Sug­ges­ti­ve Un­schär­fe

Architekten arbeiten oft mit Modellen – seit 30 Jahren auch mit digitalen Modellen. Diese haben Vorteile, doch sie entfremden die Entwerfenden zugleich von ihrer Arbeit. Gebaute Architektur ist ein materielles Phänomen, das nicht nur im Kopf entsteht, sondern auch unter den Händen.

Publikationsdatum
02-04-2014
Revision
18-10-2015

Der Begriff «Modell» wurde in der Renaissance geprägt und leitet sich vom Lateinischen «modus» (Mass) beziehungsweise von «modulus» (Massstab) ab. Modelle sind neben den Zeichnungen das klassische Medium der Darstellung in der Architektur. Vereinfachend lassen sich zwei Kategorien von Architekturmodellen unterscheiden: zum einen jene, die eine wichtige Rolle auf dem Weg von der architektonischen Idee zum fertigen Entwurf spielen – die Arbeitsmodelle. Zum andern jene, die gebaut werden, wenn das Projekt im Wesentlichen fertig entwickelt ist, und deren vorrangiger Zweck die Vermittlung des Entwurfs an Dritte ist – die Repräsentationsmodelle. Diese beiden Typen unterscheiden sich grundsätzlich. Mit dem Arbeitsmodell sucht man einen räumlich-architektonischen Gedanken zu entwickeln. Diese Art von Modell richtet seine Aussage vor allem an den Ersteller selbst. Das Arbeitsmodell beantwortet Fragen und wirft oft sogleich neue auf. Die andere Art von Modell dient der Kommunikation mit Dritten – den Auftraggebern, den Finanzierern, der Öffentlichkeit. Es soll keine bestehenden Fragen unbeantwortet lassen und keine neuen aufwerfen. 

Eine zweite taxonomische Trennungslinie kann senkrecht zur ersten gezogen werden: Es ist die Unterscheidung zwischen «analogen» und «digitalen» Architekturmodellen. Analoge Modelle sind aus verschiedenen Materialien meist von Hand gefertigte körperliche Objekte. Sie vermitteln uns ihre Botschaften ganz unmittelbar durch ihre Wirkung auf unsere Sinnesorgane. Demgegenüber sind digitale Modelle Raumdarstellungen, die zunächst nur virtuell in Computern, nicht aber real existieren – Konstrukte in euklidisch-mathematischen Räumen, erstellt über die Interfaces der Rechner. Die digitale Modellierung hat erst vor etwa 30 Jahren Einzug in die Architekturpraxis gefunden, sich aber sehr schnell und umfassend etabliert und die gesamte Produktion von Architektur nachhaltig verändert.1 

An die Lösung herantasten

Welche Rolle können analoge Arbeitsmodelle in der heutigen Architekturpraxis und insbesondere im architektonischen Entwerfen unter diesen Umständen noch spielen? Wirken vor dem Hintergrund, dass heute zwar noch von Hand skizziert, aber kaum noch mit Zeichenbrett und Tuschefüller gezeichnet wird, analoge Modelle nicht antiquiert  

Das Arbeiten mit dem Computer ist mittlerweile in vielen Situationen selbstverständlich. Dafür gibt es nicht nur ökonomische Gründe. Jedes Medium hat seine spezifischen Vor- und Nachteile, zum Beispiel bezüglich der Bedienbarkeit, der Skalierbarkeit der Darstellung und des Informationsgehalts. Dies ist nicht zuletzt deshalb entscheidend, weil sich je nach Phase im architektonischen Entstehungsprozess die Anforderungen an die Hilfsmittel ändern: Während in den frühen Phasen des Realisierungsprozesses die Entwicklung der architektonischen Idee im Vordergrund steht, sind es in den mittleren eher die konstruktive Durchbildung und Materialisierung und in den späten Phasen die Umsetzung des Erdachten in ein gebautes Werk.

Die analogen Entwurfswerkzeuge des Architekten sind einfach und billig und von jedermann beherrschbar: die Skizzenrolle, der Bleistift; das Blatt Papier, die Reissschiene; Karton, Schere, Leim, Holz und Gips. Andererseits sind diese Arbeitsmittel ungenau: Der Bleistift wird beim Zeichnen stumpf und das Papier wellt, der Schnitt im Karton ist schief. Vor allem aber sind analoge Werkzeuge unscharf, verwischt – fuzzy. Skizziert wird mit einem weichen Stift. Mit dessen unscharfem und dadurch vieldeutigem Strich arbeitet der Entwerfer nach und nach seinen architektonischen Lösungsvorschlag heraus. Und auch bei analogen Arbeitsmodellen ist es die Interpretierbarkeit, die Suggestivität der Unschärfe, die gesucht wird. Der Raum, die Tektonik des Bauwerks, seine Materialität wird tastend erfühlt und erfahren. Dazu bedarf es des physischen Objekts, und es bedarf des Architekten, der stets auch «Hand-Werker» ist. 

Modell und Zeichnung verschmelzen

Digitale Zeichen- und Modelliersysteme sind demgegenüber komplex und teuer. Sie implizieren eine vollständige Abstraktion des geplanten Bauwerks in Daten, und ihre Bedienung bleibt meist technischen Spezialisten überlassen. So ist der Entwerfer selbst – der Architekt – immer öfter ausserstande, digitale Modelliersysteme mit der gleichen Selbstverständlichkeit zu bedienen, mit der er Papier und Bleistift oder Messer und Karton verwendet. Digitale Modelliersysteme sind zudem von «unmenschlicher» Präzision: Punkte, Linien und Flächen im digitalen Raum sind mathematische Artefakte, deren Lage und Dimension oft auf viele Stellen nach dem Komma genau bestimmt werden. 

Das digitale Modellieren hat aber ohne Zweifel ein Potenzial, das heute wohl erst zum Teil ausgeschöpft wird. Der fundamentale Unterschied zu den analogen Werkzeugen ist, dass die «Zeichnung» nicht getrennt vom «Modell» existiert. Im CAAD steht das dreidimensionale Modell im Zentrum der Entwicklung, und Pläne, Fassaden, Schnitte und Perspektiven sind Ableitungen des Modells. Das digitale Modell ist zumindest im Prinzip frei in seiner Massstäblichkeit, denn alle Dimensionen im Modell entsprechen der Wirklichkeit. Das digitale Modell ist schliesslich unbegrenzt vervielfältig- und veränderbar: Von einem Urtypus ausgehend können umfassende Variantenbäume erstellt werden.

Die unmittelbare Erkenntnis

Welche Auswirkungen diese fundamentalen Änderungen bei den Berufswerkzeugen auf die Architektur und die darin verkörperten Ideen und Vorstellungen, aber auch auf den Bauprozess haben, ist noch wenig hinterfragt. In vielen Architekturbüros wird zudem trotz aller Digitalisierung weiterhin mit analogen Modellen gearbeitet; sie kommen schwerpunktmässig in den frühen Entwurfsphasen zum Einsatz, beispielsweise für volumetrische Studien, für die Analyse von Licht und Schatten, aber auch für Untersuchungen zu Aufbau und tektonischer Schichtung des Bauwerks.

Man muss dennoch kein Luddit2 sein, um zu postulieren, dass analoge Modelle in gewisser Weise unabdingbar sind für ein qualitativ hochstehendes architektonisches Entwerfen. Digitale Modelle können analoge nicht vollständig ersetzen, denn ein analoges Modell ist ein dingliches Objekt, das sich aus sich selbst heraus und nicht nur über ein Interface – einen Monitor, einen Drucker – erschliesst. Zudem ist beim analogen Modellieren der Prozess selbst fast ebenso wichtig für den Erkenntnisgewinn wie das fertige Produkt. Analoge Modelle haben in ihrer Körperlichkeit und ihrer haptischen Zugänglichkeit (die – wir wissen es – auch für das Verstehen der gebauten Umwelt entscheidend ist) eine Direktheit, die ein digitales Modell nie besitzen kann.

Nun wäre dies nicht weiter problematisch, wenn je nach beabsichtigter Wirkung mal das eine, mal das andere Werkzeug verwendet würde, was immer für die jeweilige Aufgabe besser geeignet ist bzw. besser «zur Hand geht». Es gibt jedoch eine Tendenz, sowohl in der Lehre als auch in der architektonischen Praxis, die heikel ist, weil sie wegführt vom Einsatz analoger Modelle. Eine Entwurfspraxis aber, die sich nicht mehr eines ihrer ganz ursprünglichen und unmittelbaren Werkzeuge bedient, wird tendenziell eine ärmere Architektur sein. 

Anmerkungen

  1. Dieses Thema wird in einem späteren Heft vertieft. 
  2. Der Begriff «Luddismus» bezeichnet eine der grossen Wellen des Kampfs englischer Arbeiter Anfang des 19. Jahrhunderts. Mit der einsetzenden Industrialisierung drohte Statusverlust und soziale Verelendung einherzugehen. Die Ludditen wehrten sich dagegen.
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