«Viel­falt bringt Din­ge vor­an»

Walter J. Ammann begann als klassi­scher Bauingenieur. Im Laufe der Zeit beschäftigte er sich zunehmend mit anderen Themen, seit 2006, als Präsident des Global Risk Forum in Davos, mit Gefahren und Risiken aller Art.

Publikationsdatum
19-10-2012
Revision
01-09-2015

TEC21: Sie sind Bauingenieur und sehen sich selbst als Grenzgänger. Warum?
Walter J. Ammann:
Bauingenieure haben, ähnlich wie Juristen, die Möglichkeit, sich in verschiedenen Gebieten zurechtzufinden. Das Global Risk Forum (GRF) organisiert zum Beispiel im nächsten Jahr einen Kongress mit dem Titel ‹One Health›, bei dem wir zeigen möchten, wie eng die menschliche und die tierische Gesundheit mit der Nahrungsmittelproduktion und einer intakten Umwelt zusammenhängen. Unser Ziel ist es, Humanmediziner, Tierärzte, Pharma- und Lebensmittelindustrie zusammenzuführen, um über Themen wie Allergien oder von Tieren auf Menschen übertragbare Krankheiten zu diskutieren oder welche Auswirkungen es für die Ärmsten hat, wenn die Lebensmittelpreise steigen, weil wir Biomasse als Treibstoff nutzen. Solche Themen integral anzugehen, finde ich spannend. Sie entstehen aus dem Wunsch heraus, etwas zu bewegen. 

Sind Sie Bauingenieur geworden, um sich in der Entwicklungshilfe zu engagieren?
W. J. A.:
Die Entwicklungshilfe war nicht der Beweggrund. Mein Traum als Kind war es, Konditor zu werden. Heute ist mir das Engagement für die humanitäre Hilfe in Katastrophen, für nachhaltige Entwicklung und umfassende Risikoreduktion wichtig. Es gibt zwei Milliarden Menschen, die mit weniger als zwei Dollar pro Tag auskommen müssen. Wenn sich diese Menschen auf den Weg machen, wird es auch in der industrialisierten Welt zu Problemen kommen. Wir sehen das zurzeit an den Migrationsbewegungen in Afrika. Verschärft wird die Situation durch die zunehmende Landdegradation, denn bewirtschaftbarer Boden ist eine begrenzte Ressource wie Wasser oder Luft. 

Wenn nicht die Entwicklungshilfe der Grund für die Studienwahl war, was war dann ausschlaggebend?
W. J. A.: 
Etwa ein halbes Jahr vor der Matura habe ich gemerkt, dass ich ein Studium mit mathematischen und physikalischen Elementen suche. Ich habe mich für das Bauingenieurwesen entschieden, in der Hoffnung, konkrete Dinge entstehen zu sehen und etwas verändern zu können. Ich habe Grundbau, Geotechnik und Wasserwirtschaft vertieft und in verschiedenen Ingenieurbüros auf diesen Gebieten gearbeitet. 1978 bin ich an die ETH zurückgekehrt, um meine Kenntnisse im konstruktiven Ingenieurbau zu vertiefen. Durch mein Dissertationsthema ‹Die optimale Zerstörung von Brücken im Kriegsfall› bei Hugo Bachmann kam ich mit der Baudynamik und der Erdbebensicherheit in Berührung. 

Haben Sie Ihre neu erworbenen Kenntnisse ebenfalls in der Privatwirtschaft angewandt ?
W. J. A.: Ab 1984 habe ich in der Privatwirtschaft an einem Projekt zur nuklearen Endlagerung mitgearbeitet. Nach zwei Jahren habe ich die Leitung einer Forschungsabteilung bei Hilti übernommen und mich mit Befestigungsmitteln für Schienenwege oder, mit Blick auf die Erdbebensicherheit, mit Klebearmierungen beschäftigt. Mein Traum war es, eine Textiltapete zu entwickeln, um das Mauerwerk zu verstärken. Das ist mir leider nicht gelungen. 

Einige Jahre später übernahmen Sie die Leitung des Instituts für Schnee- und Lawinenforschung (SLF). Wie kam es dazu?
W. J. A.: 
Ich wurde angefragt. Mir war als Aufgabe des SLF allerdings nur die Lawinenwarnung bekannt. Nachdem ich das Institut und seine vielfältigen Aufgaben näher kennengelernt hatte, habe ich zugesagt. Besonders gereizt haben mich die Führungsverantwortung, die Möglichkeit, Menschen für neue Aufgaben zu begeistern und eine Strategie für die Zukunft des SLF zu erarbeiten. In den folgenden Jahren haben wir uns neben den angestammten Themen mit der Entwicklung von Steinschlagnetzen, Skiern, Wachs oder auch Winterreifen beschäftigt. Mir war die Zusammenarbeit von Industrie und Forschung wichtig.  

Mit der Gründung des Global Risk Forum haben Sie mit 58 Jahren noch einmal neu angefangen. Andere denken in diesem Alter bereits an die Pensionierung.
W. J. A.: 
Ich wollte etwas Neues tun. Man muss bereit sein, aus angestammten Bahnen auszubrechen. Ich wollte erreichen, dass die vielen Risiken und Katastrophen vermehrt interdisziplinär und gesamtheitlich angegangen werden. So habe ich mit Unterstützung vom Bund, des Kantons Graubünden, der Gemeinde Davos und der Privatwirtschaft die Stiftung ‹Global Risk Forum GRF Davos› gegründet. Heute arbeiten wir in einem interdisziplinären Team von acht Personen. Dazu kommen externe Partner. Die Mischung der Disziplinen und die Breite der Themen sind wichtig, denn Vielfalt bringt Dinge voran. Wichtig ist die Bereitschaft, anderen zuzuhören und auch deren Lösungen zu übernehmen.  

Welche Aufgaben hat das GRF?
W. J. A.: 
Wir haben uns zum Ziel gemacht, den Austausch zwischen den Disziplinen zu fördern, das beinhaltet zum Beispiel Natur- und Sozialwissenschaften, die Finanzwirtschaft oder die Medizin. Wir versuchen, Akteure aus der Politik, der Gesellschaft und der Wirtschaft zu vernetzen. Aus diesem Grund organisieren wir jedes Jahr eine ‹International Disaster and Risk Conference›. Unsere ‹Platform for networks for risk and disaster experts› dient als virtuelle Fortsetzung dieser Konferenzen. Die ‹Risk Academy› befasst sich neben Aus- und Weiterbildungskursen mit Projekten zur Risikobeurteilung, -wahrnehmung und -kommunikation.  

Mit welchen Risiken beschäftigen Sie sich?
W. J. A.: 
Wir beschäftigen uns mit allen Arten von Gefahren und Risiken. Neben Naturgefahren sind das Gesundheits- oder Finanzrisiken, Terrorismus oder aktuell die Situation in Afrika. Allein die Ereignisse der letzten 18 Monate zeigen die Abhängigkeit der verschiedenen Risiken untereinander. Zum Beispiel verursachte ein technischer Defekt die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko. Das wirkte sich auf die Umwelt aus, aber auch auf die Aktienkurse. In Japan löste das Erdbeben einen Tsunami aus. Es kam zu technischen Störungen, insbesondere im Atomkraftwerk in Fukushima. Diese Ereignisse werden sich ebenfalls auf den Finanzmarkt auswirken. Schätzungsweise kommen zu den rund 200 Mrd. Dollar für die Erdbeben- und Tsunamischäden Verluste im hohen dreistelligen Milliardenbereich durch die Auswirkungen auf die weltweite Nuklearenergieindustrie und die Wirtschaft in Japan. 

Sie erwähnten die Projektarbeit Ihrer Stiftung. Was sind deren Inhalte?
W. J. A.: 
Wir beschäftigen uns im Rahmen von Weltbank- oder EU-Projekten zum Beispiel mit Naturgefahren und technischen Risiken. Wir untersuchen, wie sich ein Erdbeben, Hochwasser oder Sturm auf die Energieversorgung oder auch auf die Internetverfügbarkeit auswirkt. Wir weisen die beteiligten Institutionen auf die Risiken und deren mögliche Auswirkungen hin und machen Vorschläge, wie die Anlagen geschützt werden könnten. Es sind einfache Dinge, an die man aber denken muss: ein Notstromaggregat über dem Hochwasserspiegel anzuordnen beispielsweise oder so zu platzieren, dass es nicht durch einstürzende Bauteile beschädigt wird. Wichtig ist bei unseren Überlegungen, abzuschätzen, wie man die Gelder zwischen Prävention, Ereignisfall und Wiederaufbau aufteilt. Die Finanzen sind limitiert, deshalb ist es auch wichtig, die verschiedenen Risiken abzuwägen und Sicherheiten anzugleichen, denn ein Zuviel an Investitionen am einen Ort fehlt andernorts. Wir können uns zudem nur bis zu einem bestimmten Mass schützen und müssen auch bedenken, was in einem Ereignisfall zu tun ist. Machen wir uns nichts vor: Auch die Schweiz wäre bei Katastrophen wie in Japan oder Haiti extrem gefordert und auf fremde Hilfe angewiesen.

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