Sze­na­ri­en für die Al­pen­stadt in den nächs­ten 100 Jah­ren: 3. Sa­lon

Der «Salon Suisse» 2014 von Pro Helvetia an der Architekturbiennale

Der dritte «Salon Suisse» vom 30. Oktober bis zum 1. November 2014 im Palazzo Trevisan degli Ulivi war dem Thema «Use – The culture of Cities» gewidmet. Auch diese von Hiromi Hosoya und Markus Schaefer kuratierte Begegnungsreihe zielte auf einen interdisziplinären Dialog ab, mit dem mögliche zukünftige Szenarien für die Alpenstadt entwickelt werden können.

Publikationsdatum
01-02-2015
Revision
01-09-2015

Für die drei Gespräche wurden auf der Grundlage der von Henri Lefebvre in «Le Droit à la Ville» (1968) aufgestellten Postulate Leitideen für die drei Abende formuliert. Die Stadt ist nicht nur eine materielle Darstellung der Produktionsmittel oder des Marktgeschehens, sondern auch ein soziales Konstrukt, in dem die Personen – die Bürgerinnen und Bürger – das Recht haben, ihr eigenes Schicksal zu gestalten; ein Ort, an dem die sozialen Beziehungen des täglichen Lebens und die räumliche Gestaltung sich gegenseitig bedingen. Daher besteht die Notwendigkeit, durch einen interdisziplinären Ansatz die Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Dimensionen hervorzuheben.

Es wurde bereits festgestellt, dass die Schweiz ein «künstliches», polyzentrisches und interregionales städtisches Netzwerk ist. Die Forschung konzentriert sich jetzt vermehrt auf das Problem der Zersiedelung, der Infrastrukturen und des Wachstums, während die Globalisierung ein Überdenken des Prozesses der urbanen Transformation erfordert, um deren Bedeutung für die zeitgenössische Stadt herauszukristallisieren. In der Schweiz haben das üppig verfügbare Kapital, die geringe Experimentierlust in der Stadt und die dringende Notwendigkeit, die Beziehungen zwischen Stadt und Land neu zu gestalten, zu einer allgemeinen Unausgewogenheit des nationalen Stadtnetzes geführt, dessen räumliche Veränderungen untersucht werden müssen, um wirksame Massnahmen zu ermitteln.

Der erste Abend: «Cooperative, Open and Resilient»

Diskussionsteilnehmer sind P.M., alias Hans Widmer (Schweizer Autor und Aktivist, der sich mit Fragen der Stadt, der Ökologie und des Gemeinguts befasst, Mitbegründer von Neustart Schweiz und unterschiedlicher Wohngenossenschaften), Hannes Gassert (Schweizer Unternehmer, Mitbegründer von Opendata.ch, Kurator von Veranstaltungen, auf denen Technologie, Medien und Kultur sich durch Initiativen vermischen, die auf nicht gewinnorientierte Modelle und auf das Verhältnis von Demokratie und Transparenz fokussieren) und Alfredo Brillembourg (Mitbegründer des S.L.U.M LAB - Sustainable Living Urban Model Laboratory - an der Columbia University sowie Professor an der ETH Zürich, wo er sich mit informellen Siedlungen im globalisierten Süden befasst, Co-Direktor des Urban Thinktanks U-TT mit Sitz in Caracas und Berater für Städteplanung bei OAE/Unesco).

Die Entwicklung der Genossenschaften hat in jüngster Zeit den Gemeinplatz Lügen gestraft, laut dem Städte anonym sind und man nur auf dem Land in wahrer Gemeinschaft leben kann. Die Kuratoren heben hervor, dass die schweizerischen Städte als Agglomerationen von kleinen historischen Kernen in einem vielfältigen Mosaik aus Orten und sozialen Umfeldern gewachsen sind. Die überdimensionierten Wohnstandards, die veralteten Flächennutzungspläne und die Dynamik der Immobilienspekulation haben das System jedoch blockiert. In seinem Buch Bolo'bolo (1983) – einem wahren «Manifest für eine städtische Sippe» – entwirft Widmer die utopisch-ökologische Zukunftsvision autonomer sozialer Zellen aus etwa 100 Menschen. Seine Ideen haben unterschiedliche Wohngenossenschaftsprojekte beeinflusst, von denen einige bereits realisiert wurden und andere im Bau befindlich sind.

Technologien, Netzwerke und digitale Gemeinschaften – in diesem Bereich arbeitet Gassert – könnten diese Vision abrunden, da sie sich direkt auf die sozialen Beziehungen und auf die Verhaltensweisen auswirken. Da Informationen (Data) Macht und Kontrolle bedeuten, müssen sie zwingend frei sein (Open Data). Obwohl Datenschutz und Datensicherheit eine Illusion sind, sind «Online-Communitys» immer weiter verbreitet. Es stellt sich die Frage, ob diese Initiativen wirklich der Beginn einer innovativen, von Offenheit und Inklusion gekennzeichneten Phase sind oder ob es sich nur um einen Versuch der Virtualisierung der sozialen Beziehungen handelt, von dem nur eine Elite profitiert.

Durch die Arbeit von Brillembourg in Lateinamerika wird dieser Ansatz auch auf konfliktreichere Situationen ausgeweitet, in denen mangelnde Ressourcen den Erfolg von nachhaltigen Wohnprojekten gefährden. Er versucht dabei, die räumliche Vielfalt der informellen Siedlungen als Schlüsselelement für Massnahmen an Orten mit hoher demografischer und sozialer Dichte zu verstehen und neu zu interpretieren– ein Beispiel ist das Projekt Gran Orizzonte für den Torre David in Caracas, einem unvollendeten Wolkenkratzer, der von Hunderten von Familien besetzt wurde, die den Rohbau nach und nach durch Eigenleistungen fertiggestellt haben. So sind auch Slums Siedlungen, die als Orte analysiert werden müssen, in denen trotz mangelnder Ressourcen innovative Ideen für eine im Wandel begriffene Stadtplanung entstehen. Durch U-TT werden Methoden für eine nachhaltige Architektur propagiert, die physische Orte der Integration, der Partizipation und der Unterstützung für ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen der grossen Metropolen generieren können.

Der zweite Abend: «Communal, Collective and Constitutive»

Die Gäste sind der chinesische Architekt Jiang Jun (Kurator des chinesischen Pavillons, Chefredaktor von «Urban China Magazine» und Autor von Publikationen wie Urban China: Work in Progress , 2009, und A Village by the SEZ, 2010), der holländische Ingenieur Marijn Spoelstra  (Experte für Finanzprozessstrategien, Gründer von Mountainworks, einer Beratungsgesellschaft für ganzheitliche Stadtentwicklung) und der Schweizer Architekt Harry Gugger (Professor an der EPFL und Mitglied der Holcim Foundation for Sustainable Construction, ehemaliger Partner von Herzog & de Meuron und seit 2010 Inhaber eines eigenen Architekturbüros in Basel).

Die Stadtentwicklung wird allgemein als Prozess angesehen, durch den ein Ort ganzheitlich aufgewertet werden kann. Demzufolge sind Städte Infrastrukturen, die auf bestimmte Standortfaktoren reagieren: Dichte, Zugänglichkeit und Nähe sind das Ergebnis der Grundstückspreise, die durch angemessene planerische Massnahmen erhöht werden können. Das moderne China bildet natürlich ein vollkommen neues Labor für die Stadtplanung, und Jiang Jung ist dank seiner vielfältigen Forschung, bei der er unter anderem die Merkmale der Entwicklung von über tausend Jahre alten Dörfern untersucht hat, ein faszinierender Gesprächspartner. Nach einer Analyse von über 200 chinesischen Städten hat er einen besonderen Verlauf des städtischen Wachstums herausgearbeitet, bei der bestimmte Schemata sich in verschiedenen Massstäben logisch wiederholen: Der öffentliche Raum der Dörfer, die sich im vollständigen Wandel befinden, ähnelt oft einer Miniaturausgabe der Hauptstadt.

Auch in dem Beitrag von Spoelstra, der der stark ausgeprägten niederländischen Planungstradition entstammt, werden die Veränderungen der letzten 30 Jahre hervorgehoben, die reich an urbanen Experimenten waren. Das gilt zum Beispiel für die Anwendung des Mechanismus einer grossmassstäblichen «kommunalisierten Verwaltung», der zunächst von oben verfügt wurde und sich jetzt auch auf niedrigeren Ebenen verbreitet, wobei ein Mittelweg zwischen diesen zwei Vorgehensweisen wünschenswert wäre.

Gugger fokussiert in seiner Forschung auf die Schnittstelle zwischen architektonischen und städtischen Problemkreisen. Er sieht im niederländischen Top-down-Ansatz die Möglichkeit, effiziente Strategien der Raumplanung implementieren zu können, was sich in der Schweiz als besonders schwierig erweist.

Ökologische Aniegen werden durch die Widersprüche des westlichen freien Marktes systematisch entfernt, und man kann sich daher fragen, ob und wie diesen Belangen im chinesischen System Rechnung getragen werden kann. Die bisher gezeigten Beispiele illustrieren die tief greifenden Unterschiede zwischen den Dynamiken eines zentralisierten Massenwohnmarktes wie in China (der zuerst vollkommen in öffentlicher Hand war und jetzt von einer gemischten Wirtschaft bestimmt wird), den in den holländischen Kommunen entwickelten Wohnprojekten und der Immobiliensituation in der Schweiz.

«Wir leben in einem offenen System und hängen von den auf dieser Erde verfügbaren Ressourcen ab», betont Gugger. Die Konflikte zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen kollektiver und individueller Dimension betreffen daher direkt das Grundeigentum in einem System, das kurz vor dem Kollaps steht. In der Schweiz gibt es zahlreiche Ressourcen (Know-how, Kapital, Technologie und Energie), die es ermöglichen, den Ort, an dem wir leben, zu verändern. Dies impliziert jedoch auch die Gefahr des Scheiterns. Können wir uns vorstellen, dass die Eidgenossenschaft in einhundert Jahren dynamische Grenzen hat, in denen die unterschiedlichen ökologischen Sphären sich durchdringen? Werden die künftigen Generationen ökologisch so unterrichtet, dass sie verstehen, wie sie sich verhalten müssen 

Der dritte Abend: «Identity, Ideas and Institutions»

An der letzten Begegnung diskutieren der Schweizer Kritiker und Kulturunternehmer Martin Heller (von 1986 bis 1999 Leiter des Züricher Museums für Gestaltung, künstlerischer Leiter der Expo.02, Leiter von Linz 2009 / Europäische Kulturhauptstadt, Berater für die Ausstellung IBA Berlin 2020 und Kurator des Zukunftsprogramms Humboldt-Forum der deutschen Hauptstadt), der britische Politikanalyst Mark Leonard (Mitbegründer des European Council on Foreign Relations ECFR, des ersten unabhängigen Thinktanks, der eine Debatte über eine kohärente Entwicklung der grundlegenden Werte der europäischen Aussenpolitik anstösst; Leonard ist spezialisiert auf Themen der Globalisierung und schreibt häufig Beiträge für die wichtigsten internationalen Zeitungen) sowie der Schweizer Architekt Marcel Meili, Professor an der ETH Zürich und Inhaber des Büros Meili Peter Architekten mit Sitz in Zürich und München.

Das Thema des Abends ist eng mit dem Konzept des Nationalstaats verknüpft, der heute eine Krise durchmacht. Auch wenn die Städte weiterhin im Zentrum der Weltwirtschaft stehen, erfordern neue internationale Bündnisse in einem hochgradig integrierten globalisierten Markt einen Wandel des institutionellen Gefüges. Die Ausgangsfrage in Bezug auf die Schweiz ist daher: Wie hat sich ihre Identität in den letzten 20 Jahren verändert 

Heller unterstreicht, dass dieser Begriff langfristig angelegt ist und immer im Plural definiert wird: als Swiss identities, ein grundlegendes Element beispielsweise für die Gestaltung der Expo.02. Bekanntlich haben Nationalausstellungen in der Schweiz immer eine wichtige Rolle für die Stärkung des «Gemeinschaftssinns» gespielt. Sie boten einen Anlass, um kollektiv über die Formen nachzudenken, mit denen sich die Schweiz darstellt. Aber wie kann man sich entwickeln, ohne seine Grundwerte zu verlieren? Mit dieser Prämisse präsentierte sich die Expo.02 als eine Plattform für Begegnungen, umgesetzt in fünf schwimmenden «Arteplages» im Drei-Seen-Land als unterschiedliche Szenarien, deren Themen von Architektur-Ikonen mit grosser Wirkung visualisiert wurden (von Jean Nouvels «Monolith» bis zur «Wolke» von Diller+Scofidio) und die eine Vielfalt von Ereignissen und spannenden Interpretationen produzierten, welche die Gründungsmythen immer wieder aufgriffen und infrage stellten. Die Erzeugung neuer Bilder und Vorstellungen könnte der Schlüssel sein für die – offene und dynamische – Suche nach der schweizerischen Identität der Zukunft.

In seinem Beitrag bringt Leonard die Bedeutung und die Komplexität, die das Thema «nationale Identität» heute für jeden Staat des «globalen Dorfes» besitzt, auf den Punkt. Die Überzeugung, eine globalisierte Wirtschaft könne Frieden bringen, wird von den zahlreichen Konflikten und der Krise der repräsentativen Demokratien widerlegt, während die Technologie ein immer grösseres Netzwerk enttäuschter Bürger entstehen lässt.

Meili, Mitbegründer des ETH Studio Basel (Institut Stadt der Gegenwart), betont, dass das Thema der Identität in der schweizerischen Kulturdebatte eine lange Tradition hat. Seit der historischen Konstruktion der Neutralität als Land, das «nicht mitspielt», bis zur grossen Schwierigkeit, die Tatsache zu akzeptieren, dass die Beziehungen zum Ausland in den Metropolen  organisiert und geregelt werden, gelingt es der Schweiz nicht, in den internationalen Beziehungen entspannt zu agieren. Es gibt unterschiedliche «Schweizen», und sie gehen nicht alle im gleichen Takt. Die Schweiz wird aber in diesem langen und fortwährenden Prozess der Identitätskonstruktion auch durch die Bilder neu erfunden, die andere von ihr haben – ein Resultat also der Ambivalenz zwischen Unabhängigkeit und globaler Interdependenz.

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