Die Zu­kunft kon­fi­gu­rie­ren

Es ist kein Geheimnis, dass die Planungs- und Baubranche weiterhin Nachholbedarf in Sachen Digitalisierung hat. Ein Blick auf Lösungen aus der IT-Branche zeigt, welche Potenziale brach liegen und welche Mehrwerte sich für alle Beteiligten schaffen liessen.

Publikationsdatum
04-07-2023

Manchmal sind es schlichte Tatsachen in Kombination mit einer treffenden Frage, die einem ins Grübeln bringen. Etwa über die Digitalkompetenzen und -gewohnheiten der Schweizer Bevölkerung: Aus einer Auswertung des Bundesamts für Statistik geht hervor, dass aktuell weit über 50% der Gesamtbevölkerung im Alter zwischen 15 und 44 Jahren erweiterte digitale Kompetenzen besitzt. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Zahlen zur Internetnutzung – im Jahr 2021 nutzten 96% der 15- bis 88-Jährigen das Internet –, nimmt dazu den zunehmenden Bevölkerungsanteil von «digital natives» und den pandemiebedingten Schub im Onlinehandel, findet man auf die Frage von Aron Heynen, ob das Haus der Zukunft per App geplant und gekauft werden könnte, nicht die spontan vermutete Antwort.

Heynen ist Eigentümer der Solothurner Firma Sitewerk, die digitale Lösungen wie Websites, Applikationen und 3-D-Konfiguratoren programmiert und Kunden punkto Digitalisierungsstrategien berät. Eine Vorführung der von der Firma selbst oder teilweise mit Partnern entwickelten 3-D-Konfiguratoren lässt das spontane «Nein» als Antwort auf seine Frage zumindest vorübergehend verstummen.

Es begann mit einem 3-D-Solar-Rechner

Erste Berührungspunkte von Sitewerk mit der Bauwelt entstanden durch eine familiäre Verbindung: Heynens Bruder Noah ist CEO und Co-Gründer des Energiedienstleisters Helion, der vor Kurzem von der AMAG-Gruppe übernommen wurde. Sitewerk beriet Helion bei der Etablierung eines digitalisierten Verkaufsprozesses und schuf mit dem 3-D-Solar-Rechner eine E-Commerce-Plattform. Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit war die Feststellung der beiden Brüder, dass Verkaufs- und Offertstellungsprozesse in der Handwerksbranche mit grossem Aufwand verbunden sind und oftmals viel Geduld seitens der Kundschaft erfordert. So tritt klassischerweise eine Hauseigentümerin mit ihrem Vorhaben an einen entsprechenden Dienstleister, der daraufhin bei einem Hausbesuch die zur Offertstellung erforderlichen Angaben sammelt.

Mit dem Solar-Rechner entfällt dieser Initialaufwand für den Energiedienstleister und das Warten auf eine Richtofferte für die Kundschaft. So kann die Kundin im Online-Konfigurator selbst die massgebenden Grundlagedaten eintragen, auf Basis eines swisstopo-Plug-ins geeignete Dachflächen und deren Geometrie sowie ergänzend die individuellen Bedürfnisse erfassen. Über eine CRM-Schnittstelle beim Energiedienstleister wird daraus automatisch eine Richtpreisofferte generiert. Die Kundin erhält so unabhängig der Beratungszeiten des Unternehmens in Minutenschnelle eine Offerte, für das Unternehmen entfallen aufwendige Hausbesuche.

Im konkreten Fall von Helion reduzierten sich dank des 3-D-Solar-Rechners die Verkaufskosten um die Hälfte, während sich mit der Abwicklung von aktuell durchschnittlich 400 solcher Anfragen pro Tag der Umsatz – bei gleichzeitiger Erhöhung des Komforts auf Kundenseite – gegenüber Zeiten vor dem Konfigurator verfünffachte. Mittlerweile nutzt gar IKEA Schweiz in Zusammenarbeit mit Helion diesen Konfigurator, um Solarsysteme zu verkaufen.

What about BIM?

Zugegeben: Das sind Anwendungen, die hauptsächlich für Hersteller und Endkunden interessant sind. Aber wie steht es ums Planungswesen? Angesprochen auf die herausfordernde Schnittstellenbewirtschaftung und Koordination verschiedener Gewerke im digitalen Planungsprozess schüttelt Heynen augenblicklich die nächste Lösung aus dem Ärmel.

Kürzlich stand ein Anbieter für Küchen- und Badezimmereinrichtungen zusammen mit einem Holzbauer und einem Sanitärplaner vor der Herausforderung, eine Vielzahl von standardisierten aber in ihren Detailabmessungen voneinander abweichende Nasszellen nach den Plänen des Architekten in einem Hotel zu verbauen. Die manuelle Planung jeder einzelnen Nasszelle brächte in einem solchen Fall einen enormen Aufwand mit sich.

So programmierte Sitewerk einen Algorithmus, der den Grundrissplan des Architekten als Basis nimmt, diesen auf geometrische Unstimmigkeiten und Widersprüche prüft, auf parametrisierte Daten des Holzbauers, des Badezimmerausstatters und des Sanitärs zurückgreift, daraus ein fertiges Bad inklusive Vorwandsystem generiert und wiederum ins Planungsmodell überführt. Daraus resultierte letztlich für alle Beteiligten eine Effizienzsteigerung auf einem Niveau, von dem vermutlich die meisten BIM-Anwender in der Planungsbranche aktuell noch träumen.

Digitalisierung ohne Ende – vom Gartenhaus bis zur Daten-Cloud

Im Gespräch mit Heynen zeigt sich immer mehr, wie immens die Planungsbranche vom Wissen der IT-Spezialisten profitieren könnte. In Frankreich beispielsweise, wo es seit dem Inkrafttreten der neuen Umweltschutzverordnung 2022 bei Neubauten bestimmte Vorgaben zur CO2-Bilanz einzuhalten gilt, hat Sitewerk für ein auf Fassadenplanung spezialisiertes Ingenieurunternehmen einen 3-D-Konfigurator entwickelt, der als Nebenprodukt den CO2-Fussabdruck ausgibt.

Für einen kanadischen Produzenten von modularen Holzhäusern entwickelten die Solothurner einen Konfigurator, der mit fotorealistischen Visualisierungen als Schnittstelle zwischen den in Haustyp, Geometrie, Materialisierung und sonstigen Parametern ausgedrückten Wünschen der künftigen Eigentümer und der parametrisierten Planung des Herstellers fungiert.

Bei gewissen Lösungen arbeitet Sitewerk mit der österreichischen Firma ShapeDiver zusammen, die sich auf leistungsstarke Cloud-Applikationen für die Zusammenarbeit zwischen einzelnen Fachspezialisten respektive zwischen Fachspezialisten und Kunden bei Planungs- und Designprozessen spezialisiert hat. Daraus entstehen enorme Synergien, mit denen auch die Planungsbranche ihre Effizienz steigern könnte.

Die Grenzen setzt der Mensch

Grenzen des technisch Machbaren sieht Heynen demnach nicht. Vielmehr seien es die Menschen, die Vorbehalte hätten. Ein Hersteller oder Handwerker mit vollen Auftragsbüchern beispielsweise sehe oftmals keinen Anlass, seine Prozesse zu optimieren oder gar zu digitalisieren. Auch gebe es selbstverständlich nach wie vor Menschen, die ihr neues Möbel in der Ausstellung eines Möbelhauses zuerst erleben und nicht aus einem fotorealistischen Konfigurator – solche entwickelte Sitewerk auch schon – kaufen möchten.

Vor dem Hintergrund der Individualität jedes Bauwerks naheliegend ist ebenfalls die Frage, ob sich klassische Aufgaben der Planungsbranche – etwa die architektonische Beratung – durch Konfiguratoren überhaupt ersetzen lassen. Heynen winkt ab: Er sieht seine Konfiguratoren vordergründig als effizienzsteigernde Ergänzung und Mehrwert für das Kundenerlebnis und keinesfalls als Ersatz für Planungskompetenzen.

Kommen wir also nochmals auf die grundsätzliche Frage zurück, ob sich das Haus der Zukunft per App planen und kaufen lässt. Die Antwort aus technischer Sicht lautet somit «ja». Das zeigt ferner das «Cake House»-Projekt von drei jungen Prager Architekten, die mithilfe von ShapeDiver modulare Holzhäuser anbieten, ohne dabei – nach eigenem Dafürhalten – Abstriche bei der architektonischen Qualität machen zu müssen.

Gleiches gilt sicherlich auch für einzelne Renovationsvorhaben wie beispielsweise den Einbau einer neuen Küche in einem Einfamilienhaus. Je grösser aber das Objekt und/oder komplexer die Rahmenbedingungen und Anforderungen jenseits standardisierter Produkte, desto mehr sind traditionelle Planungs- und Handwerkskompetenzen und -prozesse gefragt. Aber gewiss liessen sich Letztere mithilfe digitaler Lösungen noch ein wenig optimieren.

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