 4 bar. Verschiedene Tests unter Extrembedingungen haben gezeigt, dass bei gewissen hydraulischen Konstellationen Kavitation auftreten kann. Kurz­fristig konnte das Problem mittels leicht höherem Systemdruck stabilisiert werden. Mittlerweile sorgt der Energiemanager dafür, dass die einzelnen Cluster nicht auf Spitzenlasten gefahren werden. Kavitation konnte durch die eingeleiteten Massnahmen seither nicht mehr nachgewiesen werden. 

Wie funktioniert die Mess-, Steuer- und Regelungstechnologie des Systems und des Energiemanagers? 
Gautschi: Die Zusammenarbeit mit der ETH ist da sehr gut. Der Energiemanager schaltet die Pumpen möglichst nicht gleichzeitig ein, um Spitzen zu vermeiden, weil es bei den Wärmepumpen hydraulisch ein Problem gäbe, wenn sie in Unterdruck gingen. Überraschend war, dass wir am Anfang schneller als erwartet in Betrieb gekommen sind. Wir hatten bei den Inbetriebnahmen mit grösseren Problemen gerechnet, als das wirklich der Fall war. 

Häusermann: Die Trägheit löst hier auch einige Probleme. Allein in der Ringleitung sind rund 600 Kubikmeter Wasser. Das ist eine riesige Speichermasse, die wir verwenden können. Zu Beginn wollten wir zu viel regeln. Wir regeln jetzt weniger, und das System wird dadurch um einiges stabiler. 

Das Netz hat im aktuellen Ausbaustand eine Ring­leitung und drei Zentralen. Wie geht es weiter? 
Gautschi: Der Ring hat den Endausbau erreicht und wird nicht mehr erweitert. Es werden sicher zwei weitere Cluster angehängt und wahrscheinlich zwei Erdspeicher. Aktuell ist in Diskussion, dass wir zusätzlich mit einer Transitleitung einen Teil von Affoltern versorgen. Wir haben den Ring nur in einem Ausnahmefall erweitert: für den Bereich HW (studentisches Wohnen am Hönggerberg).

Häusermann: Der Grund war, dass wir an diesem Standort eine Zentrale und einen Erdspeicher haben und keine zwei Komponenten einander direkt zuordnen wollen. Das heisst: Die Ringleitung wurde verlängert, sodass auch dieser Erdspeicher im
Heizbetrieb sein kann, während die Zentrale kühlt. Sie werden sich nicht gegenseitig beeinflussen. 

Wenn eine neue Komponente, ein Cluster oder Ähn­liches angeschlossen wird, ändert sich wieder alles. Es resultiert entweder ein höherer Kälte- oder Wärme­verbrauch als davor. 
Gautschi: Es ist wichtig, dass der Energie­manager die verschiedenen Zentralen untereinander koordiniert. Das System ist in dieser Hinsicht sehr flexibel.

Häusermann: Die Bilanz müssen wir kontrollieren. Es macht keinen Sinn, nach einem Jahr schon auf Tendenzen zu reagieren, das System ist sehr träge. 

Über die Jahre sollten Energiebedarf und -eintrag ungefähr gleich sein. Wie würden Sie reagieren, falls die Sonden das Erdreich langsam abkühlen? 
Gautschi: Dann braucht es einen Plan B, zum Beispiel weitere Quellen, die man einbeziehen kann. Oder man reduziert die Entnahme aus dem Netz. Oder man versucht, im Sommer hohe Temperaturen in den Erdspeicher einzulagern. Bei der ETH haben wir eher das Problem, dass die Abwärme jedes Jahr zunimmt. 

Heisst das, Sie könnten das Erdreich aufwärmen? 
Gautschi: Ja. Deshalb versuchen wir, weitere Nutzer ans System zu hängen, um eine saisonal verlagerte Kühlmaschine zu erwirken. 

Häusermann: Wir möchten am Ende der Heizperiode ein kaltes Netz, damit wir die Kälte im Sommer zur Kühlung einsetzen können. Und am Sommerende möchten wir wieder ein warmes Netz, damit die Wärmepumpen mit guten Wirkungsgraden laufen. Diese Schwankung ist gewollt. 

Was war das Spannendste an dem Projekt? 
Gautschi: Etwas Neues entwickeln zu dürfen. In der Strategieentwicklung waren wir völlig frei. Es war sehr spannend zu schauen, mit welcher Software wir das berechnen könnten, weil es auf dem Markt nichts gab. Wir sind dauernd daran, verschiedene Ansätze zu konsolidieren, um dann wirklich einmal ein funktionierendes Programm zu haben, mit dem wir Gesamtsysteme simulieren können.
Heute kann man Speicher und Ringleitungen simulieren, aber die Bidirektionalität, die Dynamik ist nicht ganz einfach abzubilden.
Wir glauben, dass wir auch in Zukunft die Flüsse im Anergienetz selbst nicht genauer simulieren müssen. Wichtig sind der Druckverlust und die Grösse der Erdspeicher, wie auch der dynamische Abgleich der verschiedenen Cluster, inklusive der richtigen Dimensionierung der Pumpenanlagen. Da reden wir nicht von klar definierten Betriebs­kennlinien, sondern es gibt einen Bereich, in dem die Pumpe funktionieren muss (vgl. «Maschen und Knoten»).

«Mit diesem System haben wir die Möglichkeit, die Wärme zu verlagern und dann zu verwenden, wenn sie gebraucht wird». Marc Häusermann 

Häusermann: Es ist spannend, wenn man auf einem Areal mit einer so hohen Energiedichte Wärme und Kälte benötigt. Mit diesem System haben wir die Möglichkeit, die Wärme zu verlagern und sie dann zu verwenden, wenn sie gebraucht wird.
Wir haben unterschiedliche Temperaturniveaus und können sie so kombinieren und vernetzen, dass wir ihr Potenzial maximal ausnutzen. Und jetzt haben wir Monitoringdaten aus zweieinhalb Jahren, die nachweisen, dass das System vielleicht sogar noch besser funktioniert als berechnet. 

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