«Wir Tes­si­ner brau­chen eine Vi­sion»

Gespräch mit Michele Arnaboldi über die Zukunft des Tessins

Die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels rückt näher. Aus Sicht des Architekten Michele Arnaboldi ist die Südschweiz darauf nicht vorbereitet. Er fordert eine umfassende Planung, die in konkrete Projekte mündet.

Date de publication
06-08-2015
Revision
22-11-2015

TEC21: Herr Arnaboldi, inwiefern beschäftigen Sie sich mit dem Projekt der neuen Alpentransversale am Gotthard?
Michele Arnaboldi: Über Alptransit – so wird das Projekt hier oft genannt – spricht man im Tessin seit vielen Jahren. Vor fünf Jahren wurde an der Akademie für Architektur in Mendrisio das Labora­torio Ticino gegründet. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 65 «Neue urbane Qualität» untersuchten wir die Siedlungsentwicklung von Biasca bis Chiasso aus der Sicht von Landschafts­planung, Städtebau und Verkehr. Dabei spielten natürlich der Gotthard-Basistunnel und die neue Alpentransversale eine entscheidende Rolle.

Beginnt mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels ein neues Kapitel im Tessin?
Für das Tessin auf alle Fälle. Die grossen Infrastrukturprojekte führten immer durch den ganzen Kanton bis nach Chiasso. Zuerst kam die Bahn, 1980 dann die Autobahn und nun Alptransit.

Warum wird Alptransit ein Meilenstein fürs Tessin?
Im Tessin befinden wir uns zwischen Mailand und Zürich. Wir können in 90 Minuten in Zürich sein, in weniger als einer Stunde in Mailand. Durch die verkürzten Reisezeiten wird die Bindung an Zürich stärker werden. Immer mehr Leute aus der Deutschschweiz kommen ins Tessin, Tessiner können eventuell in Zürich arbeiten. Oder sie kommen zurück und arbeiten teilweise in Zürich. Wir sehen das bei unseren Kunden, für die mein Büro Einfami­lienhäuser plant. Deutschschweizer möchten im Tessin wohnen und während der Woche vielleicht zwei Tage in Zürich sein. Im Süden dasselbe: Im Moment kaufen Italiener in Lugano viele Wohnungen. Die Preise steigen.

Macht sich die Tessiner Bevölkerung wegen dieser Entwicklung Sorgen?
Niemand weiss, was die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels bringen wird. Mehr Menschen? Noch mehr Verkehr? Mehr Transport und Logistik? Oder wird die Entwicklung auch mit mehr Lebensqualität einhergehen? Ursprünglich sollte Bellinzona umfahren werden. Aber nun fahren alle Personen- und Güterzüge auf der alten Linie durch die Stadt. Dasselbe in Lugano. Und das ist bezüglich der Lärm­emissionen ein grosses Problem, wahrscheinlich grösser, als man meint.

Von der ursprünglichen Linienführung ist man, wohl auch aus finanziellen Gründen, abgewichen. Haben wir nur ein halbes Projekt?
Im Moment schon. Ab Biasca fahren die Züge wieder langsamer. Auf Dauer kann das nicht so bleiben, aber die nächsten 30 Jahre werden wir mit dem Verkehr durch die Hauptzentren leben müssen. Offen ist, ob sich die europäische Transportpolitik ändert. Eine mögliche Folge könnte sein, dass weniger Güter auf der Gotthardachse transportiert werden als ursprünglich angenommen. Doch nicht nur Alptransit wird das Verkehrssystem des Tessins ändern, sondern auch das regionale S-Bahn-Netz Tessin–Lombardei (Tilo). Im Viertelstundentakt erreichen wir ab voraussichtlich 2018 oder 2019 alle Zentren. Tilo ist zurzeit innerkantonal wichtiger als der Gotthard-Basistunnel.

2012 sagten Sie an einem Vortrag: Die neue Alpentransversale wird viel verändern im Tessin, viele Fragen sind offen, und das Tessin ist nicht vorbereitet. Sehen Sie das immer noch so?
Ja, leider. Schauen Sie nach Visp. Dort hat sich mit der Eröffnung des Lötschberg-Basistunnels viel getan. Viele Leute arbeiten in Bern, wohnen aber im Wallis. Die Arbeitsplatzsituation kam in Bewegung, Industriebetriebe haben sich angesiedelt (vgl. Kasten unten). Mit der besseren Anbindung und den schnel­leren Verbindungen in die Zentren wird auch das Tessin attraktiver. Aber es gibt Probleme in der Planung.

Wer müsste sich in der Planung mehr einbringen? Wer könnte Impulse geben?
Wir brauchen zuerst eine Vision. Das Problem im Tessin ist: Man hat Angst vor Visionen. Die Visionen können städtebaulich sein, oder es können Pro­jekte sein. Man hat Angst vor Projekten, weil man nicht daran glaubt, damit etwas verändern zu können. Aber konkrete Projekte sind für mich der einzige Weg. Selbstverständlich mit einer präzisen Richt­planung. Ich kritisiere, dass wir keine konkreten Schritte machen. Das Tessin ist passiv. Wir warten ab. Das Grundproblem aber ist, dass wir keine Ideen und Modelle haben. Keine Vision.

Was macht denn die Planung so schwierig?
Ich bin der Meinung, ohne Entwurf kann man nicht planen. Architekten und Raumplaner müssen zusammenarbeiten, denn es gibt viele Gesetze und Vorschriften. Heute geht die Planung leider immer mehr in Richtung Gesetz und Verwaltung – es ist keine räumliche Planung, nicht kreativ. Aber wir müssen mehr Qualität im Raum anstreben. Natürlich muss bei einem guten Projekt die Ökonomie stimmen. Das ist aber nicht mit Spekulation zu verwechseln. Im Tessin ist Ökonomie oft Spekulation. 

Wieso kommt es zu keiner Debatte? Hat man im Tessin an zu vielen Fronten zu kämpfen?
Ich habe den Eindruck, im Tessin will man nicht zu viele Probleme auf dem Tisch haben, und dabei haben wir so viele, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt. Die Italiener arbeiten für weniger als 2000 Euro als Architekten in einem Büro. Das ist unsere Realität. Deswegen sind wir natürlich besorgt und auch kritisch. Die Situation ist sehr ernst. 

 

«Im Tessin gibt es keine städtebauliche Planung; eine solche Kultur muss sich erst entwickeln.»

Das Tessin ist diesbezüglich sehr exponiert.
Das ist so. Und ich glaube, die Schweizer Politik und Bern sind zu weit weg. Sie nehmen uns nicht ernst. Etwas stimmt nicht. Trotzdem könnte man Visionen haben. Das ist auch eine kulturelle Frage. Im Tessin gibt es keine städtebauliche Planung; eine solche Kultur muss sich erst entwickeln.

Die ganze Energie wird durch die Alltagsprobleme absorbiert. Man hat keine Kraft mehr für Visionen …
Die Tessiner stehen immer alle in Konkurrenz zueinander. Das ist ein grosses Problem. Jedes Dorf, jede Stadt streitet, in den Agglomerationen ist es schwierig. Wahrscheinlich klappt es jetzt in Bellinzona. Wenn die 17 Gemeinden zu einer Grossgemeinde fusionieren, dann könnte man vernünftig planen. Der Kanton sollte die Planung der Gemeinden stärker koordinieren, damit sich eine Città Ticino entwickeln kann, die diesem Namen auch gerecht wird. 

Das ist nicht nur ein Tessiner Problem.
Ja, das habe ich an der Schlussveranstaltung des NFP 65 in Solothurn auch gehört («Der Weg zu mehr Raumgeborgenheit»). Meiner Meinung nach entwickelt sich aber Zürich zum Beispiel gut. Die Stadt führt Wettbewerbe durch, realisiert schöne Projekte und arbeitet mit guten Architekten zusammen.

Gibt es keine konkreten Beispiele im Tessin?
Kürzlich haben wir die Planung für ein Spital in Giubiasco abgeschlossen. Die Spitäler befinden sich an Orten, die nicht mehr weiter entwickelt werden können. Bei Giubiasco könnte ein neues Quartier entstehen. Solche Projekte geben einen Überblick über die Möglichkeiten. Wir sollten Ideen und Projekte entwickeln, statt zu streiten. Mein Büro konnte vor wenigen Wochen ein Projekt in Minusio bei Locarno vorstellen. Zwischen den historischen Kernen ist dort alles überbaut; die Planung hat hier wie an vielen Orten versagt. In Minusio könnte es eine neue Tilo-Station geben, und das Gebiet des Bahnhofs am See könnte dann entwickelt werden. Den Bächen entlang würden Wege in die Täler hineinführen. Aber die Politiker haben aus irgendwelchen Gründen Angst vor solchen Projekten und lehnen sie ab. Die Bevölkerung hat das nun realisiert. Vielleicht kommt Bewegung in die Sache. 

 

«Wenn eine neue Verkehrsinfrastruktur geplant wird, sollte man die Chance nutzen und die Landschaft neu formen.»

Noch einmal zurück zur neuen Eisenbahnverbindung. Wo sieht man die Spuren in der Landschaft am deutlichsten?
In Erstfeld und Biasca bei den Portalen. Die Eingriffe dort zeichnen sich durch eine hohe Qualität aus. Die Projekte von Flora Ruchat geben dem neuen Bahntunnel ein Gesicht. Sie war eine Schülerin von Rino Tami, der von 1963 bis 1978 das Konzept für die Autobahn A2 und ihre Kunstbauten im Tessin erarbeitete. Die Autobahn ist eines der schönsten Projekte, das es im Tessin gibt. Wenn eine neue Verkehrsinfrastruktur geplant wird, sollte man die Chance nutzen und die Landschaft neu formen. Tami hat es geschafft, die Konstruktionen der Autobahn auf eine gute Art in die Landschaft einzubetten.

Gut sichtbar ist auch die neue Brücke bei der Zufahrt zum Ceneri-Basistunnel in der Magadinoebene. Warum hat man sich für diese einschneidende Lösung entschieden?
Die Bahnlinie musste Autobahn und Kantonsstrasse überqueren. Mit der heutigen Lösung wäre eine Stazione Ticino immer noch möglich, wenn später einmal die Bahnumfahrung Bellinzona gebaut werden sollte. Im Kreuzungspunkt mit der alten Bahnlinie würde dann ein neuer kantonaler Bahnhof entstehen. 

Dann wäre aber eine gute Planung nötig. Ist die Magadinoebene ein Beispiel, wo man deutlich erkennt, dass die Planung Mühe hat?
Nicht nur, aber man sieht das dort schon sehr gut. Die Siedlungen beanspruchen immer mehr Landwirtschaftsland, am schönsten Ort in der Ebene am Ufer des Ticino hat man Abfälle zu einer Pyramide aufgeschichtet. Zum Glück gibt es eine neue nationale Strategie und keine neuen Bauzonen. Sonst würden wir einfach immer weitermachen.

Die Mängel der Planung reichen weit zurück. Wird es nach der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels noch mehr Druck geben? Wo sind Veränderungen zu erwarten?
Ein Thema wird die Verdichtung von bestehenden Orten sein. Der Bahnhof in Giubiasco wird beispielsweise an Bedeutung gewinnen. Das gilt für alle Tilo-Stationen. Die Bahnhöfe und ihre Umgebung müssen eine eigene Identität bekommen. 

Sie haben gesagt, bei den Wohnungen und Häusern sei die Nachfrage gestiegen. Ist das eine Chance? Führt das auch zu Problemen?
Die Zweitwohnungsinitiative hat den Boom etwas gedämpft. Zum Glück. Wir können unseren Kanton nicht einfach verkaufen. Die Preise gehen in die Höhe, auch für die Tessiner. Das könnte in den Städten zu Problemen führen. Wir haben die gleichen Preise wie in Zürich. Für die Tessiner Familien ist das schwierig; immer mehr ziehen in die nahe gelegenen Täler. Das ist aber nicht nur schlecht, so bekommen die Täler neuen Schwung.

Aber dann braucht es eine Anbindung der Täler an den öffentlichen Verkehr.
Unbedingt. Es ist nicht sinnvoll, dass wir Tilo haben, aber keine Anschlussverbindungen mit Bussen.

Was wäre zu tun, damit die neue Verkehrsverbindung dem Tessin auch wirklich einen Nutzen bringt?
Wir sollten von der Lage zwischen der Deutschschweiz und Mailand profitieren. Italien hat aktuell zwar Probleme, aber die Lombardei und das Piemont produzieren viel. Das Tessin kann sich entwickeln. Wir brauchen mehr Innovationen. Auch der Tourismus hat ein grosses Potenzial, aber man muss ihn neu erfinden. Wir klagen immer wieder, es kämen weniger Gäste, aber unsere Struk­turen sind seit 50 Jahren gleich geblieben.

Die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels wird im nächsten Jahr in der ganzen Schweiz ein Thema sein. Könnte das die Landesteile stärker verbinden und sich positiv auf ihr Verhältnis auswirken?
Ich glaube schon. Ich finde es schön, wenn wir in 90 Minuten in Zürich sind. Das tut uns Tessinern gut, denn die Tessiner Kultur ist – auch aufgrund der geografischen Lage – etwas abgeschlossen. Der neue Basistunnel bricht diese geografische Lage auf.

Erwarten Sie, dass in den nächsten Monaten die Diskussionen im Tessin zunehmen werden?
Ich hoffe es sehr. Denn ich habe immer das Gefühl, wir schlafen. Das ist das Schlimmste. Man muss vorbereitet sein. Wir wissen nicht genau, was passiert. Aber mindestens ein paar Ideen sollten wir haben. Und auch ein paar Antworten.


Wie sich der Bau des Lötschberg-Basistunnels auswirkt

Der Bau des Lötschberg-Basistunnels hat den Nutzen für die Verkehrsteilnehmenden gesteigert. Grösster Nutzniesser war erwartungsgemäss der Kanton Wallis. Etwas überraschend beschränkte sich das Wachstum nicht nur auf den Tagestourismus, auch die Anzahl von Gästen mit Übernachtungen nahm spürbar zu. Zu diesen Ergebnissen kam eine Untersuchung, die Ernst Basler und Partner im Auftrag des Bundes und der Kantone Bern und Wallis von Frühjahr 2011 bis Sommer 2012 durchführte.  Wie erwartet wuchs auch der Pendlerverkehr zwischen dem Wallis und der Region Thun/Bern. Von Brig bzw. Visp nach Bern braucht die Bahn nur mehr rund eine Stunde. Mit etwa 800 Personen, die täglich zum Arbeiten oder zur Ausbildung die neue Strecke ­be­nützten, blieb deren Anteil an den Reisenden aber vergleichsweise bescheiden. Am deutlichsten spürbar waren die Auswirkungen in der Agglomeration Brig-Visp-Naters. Der Tunnel hat zum Bevölkerungswachstum und zur regen Wohnbautätigkeit beigetragen (vgl. TEC21 45/2014 «Prozess Stadt»). Besonders der Bahnhof von Visp ist zum zentralen Umsteigepunkt geworden und hat ein neues Gesicht erhalten.  Von allen Zuzügern in der Agglomeration Brig-Visp-Naters können höchstens 15 % direkt mit dem Lötschberg-Basistunnel in Verbindung gebracht werden. Damit bestätigen sich frühere Analysen, diese zeigten, dass neue Verkehrsinfrastrukturen vor allem bestehende Trends verstärken.  Nicht bewahrheitet hat sich die Befürchtung, die neue Verbindung könne sich negativ auf den Tourismus im Kandertal auswirken. Dies sei das Ergebnis gezielter Massnahmen, so die Autoren der Studie. Mit dem stündlich verkehrenden «Lötschberger» für die Bergstrecke wurde ein attraktives Angebot geschaffen, die Marketingmassnahmen wurden verstärkt, und neue Angebote ziehen Gäste an.
Lukas Denzler, dipl. Forst-Ing. ETH/Journalist; Daniela Dietsche, Redaktorin Ingenieurwesen/Verkehr  Zur Studie: www.are.admin.ch

Sur ce sujet