Turm und Wol­ken­krat­zer. Ei­ne kur­ze Ge­schich­te des Hoch­hau­ses

Hochhäuser sind seit je ein Experimentierfeld und ein Spiegel des technischen, sozialen und kulturellen Wandels ihrer Zeit. Der Text erzählt von den ersten Bauten in Chicago und New York, von Entwicklungsetappen in Europa und davon, in welche Richtungen manche heutige Entwürfe abdriften.

Publikationsdatum
10-07-2020

Die Hochhausarchitektur hat ihren Ursprung in Chicago, wo das Stadtzentrum nach dem Grossen Brand von 1871 mit einem grösseren Anteil an Bürogebäuden und dank zwei Innovationen jener Jahre – des von Elisha Graves Otis erfundenen Aufzugs und des Stahlskelettbaus – mit höheren Gebäuden wiederaufgebaut wurde.

Diese neue Bauweise wurde im ausklingenden 19. Jahrhundert immer weiter verbessert, vom Home Insurance Building (1884–1885) von William Le Baron Jenney, dem ersten mit einem Stahlskelett, bis zum Reliance Building (1890–1895) von Burnham and Root mit seiner dank der Loslösung von den hergebrachten Stilen radikal vereinfachten Fassade. Der wichtigste theoretische Beitrag über die künstlerischen (und technischen) Implikationen stammt von Louis Sullivan, der im Artikel The Tall Office Building Artistically Considered (1896) von einer Gliederung der Wolkenkratzer in drei Teile sprach: Sockel, Hauptkörper und Krone.

Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden auch in New York die ersten Hochhäuser. Auf das Woolworth Building (1910–1913) von Cass Gilbert, das mit seinen 241 Metern Höhe und dem damals schnellsten Aufzug der erste eigentliche Wolkenkratzer war, folgten das Chrysler Building (1929–1930) von William Van Alen im typischen Art-Déco-Stil jener Jahre, das Empire State Building (1930–1931) von Shreve, Lamb & Harmon, das bis 1972 das höchste blieb, und das Rockefeller Center (1930–1939) von Raymond Hood, bei dessen Erbauung dieser auch innovative Überlegungen zur Gestaltung des Raums zwischen den Gebäuden einfliessen liess.

Der Wettbewerb für das Gebäude der Chicago Tribune von 1922 – den Hood and Howells gewannen und an dem auch Eliel Saarinen, Walter Gropius und Adolf Loos (mit einer riesigen dorischen Säule) teilgenommen hatten – erwies sich aufgrund der dabei entstandenen Debatte und der Heterogenität der Vorschläge als einer der wichtigsten Momente des Austauschs über dieses Thema.

Im frühen 20. Jahrhundert gelangte das Hochhaus auch nach Europa. Die ersten Exemplare tauchten mit den Avantgarden auf, die ihre Hoffnungen einer Gesellschaft im Wandel in diese Bauform setzten: Umberto Boccioni beschrieb in seinem Manifest der futuristischen Architektur (1914) urbane, von hoch aufragenden «amerikanischen Wolkenkratzern» geprägte Szenerien; Antonio Sant’Elia schlug in seiner Serie von Zeichnungen La città nuova (Die neue Stadt, 1914) variable, dynamische Räume vor, mit wie Maschinen konzipierten Hochhäusern.

In den 1920er-Jahren reiften neue typologische und bauliche Experimente heran, die in zwei Entwürfen von Ludwig Mies van der Rohe Ausdruck fanden: im neuen Bürohochhaus für die Friedrichstrasse (1920) mit dreieckigem Grundriss und im Glashochhaus (1922), für dessen Kurven die «Belichtung des Gebäudeinneren» und «das Spiel der erstrebten Lichtreflexe» bestimmend waren.

In jenen Jahren festigte sich die Funktion des europäischen Hochhauses als ordnendes Element im städtischen Gefüge – man denke nur an die «Turm-Städte» (1922) von Auguste Perret und die «Wolkenbügel» (1925) von El Lissitzky, die in Moskau an den Zugängen zum Zentrum erbaut werden und so als neue urbane Bezugspunkte dienen sollten – sowie als mögliche Lösung gegen die Wohnungsnot, dies auch dank der Beiträge von Walter Gropius und Le Corbusier am Internationalen Kongress Moderner Architektur CIAM von 1930 («Rationelle Bebauungsweisen. Flach-, Mittel- oder Hochbau?»). Während Gropius jedoch der Meinung war, Hochhäuser und drei- bis fünfstöckige Häuser könnten effizient nebeneinander bestehen, vertrat Le Corbusier die Auffassung, nur mit Hochhäusern könne eine höhere Einwohnerdichte in den Grossstädten erreicht werden.

Ab der Nachkriegszeit entwickelte sich die Debatte auch in Mailand weiter, wo die Torre Velasca (1951–1958) von BBPR und das Pirelli-Hochhaus (1955–1960) von Gio Ponti und Pier Luigi Nervi die historische Dichotomie zwischen Turm und Wolkenkratzer versinnbildlichten, also zwischen einem Gebäude, das visueller und symbolischer Bezugspunkt im Gelände sein will, und einem, das seine Daseinsberechtigung darin findet, Teil eines pluralen Systems vertikaler Bauten zu sein, und damit auf einen individuellen Charakter verzichtet, wie Ludwig Hilberseimer schrieb.

Heute driften die Entwürfe in diesem Bereich in drei Richtungen ab: Streben nach Grösse (die Höhe scheint der relevanteste Wert eines Gebäudes zu sein); Verlust der Bedeutung der Form, die oft darauf ausgerichtet ist, bauliche Grenzen auszureizen und natürliche Formen aller Art nachzuahmen (die Haltung gegenüber der Geschichte ist dabei unkritisch); Reduzierung des Entwurfsverfahrens auf die alleinige Wahl einer Gebäudehülle, ohne Raum für Experimente.

In einer kürzlich durchgeführten Studie konnten wir jedoch am Beispiel einiger Neubauten aufzeigen, dass Hochhäuser auch für die heutige Stadtentwicklung sinnvoll sein können, vorausgesetzt, sie tragen Ideen hinsichtlich Komfort, Attraktivität, Nachhaltigkeit und Beziehung zum Ort in sich und sind Resultat eines Prozesses, der die Probleme und das Potenzial der vertikalen Anordnung vollumfänglich berücksichtigte.

Autor

 

Matteo Moscatelli schloss 2002 sein Studium der Architektur ab und promovierte 2008 am Politecnico di Milano in «Architettura, Urbanistica, Conservazione dei lugohi dell’abitare e del paesaggio». Aktuell arbeitet er als Architekt im Studio Moscatelli und lehrt am Politecnico di Milano, am Mailänder Istituto Europeo di Design und im Frühjahrssemester an der University of Southern California. Er ist Autor mehrerer Publikationen zur Stadtentwicklung in verschiedenen Metropolen der Welt, darunter Architecture in Shanghai. History, Culture and Identity (2019), L’edificio alto residenziale nell’architettura europea (2017) und Zurigo. La ricerca dell’essenziale (2006).

Alle Artikel des Dossiers «Vertikales Wohnen»

 

Wohnraum Turm – Renaissance einer Form der Verdichtung,  Tania Perret

 

Hochhauswohnen im Wandel der Zeit, Eveline Althaus

 

Video 01 – Antoine Hahne, architeckt, Pont12, Lausanne

 

Video 02 – Paolo Poggiati, Landschaftsarchitekt, Bellinzona

 

Video 03 Maria Lezzi, Direktorin des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE)

 

Turm und Wolkenkratzer. Eine kurze Geschichte des Hochhauses, Matteo Moscatelli

 

Video 4 - Heinrich Degelo , architekt, Basel

 

Video 5 Fredy Hasenmaile, Managing Director bei der Credit Suisse

 

Video 6 – Etienne Räss, Bauingenieur und Stadtplaner, Leiter von La Fabrique de Malley

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