Wenn Bau­wer­ke schwin­gen

Baudynamik und Erdbebeningenieurwesen in der Schweiz

Kann Fachliteratur fesseln wie ein Krimi? Das kürzlich veröffentlichte 440-seitige Buch des emeritierten ETH-Pro­fessors Hugo Bachmann – «Wenn Bauwerke schwingen» – tut es auf ­unaufgeregte Weise mit spektakulären Fällen.

Publikationsdatum
05-11-2015
Revision
10-11-2015

«In der Schweiz kann es fast ebenso starke Erdbeben geben wie in Kalifornien, Japan, Neuseeland, Türkei usw., sie sind aber seltener.» So steht es unmissverständlich auf dem Flyer, den die Stiftung für Baudynamik und Erdbebeningenieurwesen in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Umwelt seit 2006 in der zweiten Auflage herausgibt. Noch bis in die 1970er-Jahre aber wurde das Erdbebenrisiko in der Schweiz sozusagen als naturgegeben erachtet und weit unterschätzt.

Weckruf mit Paukenschlag

Die Entwicklung des Erdbebeningenieurwesens in der Schweiz hat zwar in den 1950er-Jahren mit «ersten Gehversuchen» bei der Sicherheit von Talsperren und – bald danach – bei der Bemessung von Kernkraftwerken begonnen. Für gewöhnliche Hochbauten gab es aber noch kaum ein entsprechendes Interesse. Selbst die ersten SIA-Normen mit rudimentären Erdbebenbestimmungen von 1970 wurden weitgehend ignoriert.

Dann erschütterte am 6. Mai 1976 ein heftiges Erdbeben die italienische Region Friaul-Julisch Venetien südöstlich von Graubünden. Eine Minute lang mass man Erdstösse bis zu einer Magnitude von 6.2. So nah an der Schweiz war dieses Ereignis mit fast tausend Toten ein regelrechter Weckruf mit Paukenschlag. Seismologen und Ingenieure in Mitteleuropa nahmen sich der Thematik des Erdbebenverhaltens der Bauwerke vermehrt an.

Ebenfalls in den 1970er-Jahren traten bei Bauwerken öfter spektakuläre Fälle von Schwingungen auf – verursacht durch Wind, Verkehr, rhythmische menschliche Körperbewegungen oder rotierende oder stampfende Maschinen. Diese unerwünschten Bauwerksschwingungen sollten in den stets schlankeren und materialsparenderen Tragwerken systematisch vermieden werden. Dank intensiver Forschung lernte man in den folgenden Jahrzehnten bis heute, wie die Verletzbarkeit der Bauwerke durch Erdbeben oder andere dynamische Einwirkungen stark reduziert werden kann.

Pionierarbeit leistete dabei der 2000 emeritierte ordentliche ETH-Professor Hugo Bachmann. Er entwickelte aus bescheidenen Anfängen heraus innert vier Jahrzehnten ein neues, ­modernes Fachgebiet der Bauingenieurwissenschaften.

Unaufgeregt packend

Diese zeitweilig schleppende Entwicklung, die viel Hartnäckigkeit und Beharrlichkeit einforderte, hat Bachmann nun in «Wenn Bauwerke schwingen» festgehalten. Ein Buch, das sich bei Titel und Umschlag zurückhält, mit dem Inhalt aber beeindruckt. Informativ ist bereits das Inhaltsverzeichnis, das für sich einen rudimentären Einblick in das Thema des Buchs gibt. Das Cover verdeutlicht den Kontrast zwischen Ruhe und Aufsehen – im ruhigen Bordeaux­rot erkennt man die Millennium ­Bridge über die Themse in London, die nur zwei Tage nach ihrer Eröffnung wegen unkontrolliert ­heftiger Schwankungen wieder geschlossen werden musste – ein spektakulärer Fall in der Weltöffentlichkeit.

Das Buch mit einem Geleitwort von alt Bundesrat Moritz Leuenberger – als Bundesrat war er zuständiger Minister für Infrastrukturen und für alle Naturgefahren auf Stufe Bund – fesselt denn auch mit zunächst geradezu rätselhaft anmutenden Ereignissen und Vorfällen: eine doppelstöckige Turnhalle in Zürich Fluntern, deren Decke sichtbar hoch und nieder schwang, wenn in der oberen Halle Gruppen hüpften und sprangen, sodass selbst Bachmann die Flucht ergriffen hätte, wenn er nicht aus Vorberechnungen gewusst hätte, dass keine unmittelbare Einsturzgefahr bestand; ein grosser, acht Tonnen schwerer Betonträger, der, angeregt von einem einzelnen hüpfenden Mann, so stark aufschaukelte, dass er von den Lagern abhob und mit einem lauten Knall wieder zurückfiel; die Vorgehensweisen bei der Schlussredak­tion der Norm SIA 160 (1989), wobei sich die Stahlbaulobby klammheimlich durchsetzte; oder eben die Londoner Millennium Bridge, die die Ingenieure von Ove Arup ungeachtet der Fachpublikationen ohne Querversteifungen konstruierten.

Das Buch fesselt aber auch, weil es eingehend und verständlich geschrieben ist. Selbst die trockenen und fachlichen Themen wie die Problematik der Dämpfung und der Einsatz von Schwingungstilgern oder die revolutionäre Methode der Kapazitätsbemessung für Erdbeben­einwirkungen beschreibt Bachmann in einer begreiflichen und aufschlussreichen Weise.

Die Ich-Formulierungen und die Interviews mit Persönlichkeiten, die Wesentliches zur Entwicklung der Wissenschaft und Praxis der Bauwerksschwingungen und des erdbebengerechten Bauens in der Schweiz und darüber hinaus beigetragen haben, machen die Ereignisse zudem greifbar. Die wichtigsten Ereignisse sind schliess­lich am Ende des Buchs noch einmal übersichtlich chronologisch aufgelistet.

Klare Botschaft 

Man erkennt eine klare Botschaft im Buch, das man nicht zwingend von vorn nach hinten lesen muss: Längerfristig ist das Erdbebenrisiko die Naturgefahr mit dem grössten Schadenpotenzial. Diese Botschaft und die Erkenntnisse aus der Forschung flossen nur langsam in die Praxis ein. «Erst seit etwa fünf Jahren», so Bachmann, «ist die Erdbebensicherheit von Bauwerken für die meisten Architekten und Bauherrschaften selbstverständlich.»

Bachmann stieg in den 1970er-Jahren in das noch wenig entwickelte Wissenschaftsgebiet «Tragwerke unter dynamischen Einwirkungen» ein, um mitzuhelfen, es voranzutreiben. Es ging ihm vor allem darum, «eine problemorientierte und anwendungsbezogene Baudynamik zu entwickeln und sie den bis dahin nur ‹statisch› denkenden Bauingenieuren schmackhaft zu machen».

Dies ist ihm und seinen zahlreichen Mitstreitern, die Bachmann im Buch erwähnt und teilweise zu Wort kommen lässt, offensichtlich gelungen. Heute nimmt die Schweiz im Bereich des Erdbeben­ingenieurwesens und in der Baudynamik weltweit eine bedeutende und führende Rolle ein – sowohl in der Lehre als auch in der Praxis.

«Wenn Bauwerke schwingen» ist ein – im übertragenen und wahren Sinn – gewichtiges Werk, das die Entwicklung des Erdbebeningenieurwesens und der Baudynamik aus den Kinderschuhen heraus bis heute festhält. Dabei prägt Bachmann als Autor und ­Protagonist die Geschichte und die Geschichten. Das Buch ist dadurch auf gelungene Weise eine lesens­werte Monografie, ein erhellendes Lehrbuch, eine von persönlichen und menschlichen Erlebnissen gespickte berufliche Biografie sowie ein wissenschaftliches Handbuch zugleich.

Angaben zur Publikation
 

Hugo Bachmann, Wenn Bauwerke schwingen. Baudynamik und Erdbebeningenieurwesen in der Schweiz. vdf Hochschulverlag, Zürich 2015. 19.6 × 26.2 cm, 440 S., zahlr. farbige Abb. ISBN: 978-3-7281-3678-7, Fr. 68,–


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