«Die Zei­ten von Neu­bau­ten auf der grü­nen Wie­se sind vor­bei»

Die Planungs- und Baubranche muss sich weiterentwickeln. Darüber, wie dies gelingen kann und was es dazu braucht, sprechen Hubert Rhomberg, Geschäftsführer eines Bauunternehmens und Urs Rieder, SIA-Co-Präsident ad interim.

Publikationsdatum
06-12-2023

Die Folgen des Klimawandels sind drastisch; Extremereignisse wie Starkregen und Hitzeperioden nehmen zu. Die Planungs- und Baubranche trägt massgeblich zu dieser Entwicklung bei. Über ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen wird durch die Bautätigkeit verursacht. Im Gespräch diskutieren Hubert Rhomberg und Urs Rieder, wie der Wandel zu einem zukunftsfähig gestalteten Lebensraum gelingen kann.

SIA: Herr Rhomberg, am Swiss­­bau-Eröffnungsanlass im Januar werden Sie ein Bild der Baubranche im Jahr 2050 zeichnen. Können Sie bereits heute mit uns in die Zukunft reisen?

Hubert Rhomberg: Wie wir heute arbeiten, ist ineffizient und mit einer enormen Verschwendung von Ressourcen verbunden. Die gesamten Aufgaben in einem Bauprojekt sind zerlegt – Teams, Schnitt­stellen und Regeln müssen immer wieder neu zusammengestellt und definiert werden. Das können wir uns nur schon wegen des Fachkräftemangels nicht mehr leisten. Es wird deshalb mehr logische Wiederholungen, Vereinheitlichungen und Systematiken geben. Damit meine ich nicht, dass wir einheitliche Kisten multiplizieren und alles gleich aussehen wird. Es braucht die gestalterischen Möglichkeiten. Diese greifen aber auf einen – bereits heute digital vorhandenen – Lösungskasten zurück.

Urs Rieder: Letzteres ist entscheidend. Systembau, Vereinfachung und Vereinheitlichung funktionieren nur im Zusammenspiel mit einer Gestaltung, die auf lokale und städtebauliche Situationen eingeht. Im Systembau hat man das lange vernachlässigt. Nur mit einer hochwertigen Baukultur kann langfristig nachhaltig gebaut werden.

Rhomberg: Genau, denn sonst gibt es ein Akzeptanzpro­blem. Den soziokulturellen Anspruch der Planung halte ich grundsätzlich für unverzichtbar. Damit meine ich die Qualität des sozialen Miteinanders oder das Verständnis von Architektur auch als Raum zwischen den Gebäuden. In diesem Bereich steigt der Qualitätsanspruch in Zukunft durch gesellschaftliche Heraus­forderungen und die Integration von Technologien in den Alltag.

Die Schweiz ist Europameisterin im Produzieren von Bauabfällen. Müssen wir den Umgang mit Materialien überdenken?

Rieder: Es braucht kluge Konzepte, der Materialeinsatz muss reduziert werden und die Nutzungsneutralität muss gegeben sein. Das bedingt auch, dass wir die Kreislauffähigkeit von jedem Gebäude mitdenken. Retrospektiv haben wir das zu wenig berücksichtigt. Es geht auch darum, über ansprechende Grundrisslösungen suffizienter zu werden. Ich bin überzeugt, dass daraus mit guten Konzepten kein Qualitätsverlust resultiert. Denn wir werden es uns nicht mehr leisten können, den Bedarf an Wohnfläche pro Person weiter zu steigern.

Rhomberg: Das ist ein wichtiger Punkt, setzt aber voraus, dass die Qualität des öffentlichen Raums da sein muss. Früher waren Wohnungen sehr klein. Dafür hat man sich draussen aufgehalten, bis die Infrastruktur für das Auto kam.

In der Schweiz ist das Netto-Null-Ziel seit diesem Sommer gesetzlich verankert – der SIA setzte sich vor der Abstimmung dafür ein. Was sind nun die drängendsten Aufgaben?

Rieder: Es braucht eine enorme Steigerung des Tempos, um den Wandel zu einer Netto-Null-Gesellschaft voranzutreiben. Und Neubauten müssen zur Ausnahme werden. Heute werden Gebäude aus den 60er-, 70er- und 80er-Jahren abgerissen und ersetzt. Denn sie sind oft so gebaut, dass sie nicht an die heutigen Bedürfnisse angepasst werden können. Deshalb ist es zentral, dass wir heute Gebäude bauen, die Bestand haben und in der Nutzung weiterentwickelt werden können.

Rhomberg: Die nachhaltigste Form des Bauens ist nicht zu bauen. Das muss das Ziel sein. Wir versuchen jeweils gemeinsam mit den Bauherrschaften herauszufinden, ob Bauen die Lösung für das Problem ist oder ob es andere Möglichkeiten gibt. Ist der Bedarf da, prüfen wir, ob der Bestand umgenutzt werden kann. Danach kommt, den Bestand zu nutzen – also das Aufstocken. Wenn diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind, über­bauen wir versiegelte Flächen wie Parkplätze.

Rieder: Die Zeiten von Neubauten auf der grünen Wiese sind vorbei. Es braucht gesetzliche und finanzielle Anreize für das Weiterbauen und Verdichten im Bestand. In der Schweiz gibt es noch keine vernünftige CO2-Bepreisung oder Baugesetze, die das Weiterbauen am Bestand fördern. Und es fehlen Grenzwerte für Treibhausgasemissionen bei der Erstellung von Gebäuden. Ein griffiges CO2-Gesetz kommt erst jetzt in die Verhandlung.

Was braucht es, damit sich die Lösungen aus der Planungsbranche durchsetzen?

Rieder: Bei Neubauten ist der Netto-Null-Betrieb bereits üblich, bei Bestandsbauten kann er durch Sanierungen erreicht werden. Es gibt also Lösungen. Für die Umsetzung braucht es jetzt Investitionen und Fachleute.

Rhomberg: Eine zentrale Frage ist, wer die Sanierungen bezahlt. Es wird nichts passieren, wenn der Mieter durch die Sanierung bis zu 80 % der Energiekosten einspart, der Vermieter aber nicht mehr Miete verlangen kann.
Das sind Themen, die gesetzliche Regelungen erfordern.

Und bei den Planenden?

Rieder: Ein wichtiger Punkt ist die Aus- und Weiterbildung der Baufachleute. Viele Pioniere gehen mit guten Lösungen voraus. Aber wir müssen diese in die Breite bringen und die ganze Branche mitnehmen. Dafür ist der Ansatz von Open Source sehr spannend.

Rhomberg: Die besten Lösungen bleiben Einzellösungen, wenn es keine Best Practice gibt, die geteilt wird. Dabei reicht es nicht, nur Ideen zu teilen. Das Wissen aus der Abwicklung muss einbezogen werden, also die Kosten oder wie etwas produziert wird. Die Einstellung zum Teilen von Know-how ist ein Bewusstseinsproblem. Wir versuchen die Welt mit Innovationen zu retten, hoffen dann aber, dass die Innovation ein Patent bekommt. Herr Rieder sagt, es brauche Anreize. Ich sage: Förderungen gibt es nur für diejenigen, die ihr Wissen teilen.

Braucht es eine neue Kultur der Zusammenarbeit?

Rieder: Mit der Digitalisierung und Vereinheitlichung der Arbeitsprozesse verändert sich auch die Zusammenarbeit. Es braucht ein neu ausgehandeltes und auf Effizienz ausgerichtetes Zusammenspiel zwischen Bauherrschaft, Planungs- und Realisierungsteam. Dank der Digitalisierung können beispielsweise auch Eigenschaften und Anwendungen von Materialien viel tiefer dokumentiert werden. Daraus ergibt sich eine andere Art, an den Entwurf heranzugehen.

Rhomberg: Ein weiterer Punkt: Es braucht mehr Partnerschaftsmodelle. Wir wickeln bereits verschiedene komplexe Grossprojekte in einer Art Arbeitsgemeinschaft ab. Das heisst, wir profitieren gemeinsam und leiden gemeinsam. Es geht nicht darum, Schuldfragen zu klären. Wir verbrauchen heute nämlich einen grossen Teil der Ressourcen, um herauszufinden, wer verantwortlich ist und wer die Mehrkosten übernimmt. Das können wir uns nicht mehr leisten, weil uns die Fachkräfte dafür fehlen. Unsere jungen Baufachleute machen das nicht mehr mit.

Rieder: Der SIA erarbeitet zurzeit mit dem Merkblatt SIA 2065 Planen und Bauen in Projektallianzen einen Leitfaden für ein partnerschaftliches Zusammenarbeitsmodell. Das Thema greifen wir auch an einer Veranstaltung an der Swissbau auf.

Der SIA an der Swissbau

 

Der SIA ist als Leading Partner mit einem vielfältigen Programm an der Swissbau vom 16. bis 19. Januar 2024 vertreten (vgl. Agenda S. 29). Das gesamte Engagement des SIA und Informa­tionen zum Gratis-Ticket für SIA-Mitglieder in der Übersicht: sia.ch/swissbau

Eröffnungsfeier: Die Welt und die Baubranche im Jahr 2050

 

Die Schweiz befindet sich im Wandel. Die Bau- und Immobilienbranche ist gefordert, auf die aktuellen Heraus­forderungen wie Fachkräftemangel, Digitalisierung oder Kreislaufwirtschaft Antworten zu geben: Welche Trends werden die Zukunft prägen und wie können wir gemeinsam kreative Impulse setzen? Mit einer Keynote von Hubert Rhomberg und anschliessendem Podium unter anderen mit Urs Rieder. Organisiert von der Stammgruppe Planung von Bauenschweiz unter Beteiligung von Alain Oulevey, SIA-Co-Präsident ad interim.

 

Dienstag, 16. Januar 2024, 10.15–11.30 Uhr, Swissbau Focus

 

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