Zum Tod von Sil­via Gmür: Mit Lei­den­schaft und Hal­tung

Ende Januar verstarb die Architektin Silvia Gmür (1939–2022). Ihr Wegbegleiter Roberto Masiero verfasste für uns einen sehr persönlichen Nachruf.

Publikationsdatum
08-02-2022
Roberto Masiero
Professor für Architekturgeschichte am Institut für Architektur der Universität Venedig


Dein Leben war Leidenschaft
Leidenschaft für deine Familie, Freunde und die Gastfreundschaft

Leidenschaft für die Architektur und die Musik
Leidenschaft für die Kunst und die Schönheit der Natur
Du und deine Leidenschaft für das Leben werden uns unendlich fehlen.

Mit diesen Zeilen bereiteten Silvia Gmürs Kinder ihre Freunde auf die letzte Reise ihrer Mutter vor. Man könnte es nicht stimmiger ausdrücken. Genau so war Silvia. Ihre Entschlossenheit, ihre Intelligenz, ihre Sensibilität, ihre Sanftheit, ihre überragende Eleganz – alles floss ein in ihre grosse, grosse Leidenschaft: die Architektur. Alles wurde zu Strenge und Magie.

Das war ihre Vorstellung von Architektur, über die ich jetzt schreiben muss, um sie den Lesenden in Erinnerung zu rufen. Ich greife einen Vortrag auf, den Silvia am 22. November 2008 auf Einladung unserer gemeinsamen Freundin Maura Manzelle am Institut für Architektur der Universität Venedig gehalten hat. Er beginnt wie folgt: «Ich möchte Sie auf eine Gedankenreise mitnehmen, um Ihnen die Freude am Nachdenken über Architektur und am Abenteuer des Entwerfens zu vermitteln.»

Architektur ist in erster Linie eine Sache des Denkens (manche würden sagen, eine Sache des Geistes), und das Denken kann nicht anders als Begriffe auszuarbeiten, als Grammatiken, Syntaxen, Prinzipien, eine Ordnung, einen Grund zu haben. Sicherlich keine absoluten, ein für alle Mal gegebenen Normen – sonst würde sie keine Lust am Denken erzeugen. Wie wir wissen, entsteht diese Lust auch daraus, dass es nicht immer um dasselbe geht – sondern um Wiederholungen in Variationen, die von der Situation, dem Gegenstand, dem Moment abhängen. Wenn der Wein immer gleich schmeckte, wo bliebe dann die Lust daran? Eine sehr menschliche Frage. So entstehen eine Ethik und eine Ästhetik des Kontingenten – das jedoch mit seinen Regeln zur Universalität fähig ist.

Nachdenken bedeutet suchen, finden, versuchen, innerhalb der Vernunft zu bleiben – jener Ordnung des Denkens also, die uns zu Menschen macht und verbindet. Aber worüber nachdenken? Sicherlich über Architektur, aber über Architektur als Projekt. Darin lag Silvias Leidenschaft – im Projekt, in dem, was uns erlaubt, der Welt Form zu verleihen und sie besser zu machen, als sie ist, und womöglich sogar besser, als sie sein könnte. Deshalb ist jedes Projekt ein grossartiges Abenteuer und unweigerlich eine Reise ins Unbekannte.

Unmittelbar danach las Silvia den im Hörsaal anwesenden Studierenden dieses Fragment des argentinischen schriftstellers Jorge Luís Borges vor: «Etwa 300 bis 400 Meter von der Pyramide entfernt beugte ich mich vor, hob eine Handvoll Sand auf, liess sie etwas weiter weg wieder fallen und sagte mit leiser Stimme: Ich verändere die Sahara.» Eine winzige Geste, die jedoch nichts weniger tut, als die Erdkruste zu verändern.

In diesem Moment steckt wirklich alles: die Conditio humana und ihre Endlichkeit; diese winzige Geste, die poetisch erscheint in ihrer Bedeutungslosigkeit; die Kraft des Denkens im «Körper» der Pyramide selbst, also in der Architektur; eine Stille, in der sich die Ewigkeit andeutet und die uns zwingt, mit leiser, bescheidener Stimme zu sprechen; und der Stolz, aber auch die Arroganz, nicht bloss ein Teil des Ganzen zu sein. Das sind wir! So bewohnen wir die Erde.

Silvia spricht weiter zu den Studierenden: «Bauen bedeutet, die Erdkruste zu verändern, und das impliziert einen schöpferischen und poetischen Akt, es impliziert eine Art, Dinge zu tun … eine Theorie. Jeder Konstruktion, jeder Schöpfung geht eine theoretische Entscheidung voraus. Wer die Notwendigkeit einer Theorie leugnet, betrachtet den Zufall, den Schein, das Pittoreske als Wert. Auch das ist eine Theorie, aber ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist.»

Wenn Silvia zu Beginn eine Art Poetik entwickelt und dabei nicht zufällig einen literarischen Text von ausserordentlicher Qualität heraufbeschworen hat, so bezieht sie nun Stellung. Wenn Architektur eine geistige Frage ist und eine Begrifflichkeit entwickelt, dann kann sie nur auf Theorie beruhen.1 Die so aufgestellte Theorie besagt, dass jedes Projekt zwar immer dasselbe Projekt ist, aber Werke hervorbringt, die sich voneinander unterscheiden. Gleichzeitig kann die Autonomie des Werks nicht nur die Hierarchien, Masse und/oder Proportionen, die strukturelle Logik, die Materialien, die Bautechniken und die Funktionen aufzeigen, sondern auch klar und logisch die notwendigen Beziehungen zum Kontext: die Ausrichtung des Gebäudes, seine Beziehung zum Licht, zur Landschaft und zu den verschiedenen Elementen in seiner Umgebung, von Strassen bis zu Zugängen.

Um dem Werk eine Einheit zu verleihen, sollten nicht die Persönlichkeit des Planenden (Stil), seine Leidenschaften oder sein Ausdruckswille zum Vorschein kommen, sondern das Werk selbst. Das ist es, was uns grosse Dichter wie T.S. Eliot oder grosse Musiker wie Igor Strawinsky immer gelehrt haben: Je mehr sich das Subjekt (der Gestaltende) befreit oder sich selbst kontrolliert, damit das Werk entstehen kann, desto bedeutsamer wird das Werk. Hier klingt an, was Leon Battista Alberti in einer Art «Metatempo» dachte: Ein Werk ist umso bedeutender, wenn man nicht mehr wegnehmen und hinzufügen kann.

Schwierig, aber notwendig. Anderenfalls verkommt das Werk zum Marketing, zum Ausdruck um des Ausdrucks willen, zur Emotion um der Emotion willen, zum blossen Spiel mit Formen, zur Komposition um ihrer selbst willen. Und dann wird alles zu – in Silvias Worten – «Zufall, Schein, Pittoreskem.» Mit der Eleganz und Intelligenz, die sie auszeichnete, war und ist dies für uns die klarste Kritik an einem Grossteil der Architektur des ausgehenden letzten Jahrhunderts und der ersten zwanzig Jahre dieses Jahrhunderts – jener Architektur, die wir (vielleicht fälschlicherweise) als postmodern bezeichnen. Es ist eine Kritik, die ich teile. Ich hoffe, Sie tun das auch. Das wäre die beste Art, sich an Silvia zu erinnern.

Roberto Masiero ist Professor für Architekturgeschichte am Institut für Architektur der Universität Venedig und Autor der Monografie «Silvia Gmür Reto Gmür Architekten» (2015).

Anmerkung
 

1 Hier gilt es Silvias Gebrauch des Worts «Theorie» zu klären. Die Theorie, auf die sie anspielt, ist keine normative und universalistische Theorie, wie sie die exakten Wissenschaften postulieren, kein «So und nicht anders muss es gemacht werden». Sie beschreibt vielmehr, wie das, was zum Kunstwerk wird (Architektur), es schafft, seine eigenen Regeln, die Gründe für seine Evidenz und seine Einzigartigkeit auszudrücken. Doch das Primat der Einzigartigkeit muss durch einen universellen Horizont motiviert sein, der tief in der menschlichen Existenz verankert ist. Es ist eine Poetik oder, wenn wir so wollen, eine bewährte Vision der Welt, eine Handlungsweise, die sich in der Singularität/Identität des Werks erfüllt, das seine Begründungen in sich selbst findet. Es ist die Frage nach der Einheit des Werks. Einheit bedeutet, dafür zu sorgen, dass jeder, der diese Architektur sieht, lebt und nutzt, sie in ihren spezifischen Merkmalen erkennen kann. 

Tags

Verwandte Beiträge