Film | Ar­chi­tek­tur. Ei­ne Ein­füh­rung

Am Anfang ist ein Strich.

Publikationsdatum
30-07-2018
Revision
30-07-2018
Johannes Binotto
Dr. phil., esperto di media e studi culturali, UZH e HSLU Design+Kunst

Am Anfang ist ein Strich.

„[…] eine einigermaßen horizontale Linie wird auf das weiße Blatt gesetzt, schwärzt den jungfräulichen Raum ein, gibt ihm einen Sinn, vektorisiert ihn: von links nach rechts, von oben nach unten. Vorher gab es nichts oder fast nichts, danach gibt es nichts Besonderes, ein paar Zeichen, die aber ausreichen, damit es ein Oben und ein Unten gibt, einen Anfang und ein Ende, eine Rechte und eine Linke, eine Vorderseite und Rückseite.ii

So beginnt Georges Perec sein Buch Träume von Räumen und beschreibt mit diesem Anfang seines Textes auch den Anfang von Architektur. Denn die wohl erste architektonische Geste war es, eine Linie durch den Raum zu ziehen, um damit diesen in Zonen zu teilen. Erst, wo solch eine Unterscheidung den Raum spaltet, lässt sich überhaupt von einem Hier und einem Dort sprechen. Was die Linie markiert, ist denn auch, was danach die Wand, diese basalste architektonische Form, leistet: Indem man eine Wand errichtet, wird ein Innen von einem Außen, ein Davor von einem Dahinter überhaupt erst getrennt. Die Wand ordnet den Raum, indem sie ihn teilt.

Und doch kann es bei der Trennung allein nicht bleiben. Soll die Wand nicht zum schieren Kerker werden, müssen Öffnungen in sie eingefügt werden, so wie in E.T.A. Hoffmanns Erzählung vom verrückten Rat Krespel, der ein Haus baut, ganz ohne Türen und Fenster, danach aber lauter Löcher in die Mauern schlagen lässt.iii Die Wand, welche zwei Bereiche voneinander separiert, schafft gerade dadurch die Notwendigkeit eines Übergangs vom einen in den anderen. Mauern rufen alsbald auch Türen und Fenster auf den Plan. Wo Wand ist, wird Passage. Tatsächlich ist ja auch die Linie, welche den Raum in Zonen teilt, zwangsläufig der Ort, wo diese Zonen wieder aneinander stoßen. Der trennende Strich entpuppt sich als Schnittstelle in der ganzen Paradoxie dieses Wortes: ebenso trennender Schnitt, wie offener Kanal. Der Strich ist demnach das, was man ein Medium nennt: etwas, das – wie es sein lateinischer Name bereits sagt – in der Mitte, also zwischen zwei Positionen steht. Als dazwischen stehend ist das Medium Hindernis, Zäsur und zugleich doch Kontaktstelle, Ort der Vermittlung.iv

In eben diesem Sinne wäre auch der Strich im Titel „Film | Architektur“ zu verstehen: als zugleich Trennungs- und Verbindungslinie. Er markiert das komplexe, mediale (Un-)Verhältnis zwischen Film und Architektur: um in einem Zug sowohl die Zäsuren aufzuzeigen, wie auch die Verbindungen, über die sich Film und Architektur gegenseitig austauschen und aus dem Lot bringen.

Dass es für den Film keinen Weg an der Architektur vorbei gibt, ist offensichtlich: Wo gefilmt wird, fängt die Kamera unweigerlich auch jene architektonisch gestalteten Räume ein, die sich vor ihrer Linse befinden und sei es nur als Hintergrund. Doch begnügt das Kino sich nicht damit, den gegebenen Raum nur abzubilden, sondern baut diesen im Akt der medialen Übertragung sogleich um, erweitert und begrenzt ihn, zerschneidet ihn und setzt ihn neu zusammen. Architektur ist somit nicht einfach ein mögliches filmisches Sujet unter anderen, sondern betrifft den Film bereits in seinen basalen Verfahrensweisen. Dank filmischer Mittel wie Kameraperspektive, Bildausschnitt, Montage, Farbgebung oder Sounddesign werden neue Räume kreiert, die sich zwar an vorhandene Architekturen anlehnen mögen, aber niemals deckungsgleich mit diesen sein können.

Der Kritiker und Regisseur Éric Rohmer hat denn auch den Film dezidiert als „Kunst der Raumorganisation“ bestimmt und zu diesem Zweck zwischen drei Formen differenziert, in denen sich Raum im Film manifestiert: Rohmer unterscheidet zwischen 1) einem espace pictural – also dem Raum des auf die Leinwand projizierten Bildes, 2) einem espace architectural – dem gefilmten architektonischen Raum mit seinen tatsächlichen Bauten, seien dies nun eigens für den Dreh hergestellte Sets oder bereits vorhandene Gebäude und schließlich 3) einem espace filmique – jener virtuelle filmische Raum, der sich erst in der Wahrnehmung der Zuschauer aufgrund der gesehenen Bilder zusammensetzt.v

So hilfreich eine derartige Unterscheidung auch sein mag, erleben wir als Zuschauer indes, wie unauflösbar verschränkt die drei von Rohmer beschriebenen Raum-Formen sind: So wissen wir im Kino vom espace architectural nämlich nur, was uns der espace pictural davon zeigt, wobei in diesem „Zeigen“ freilich auch das mitgemeint ist, wovon der Film zwar kein Bild liefert, es aber als Abwesendes, als Off außerhalb des Bildrahmens spürbar macht. Die angeblich „objektive Existenz“ des espace architectural, der, laut Rohmer über eine „Realität [verfügt], mit der sich der Filmemacher beim Dreh misst, um sie zu verfälschen oder getreu wiederzugeben“vi, ist, genau besehen, selber etwas, über das man nur vermittelt – mithilfe dessen, was uns davon gezeigt wird – spekulieren kann. Mithin ist auch die angeblich konkrete Erfahrung einer Architektur niemals objektiv, sondern immer nur phänomenologisch. Auch wenn wir durch ein tatsächliches Bauwerk spazieren, erleben wir dieses niemals als Bauwerk an sich, sondern immer nur so, wie es für uns erscheint,vii nur in Form fragmentierter, eigener Wahrnehmungen, die dann zu einem virtuellen Ganzen zusammengefügt werden müssen. Oder anders formuliert: auch was man für eine konkrete Erfahrung eines architektonischen Raums hält, erlebt man eigentlich als einen, erst im eigenen Kopf sich zusammenfügenden espace filmique. Über die Bauten des Films hat Frieda Grafe geschrieben: „Die neuen Räume, ohne Grundriss, setzen sich in Einstellungen zusammen und definieren sich über Zeit.“viii Dasselbe ließe sich aber auch über die Erfahrung realer Architektur sagen: Auch ein tatsächliches Gebäude wird nicht auf einen Blick, sondern über Zeit und in Form von Einzelheiten erfasst. So hält auch die Filmtheoretikerin Gertrud Koch fest: „Von emphatischer Architektur ließe sich sagen, dass sie dem Film darin ähnelt, dass ihre Werke sich erst im Betrachter strukturieren. Die architektonische Gesamtheit eines Gebäudes erschließt sich erst durch die verschiedenen perspektivischen Ansichten, die sich der Betrachter davon macht.ix

Die vermittelnde Schnittlinie zwischen Film und Architektur bedeutet also auch, dass die beiden hier zusammenstoßenden Phänomene plötzlich ihre Plätze tauschen können: Nicht nur, dass Film als Kunst der Raumorganisation architektonisch verfährt, auch Architektur wird ihrerseits in einer Art filmischer Dynamik erlebt. Filme operieren architektonisch, Architektur erfährt man filmisch. Das soll gleichwohl nicht heißen, dass Film und Architektur damit schlicht austauschbar würden. Im Gegenteil sollen gerade die unterschiedlichen Möglichkeiten von Film und Architektur fruchtbar gemacht werden, zur besseren gegenseitigen Bestimmung. Michel Foucault zufolge ist das Kino ein prominentes Beispiel dessen, was er „Heterotopien“ nennt – „wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen.“x

In diesem Sinne wären auch die Räume des Films als Heterotopien der Architektur zu sehen, in denen diese sich zugleich repräsentiert, aber auch umgewendet, weiter- und umgebaut findet. In der Heterotopie des Films erfüllt sich, was für die Architektur utopisch bleiben muss: Gesetze der Statik etwa oder die Regeln der euklidischen Geometrie, denen sich Architekten und Architektinnen unterworfen sehen, kann der Film mühelos überwinden. So werden beispielsweise in Filmen etwa von Fritz Lang, Dario Argento, David Lynch oder Jonathan Glazer unmögliche Topologien entworfen, in denen selbst grundlegendste Unterscheidungen wie oben und unten, rechts und links, Anfang und Ende nicht mehr möglich sind. Stattdessen bewegen sich die Figuren in filmischen Räumen, die wie in der topologischen Figur des Möbiusbandes auf sich selbst zurückgewendet werden (wie bei Langs „Secret Beyond the Door“ oder Lynchs „Lost Highway“) oder die sich im Verlauf des Films laufend umwandeln (wie in Argentos „Suspiria“ oder „Inferno“) oder gar vollständig auflösen (wie in Jonathan Glazers „Under the Skin“). xi

Das Publikum sieht sich in diesen Filmen mit imaginären Architekturen konfrontiert, die jegliche Orientierung radikal durchkreuzen, mit oft verstörendem Effekt. Dafür aber muss im Gegenzug das Kino auf die Plastizität realer Architektur verzichten, ebenso wie auf die Möglichkeit, sich nicht nur mit den Augen, sondern mit dem ganzen Körper in den Räumen bewegen zu können. Manche Experimente des „Expanded Cinema“ beispielsweise wären gerade auch in dieser Hinsicht zu verstehen, als Versuche einer durchaus auch konkret räumlichen Expansion des Films.xiiSo wäre also der Film nicht nur als Heterotopie der Architektur, sondern umgekehrt auch die Architektur als Heterotopie des Films zu lesen, in der sich plastisch verwirklichen soll, was der Film sich nur hatte einbilden können.

Werden Film und Architektur als gegenseitige Heterotopie untersucht, heisst das nicht zuletzt, dass es dabei nicht nur um den Auftritt von Architektur im Film gehen kann.xiii Die Untersuchung kann sich nicht nur auf „Architekturfilme“ beschränken, deren Aufgabe darin besteht, Bauwerke möglichst „adäquat“ zu dokumentieren. Indes ist dies oft die Haltung, die Vertreter und Vertreterinnen der Architektur gegenüber dem Film einnehmen, indem sie diesen als bloßes Mittel zur Repräsentation ihrer Werke verkennen. Spricht man von Architektur im Film, so ist damit bereits eine Hierarchisierung impliziert, welche das eine als Hauptsache und das andere als nur dessen mögliche Darstellungsform aufzufassen droht. Die Architektur wird dann zum Inhalt erklärt, während der Film nur Vehikel sein soll, das diesen Inhalt zu sehen gibt.

Eben diese Vorstellung aber will die Rede von der „Film | Architektur“ durchkreuzen. Statt Architektur im Film, soll vielmehr Film als Architektur untersucht werden. Es soll also aufgezeigt werden, wie der Film als Medium selbst architektonisch verfährt, aber auch umgekehrt, wie Architektur als Film gedacht werden kann. Welches Wissen hat das Kino über die Architektur, was diese selbst nicht hat und nicht haben kann? Inwiefern durchkreuzt, kritisiert oder akzentuiert der Film unweigerlich die Vorstellungen der Architektur und des Städtebaus, um stattdessen ganz eigene Formen der Raumgestaltung zu versuchen? Und was ist wiederum für die Architektur und den Städtebau aus den Räumen des Films zu lernen? Es wäre also in die von Seiten der Film- und Medienwissenschaften aktuell durchaus intensiv geführte Diskussion des filmischen Raums xiv auch die Disziplinen der Architektur und des Städtebaus noch stärker zu involvieren. Dies scheint umso notwendiger, als (post-)kinematographische Bewegtbilder mehr denn je Bestandteil des öffentlichen Raumes sind. So müsste man denn auch statt von der Architektur im Film heute vermehrt vom Film in der Architektur sprechen: Werbebildschirme und Anzeigetafeln, aber vor allem die mobilen Displays, die wir alle mit uns herumtragen, durchsetzen mit ihren Clips heute schon jedes Bauwerk. Vilém Flusser hat bereits Anfang der 1990er Jahre darauf hingewiesen, dass die Proliferation von Medien auch eine Perforation des Raums bedeutet und daraus abgeleitet: „Das zwingt die künftigen Raumgestalter […], nicht mehr über Dinge wie Mauern, Fenster und Türen, und auch nicht über Straßen, Plätze und Tore, sondern eher über Dinge wie Kabel, Netze und Information nachzudenken.“xv

Flussers Aufforderung an die Adresse der Architektinnen und Urbanisten stellt sich heute nur noch nachdrücklicher, da nicht mal mehr via Kabel, sondern über Strahlen und Wellen direkt in jedes Zimmer gesendet wird. Tatsächlich ist es so, dass nicht etwa erst die hypermobilen digitalen Bewegtbilder der Gegenwart in die Architektur eingreifen. Vielmehr hat der Film immer schon, seit seiner Erfindung am Ende des vorletzten Jahrhunderts, an unserem Lebensraum mitgebaut und dessen Architekturen mit seinen eigenen, medialen Räumen erweitert. Angesichts der allgegenwärtig gewordenen Bewegtbilder wird nur offensichtlicher, was eigentlich immer schon Sache war: Um die Räume des Films kommt die Architektur nicht herum. Wie man, statt um sie herum zu kommen, sie sich im Gegenteil vor-nehmen könnte, das wäre das Projekt einer „Film | Architektur“ – ein Projekt, das weder nur aus Perspektive des Films auf die Architektur, noch bloss aus Sicht der Architektur auf den Film zugreifen will, sondern vielmehr versucht, sich auf der Schnittstelle selbst, auf dem Strich dazwischen zu positionieren.

 

Note

i Perec, Georges: Träume von Räumen. Zürich, Berlin 2013, S. 19-20.

ii Hoffmann, E.T.A.: „Rat Krespel“ (1816), in: Werke Bd. 4. Zürich 1946, S. 46-71.

iii Siehe dazu Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien. Frankfurt a.M. 2002, S. 7-18.

iv Vgl. Rohmer, Eric: L’organisation de l’espace dans le Faust de Murnau (1977). Paris 2000, 6-7. Eine ähnliche Typologisierung schlagen später auch Gardies, André: L'Espace au cinéma. Paris 1993 oder Paech, Joachim: „Eine Szene machen“ in: Hans Beller, Martin Emele, Michael Schuster (Hg.): Onscreen/Offscreen. Grenzen, Übergänge und Wandel des filmischen Raumes. Stuttgart 2000, S. 93‐121 vor. Siehe dazu auch: Hediger, Vinzenz: „Begehen und Verstehen. Wie der filmische Raum zum Ort wird“ in: Dorit Müller, Johannes Pause (Hg.): Wissensraum Film. Wiesbaden 2014, S. 61-87, insb.: S. 61-64.

v Rohmer 2000, S. 7

vi siehe dazu: Blum, Elisabeth: Atmosphären. Hypothesen zum Prozess räumlicher Wahrnehmung.Zürich 2010, S. 25-35.

vii Grafe, Frieda: „Die saubere Architektur in Gefahr. Die Grandhotels in der Unterhaltungsindustrie“ in: Film/Geschichte. Wie Film Geschichte anders schreibt. Schriften Bd. 5. Berlin 2004, S. 78-111, hier: S. 84-85.

viii Koch, Gertrud (Hg.): Umwidmungen. Architektonische und kinematographische Räume. Berlin 2005, S. 8.

ix Foucault, Michel: „Von anderen Räumen“ (1967) in: Dits et Ecrits. Schriften. Bd. IV: 1980-1988.Frankfurt a.M. 2005, S. 931-942, hier: S. 935.

x Siehe dazu: Binotto, Johannes: TAT/ORT. Das Unheimliche und sein Raum in der Kultur. Zürich, Berlin 2013, S. 195-280 sowie Ders.: „Räume, Gänge, Kammern, Strassen. Das Unheimliche im Film“ in: Nicola Mitterer, Hajnalka Nagy (Hg.): Zwischen den Worten. Hinter der Welt. 

Wissenschaftliche und didaktische Annäherungen an das Unheimliche. Innsbruck, Wien, Bozen 2015, 157-172.

xi vgl. Gene Youngblood: Expanded Cinema. New York 1970.

xii In diese Richtung gehen zB. Lamster, Mark: Architecture and Film. New York 2000 und teilweise auch Keim, Christiane; Schrödl, Barbara (Hg): Architektur im Film: Korrespondenzen zwischen Film, Architekturgeschichte und Architekturtheorie. Bielefeld 2015.

xiii Siehe zB. Beller, Hans / Emele, Martin / Schuster, Michael (Hg.): Onscreen/Offscreen. Grenzen, Übergänge und Wandel des filmischen Raumes. Stuttgart 2000, Koch, Gertrud (Hg.): Umwidmungen. Architektonische und kinematographische Räume. Berlin 2005, Meurer, Ulrich: Topographien. Raumkonzepte in Literatur und Film der Postmoderne. München 2007, van der Kooij, Fred: Über das Filmische. Zürich 2010 (http://www.vanderkooij.ch/Fred_van_der_Kooij/Filmbuch.html), Hediger, Vinzenz: „Begehen und Verstehen. Wie der filmische Raum zum Ort wird“ in: Dorit Müller, Johannes Pause (Hg.): Wissensraum Film. Wiesbaden 2014, S. 61-87

xiv Flusser, Vilém: „Räume“ (1991) in: Dünne, Jörg und Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M. 2006, S. 274-285, hier: S. 280.

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