Ein Schmet­ter­ling für Zü­rich-Nord

Entwicklung eines Stadtteils

Oerlikon durchläuft einen tiefgreifenden Wandel. Der Bahnhof wird komplett neu gestaltet. Er wird zum Zentrum und Bindeglied zwischen den Quartieren in Zürich-Nord.

Publikationsdatum
27-03-2014
Revision
18-10-2015

Der Kabarettist und Schriftsteller Franz Hohler beschreibt auf den ersten Seiten seines jüngsten Buchs «Gleis 4»1 die enge Unterführung des Bahnhofs Zürich Oerlikon. Isabelle, die Protagonistin des Romans, ist auf dem Weg zum Flughafen in Kloten. «Zu spät hatte sie daran gedacht, ganz nach hinten zum Ende der Geleise zu gehen, wo es schräg ansteigende Auf- und Abgänge ohne Treppen gab, und erst als sie die Stufen vor sich sah, die ihr so steil und feindlich vorkamen wie noch nie, merkte sie, wie schwer ihr Koffer eigentlich war, und ärgerte sich, dass ein so stark frequentierter Bahnhof wie dieser immer noch nicht über Rolltreppen verfügte, sondern wie die Provinzstation behandelt wurde, die er vor hundert Jahren einmal war.» – Das Kofferschleppen über steile Treppen wird bald vorbei sein. Rolltreppen wird es im neuen Bahnhof Zürich Oerlikon zwar nicht geben. Von den Unterführungen werden aber künftig Lifte zu den Perrons führen. Franz Hohler wird es freuen. Er lebt seit 1978 in Oerlikon.

Vom Dorf zum Industriestandort

Vor 100 Jahren war Oerlikon ein kleines Dorf. 1934 wurde der Ort zusammen mit Seebach, Affoltern und Schwamendingen durch Eingemeindung zum nördlichen Teil der Stadt Zürich. Der am Rand des Wohngebiets gelegene Bahnhof war damals in der Tat eine Provinzstation. Auf der anderen Seite befanden sich die Industriegelände der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO), der Accumulatoren Fabrik (später Accu Oerlikon) und der Schweizerischen Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon (später Oerlikon-Bührle AG). In der MFO wurden unter anderem die legendären Krokodil-Lokomotiven gebaut. 1967 übernahm die in Baden ansässige BBC die MFO und fusionierte ihrerseits 1988 mit der schwedischen Asea zu ABB.

Wer nicht im Industriegebiet arbeitete, hatte dort, auf der anderen Seite der Gleise, keinen Zutritt. Nur die Birchstrasse, die in süd-nördlicher Richtung mitten durchs Industriequartier führte, war frei zugänglich. Christian Relly, Präsident des Quartiervereins Oerlikon, ist bei der Regensbergbrücke aufgewachsen. Er erinnert sich, wie er als Bub mit dem Velo jeweils via Birchstrasse nach Seebach fuhr. Auf der linken Seite befand sich das Areal der Oerlikon-Bührle, auf der rechten Seite dasjenige der MFO. Das Industriegebiet war ein umzäuntes, unbekanntes Land. 

Auch Röbi Stolz kennt das Areal seit seiner Kindheit. Sein Vater arbeitete bei der MFO; er selber absolvierte bei der BBC die Lehre. Heute betreibt er ein Velogeschäft beim Bucheggplatz und ist Präsident des Vereins WerkStadt Oerlikon, in dem die wichtigen Oerlikoner Quartierorganisationen zusammengeschlossen sind. Manchmal wird das ehemalige Industriegebiet auch als «verbotene Stadt» bezeichnet.

Der Architekturkritiker Benedikt Loderer soll diesen Begriff in Zusammenhang mit Industriebrachen populär gemacht haben. Laut Stolz kam diese Bezeichnung erst auf, als sich in den 1990er-Jahren die Öffnung des Areals abzeichnete. Für ein wirklich «verbotenes» Gebiet arbeiteten im Industrieareal schlicht zu viele Leute aus Oerlikon. Etwas geheimnisumwittert war es aber schon, vor allem das Areal der Waffenschmiede der Oerlikon-Bührle.

Der Bahnhof als Dreh- und Angelpunkt

Nach der Öffnung des Industrieareals entstanden seit der Inkraftsetzung der Sonderbauvorschriften 1998 viele Geschäfts- und Wohnhäuser nördlich des Bahnhofs. Dieser Stadtteil, man gab ihm den Namen Neu-Oerlikon, beherbergt im Endausbau rund 12.000 Arbeitsplätze und bietet Wohnraum für 5000 Einwohner. Dadurch war der Bahnhof plötzlich mittendrin. Auch östlich des Bahnhofs verläuft die Entwicklung rasant. Im Gebiet Leutschenbach, wo sich das Fernsehstudio des SRF befindet, werden viele neue Wohnungen und Bürohäuser gebaut. 

Rudolf Steiner vom Tiefbauamt der Stadt Zürich sagt: «Wir möchten den Bahnhof hin zu den Quartieren öffnen und im Osten ebenerdige Fusswege zu den Bahnhofsunterführungen schaffen.» Die Anbindung der Quartiere erinnert an einen Schmetterling. Momentan ist der Bahnhof eine grosse Baustelle. Bis die Raupe sich verpuppt und der Schmetterling endlich fliegt, haben Anwohner und Benützer des Bahnhofs noch einige Unannehmlichkeiten zu erdulden. Doch lassen sich jetzt immerhin die Konturen des neuen Bahnhofs erkennen.

2007 erfolgten wichtige Weichenstellungen. Einerseits fiel der Entscheid, in Oerlikon zwei zusätzliche Gleise zu bauen. Die damit verbundenen Anpassungen der Unterführungen bewogen die SBB, gleichzeitig den Bahnhof auszubauen. Andererseits vereinbarten Stadt und Kanton Zürich sowie die SBB, ihre Projekte zu koordinieren. Der Stadtrat beauftragte daraufhin das Tiefbauamt, eine Projektorganisation einzurichten, deren Aufgabe es ist, den Informationsfluss innerhalb der städtischen Verwaltungsstellen zu gewährleisten (Gebietsmanagement). Sie dient zudem als Anlaufstelle für den Kanton, die SBB und die Quartierorganisationen. Die SBB gaben mit den zeitlichen Vorgaben der Durchmesserlinie den Takt an. Der enge Zeitplan habe einen gewissen Druck auf die städtischen Projekte und die Bewilligungsbehörden erzeugt, sagt Steiner.

Bereits im Jahr 2000 hielt der Zürcher Stadtrat im Entwicklungsrichtplan für den Bahnhof Zürich Oerlikon fest, dass für die Quartierverbindung zwischen dem Zentrum in Oerlikon und Neu-Oerlikon keine Passerelle über den Gleisen, sondern eine zusätzliche Unterführung zu planen sei. Den Wettbewerb gewannen 2004 das Atelier 10:8 und Leutwyler Partner Architekten. Nach dem Entscheid der SBB, den Bahnhof auszubauen, war das Projekt anzupassen. Die neue, 16m breite Quartierverbindung ergänzt die Personenunterführung Mitte der SBB.

Die breiten Treppen auf beiden Seiten setzen zusammen mit den laternenartigen gelben Oberlichtern ein prägnantes Zeichen und weisen auf die Quartierverbindung hin. Die Oberlichter überspannen jeweils Aufzüge, Treppen und Rampen, die in die Passage führen. Die Kosten betragen 50 Mio. Fr. Die Quartierverbindung wurde 2009 mit 78% der Stimmen von den Zürchern angenommen.

Verlängerung der SBB-Brücken

Die SBB-Brücken östlich des Bahnhofs über die Schaffhauserstrasse wurden bereits teilweise verlängert, der Neubau der Brücken für die Gleise 3 bis 6 folgt bis Ende 2015. Damit wird unter den Gleisen eine zeitgemässe Führung von Tram- und Buslinien, des Langsamverkehrs und des motorisierten Individualverkehrs möglich. Derzeit wird der Zugang zum Bahnhof von Seebach und von der Andreasstrasse aus dem Gebiet Leutschenbach erstellt. Er mündet in die Personenunterführung Ost der SBB. Die Gesamtkosten für die Quartieranbindung Ost betragen 110 Mio. Fr. Das Projekt wurde 2010 mit 71% der Stimmen an der Urne angenommen. 

Ursprünglich war in der Unterführung Schaffhauserstrasse ein grosses Umsteigezentrum des öffentlichen Verkehrs vorgesehen. «Im Lauf der Planung realisierten wir aber, dass dieses zu stark am Rand des Bahnhofs zu liegen gekommen wäre», sagt Rudolf Steiner. Zudem erwies sich der Ort für eine grosse öV-Drehscheibe als zu wenig attraktiv. Es wird deshalb weiterhin die drei Umsteigeknoten beim Bahnhofplatz Süd, beim Max-Frisch-Platz im Norden und bei der Schaffhauserstrasse im Osten geben.

Zwei markante Plätze

Der Oerliker Bahnhofplatz Süd wird vom Durchgangsverkehr entlastet und fussgängerfreundlich gestaltet. Er bildet künftig die Verbindung zwischen dem Bahnhof und dem zentralen Marktplatz. Das denkmalgeschützte alte Bahnhofsgebäude und die ebenfalls denkmalgeschützte ehemalige Post mit dem Turm und der grossen Uhr (heute Pestalozzi-Bibliothek) bleiben erhalten. Der Kundenschalter der SBB im alten Bahnhofsgebäude und die ebenerdigen kommerziellen Nutzungen werden in die Personenunterführung Mitte verlegt.

Das Pendant zum Bahnhofplatz im Süden ist der Max-Frisch-Platz im Norden. Dieser wird ab 2015 neu gestaltet. Er umfasst die Bushaltestellen entlang dem neuen Perron von Gleis 8 und einen Aufenthaltsbereich mit Bäumen, Sitzgelegenheiten und Brunnen. Laut Steiner kann der Platz auf der Nordseite nicht abschliessend erstellt werden, weil noch nicht klar ist, was auf dem angrenzenden, lang gezogenen Grundstück, das der ABB und dem Kanton Zürich gehört, dereinst zu stehen kommt. 

Die Quartierkräfte mischen sich ein

Der Wandel in Oerlikon vollzieht sich in atemberaubendem Tempo. Für die Quartiere bleibt das nicht ohne Folgen. Bereits in den 1990er-Jahren bildete sich der Verein «zürifüfzg». Engagierte Bewohner aus Zürich-Nord wollten den Prozess der Umnutzung des Industrieareals mitgestalten. Einer der führenden Köpfe war Martin Waser, der später in den Stadtrat gewählt wurde. Röbi Stolz erinnert sich, dass es damals gelungen sei, über die Parteigrenzen hinweg einen runden Tisch zu bilden. Auch heute ist die Meinung der Quartiervereinigungen gefragt. Laut Rudolf Steiner ist für die Stadt vor allem die WerkStadt Oerlikon eine wichtige Ansprechpartnerin. Diese umfasst den Gewerbeverein und den Quartierverein Oerlikon, aber auch einige Firmen.

Neu-Oerlikon ist als Wohn- und Arbeitsquartier viel schneller gewachsen, als man in den 1990er-Jahren gedacht hatte. Hansruedi Diggelmann, Geschäftsführer der WerkStadt Oerlikon und Raumplaner, sieht einen der Gründe für die rasante Entwicklung darin, dass die Öffnung des Areals mit der Renaissance der Städte zusammenfiel. Der Wandel in Oerlikon sei grundsätzlicher Natur. Laut Diggelmann sollte man in der Planung und Quartierentwicklung deshalb etwas weiter denken; unter anderem gehe es auch darum, erkannte Defizite zu beheben. Dazu seien die Stimmen aus den Quartieren zu bündeln, wofür es ein geeignetes Gefäss brauche. Die WerkStadt Oerlikon wäre dafür prädestiniert, findet Diggelmann. Weil die meisten Personen ehrenamtlich mitarbeiteten, brauche der Verein aber mehr Unterstützung. Diggelmann verweist auf den Legislaturschwerpunkt «Stadt und Quartiere gemeinsam gestalten» der Stadtregierung. Unter diesem Titel wäre in der eben zu Ende gehenden Legislaturperiode jedoch mehr möglich gewesen, ist er überzeugt. 

Für Christian Relly, Präsident des Quartiervereins, ist einer der nächsten wichtigen Punkte die Realisierung des Max-Frisch-Platzes. Dieser Ort sei für Neu-Oerlikon zentral, bei der Umsetzung dürfe es deshalb keine Abstriche geben. Entscheidend wird sein, wie der Platz gegenüber dem Bahnhof abgeschlossen wird – doch gerade das ist derzeit die grosse Unbekannte. Gleich hinter der fraglichen Parzelle befindet sich die Ausbildungsstätte für industrielle Berufslehren Schweiz (libs). Sie ist derzeit in einem Gebäude der ABB untergebracht. Für Hansruedi Diggelmann ist die Frage, ob sie dort bleiben kann oder zumindest im Quartier einen Platz haben soll – ein gutes Beispiel dafür, worüber man im Rahmen einer ganzheitlichen Quartierentwicklung unbedingt auch nachdenken sollte. Und ganz allgemein möchte man früh informiert werden: Vom SBB-Projekt des 80m hohen Franklin-Turms haben die Quartiervertreter erst erfahren, als es den Medien präsentiert wurde.

Das alte MFO-Gebäude als Symbol 

Die erfolgreiche Verschiebung des ehemaligen Verwaltungsgebäudes der MFO im Mai 2012 ist für viele in Oerlikon zu einem Symbol geworden.2 Nicht nur, weil das alte und für den ehemaligen Industriestandort wichtige Gebäude erhalten werden konnte, sondern weil es aufzeigt, was möglich ist, wenn man sich gemeinsam für etwas einsetzt. Dieser Kraftakt gelang nur, weil sich die Quartierbewohner energisch für das Gebäude stark machten. Irgendwann sprang der Funken auf die Politiker über, und auch die beteiligten Firmen realisierten, dass sie einlenken mussten. Über die gelungene Aktion freut sich vor allem auch Röbi Stolz, der mit dem Gebäude auch ein Stück seiner Jugend verbindet: Als Vertreter der BBC-Lehrlinge musste er nämlich hin und wieder beim obersten Lehrlingschef der BBC antraben. Und dieser hatte sein Büro im alten MFO-Verwaltungsgebäude. Heute kann man in diesem altehrwürdigen Gebäude im Restaurant «Gleis 9» an der Bar ein Bier trinken.

Anmerkung

  1. Franz Hohler: Gleis 4. München 2013, S.6
  2. Das 80m lange, 12m breite und 6200t schwere MFO-Gebäude von 1889 wurde in Mai 2012 um 60m nach Westen verschoben. Ein Bautagebuch und weitere Informationen unter: Gebaeudeverschiebung auf 500 Stahlrollen. Zudem erscheint im März 2014 das Buch «Ein Haus geht auf Reisen», Herausgeber ist der Verein Oerlikoner Industriegeschichte(n), 34.90 Fr., ISBN 978-3-280-05548-9
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