«Regionale Projekte lancieren»
Geograf und Stadtforscher Christian Schmid im Gespräch über Raumentwicklung in der Schweiz
Die kurze Distanz zwischen urbanen Zentren und intakter Landschaft ist eine spezifische Qualität der Schweiz. Doch sie ist in Gefahr, wenn wir weiter Landschaft verbrauchen wie bisher. Wir müssen umlernen am besten in regionalen Projekten mit breiter Beteiligung, schlägt Christian Schmid vor.
TEC21: In welche Richtung läuft die Raumentwicklung in der Schweiz?
Christian Schmid: Ich sehe zwei Tendenzen: die Wiederentdeckung der Städte und die Zersiedelung. Die Städte werden schon seit einiger Zeit wieder als attraktive Standorte gesehen. Die Nachfrage nach Wohnungen und Arbeitsplätzen hat kontinuierlich zugenommen, und heute herrscht eine eigentliche Wohnungsnot, nicht nur in Zürich und Genf, sondern auch in kleineren Städten. Die Innenstädte werden mit verschiedenen Massnahmen aufgewertet und zunehmend für vermögende Bevölkerungsgruppen reserviert: Die Bodenpreise steigen, weniger zahlungskräftige Schichten werden verdrängt. Diese grossflächige Aufwertung bedroht genau das, was die Qualität der Städte ausmacht, nämlich ihre soziale Vielfalt, ihre vielseitigen Angebote und ihre Offenheit für Neues.
Gleichzeitig schreitet die Zersiedelung an den Rändern der Agglomerationen weiter voran. Sie erreicht bereits die Alpen. Die Landschaft bildet den Kern dieser Problematik: Die Menschen kommen nicht aus Platznot hierher, sondern weil sie in einer schönen Landschaft wohnen möchten, und bauen deshalb ihre Einfamilienhäuser am liebsten mitten hinein. Die Konsequenz ist klar: Wenn das viele tun, sind die Landschaften schnell verbraucht. Das Resultat ist nicht die erträumte Idylle, sondern eine zersiedelte und zerstückelte Landschaft, die massiv an ästhetischem Wert und auch an Gebrauchswert verliert. Das ist für alle sichtbar, fühlbar, erfahrbar. Der sozialräumliche Wandel hat also zwei Brennpunkte: die Innenstädte und die Ränder der Agglomerationen. Für beide brauchen wir praktikable Lösungen.
Welche Strategien scheinen Ihnen erfolgversprechend?
Schmid: Wir haben einen Paradigmenwechsel hinter uns: Die Regionalplanung hatte sich seit ihrer Entstehung nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ziel gesetzt, die Zersiedelung zu verhindern. Sie versuchte, die wirtschaftliche und die demografische Entwicklung mittels Plänen und Konzepten zu lenken, die am Schreibtisch entstanden sind. Dieses technokratische Vorgehen war von Anfang an erfolglos. Trotzdem hielt man jahrzehntelang an dieser Vorstellung von Regionalplanung fest. Jetzt hat man sie weitgehend aufgegeben. Doch was ist der Ersatz dafür? Die eine Antwort, die heute stark verbreitet ist und eine aktive Lobby hat, lautet: Wir brauchen gar keine Regionalplanung, die Gemeinden können das alleine, die Kantone sollen möglichst wenig hineinreden, der Bund am liebsten gar nichts tun. Die andere Position versucht, intelligentere Vorgehensweisen vorzuschlagen, entwickelt neue Steuerungsinstrumente und probiert sie teilweise auch aus.
Wie könnte man die Wohnungsnot in den Städten entschärfen?
Schmid: Man muss zunächst akzeptieren, dass urbanes Wohnen und Arbeiten heute wieder gefragt ist. Unsere Innenstädte sind aber viel zu klein, um die enorme Nachfrage zu befriedigen. Wir müssen deshalb an den Rändern der Städte und teilweise auch in den Agglomerationen neue Quartiere mit urbanen Qualitäten schaffen. Dafür müssen wir auch die entsprechenden Flächen und Infrastrukturen bereitstellen, was meistens auch Kooperationen zwischen verschiedenen Gemeinden und Kantonen erfordert.
Und wo sehen Sie Mittel gegen die weitere Zersiedelung?
Schmid: Hier geht es vor allem um Fairness und Kostenwahrheit: Wir müssen erkennen, dass die Zersiedelung heute massiv subventioniert wird. Eine Strasse oder eine Buslinie kosten pro Kopf in einem dünn besiedelten Gebiet wesentlich mehr als in einem dichten Stadtquartier. Aber auch die Erhaltung der Kulturlandschaften wird über die Landwirtschaftspolitik subventioniert. Wir müssen die Kosten unserer Wohn- und Lebensweisen erfassen, auch die indirekten und versteckten, und sie auf die Verursacher und Nutzniesser umlegen. Man hätte so endlich Klarheit über die wahren Kosten und die negativen Nebeneffekte der Zersiedelung. Das gilt auch für steuertechnische Massnahmen. Die Begünstigung des Eigenheimbesitzes im Steuerrecht, die Abzugsfähigkeit der Pendelkosten, die neuerdings geforderte Förderung des Bausparens das führt zur ungerechtfertigten Bevorzugung einer bestimmten Wohnform, dem Einfamilienhaus, gegenüber Wohnformen, die weniger Landschaft und Ressourcen verbrauchen. Das alles sind Beispiele von offenen und versteckten Subventionierungen der Zersiedelung, die man abschaffen sollte.
Der Ansatz der Kostenwahrheit stösst vor allem in Berggebieten auf Widerstand?
Schmid: Ja, weil die Berggebiete besonders stark von direkten und indirekten Transferleis-tungen profitieren. Man wird sich immer dafür entscheiden können, gewisse Gebiete gezielt zu fördern, aus Solidarität oder weil man bestimmte landschaftliche Qualitäten erhalten möchte. Aber heute subventionieren wir generell alle peripheren und wenig dicht besiedelten Gebiete auch solche, die sehr wohlhabend sind.
Sehen Sie weitere gangbare Wege für die Regionalplanung?
Schmid: Wir sollten weniger über Vorschriften und Verbote operieren, sondern bestehende Potenziale ausschöpfen, neue Möglichkeiten ausprobieren und regionale Projekte lancieren. Das sind Projekte, in denen eine gemeinsame Vorstellung über die Zukunft der Region entwickelt wird, und zwar nicht am Schreibtisch, sondern politisch und sozial breit abgestützt, getragen von der Bevölkerung. Es geht darum, die Stärken einer Region wahrzunehmen und zu fragen: Was haben wir anzubieten? An welcher Zukunft wollen wir gemeinsam arbeiten? Damit würden die Regionen an Profil und Qualität gewinnen, die Unterschiede würden gestärkt statt ausnivelliert wie heute. Regionale Projekte könnten zudem die schwerfälligen Instrumente der Raumplanung durch flexiblere und effizientere Steuerungen ersetzen, und sie würden die Raumentwicklung dem unergiebigen parteipolitischen Spiel entreissen. Sobald man in eine breite Debatte einsteigt, wird das Parteibuch weniger wichtig und die Diskussion sachbezogener. Die Erfahrung und die Kreativität der Bewohnerinnen und Bewohner kann zum Zug kommen. Zur Idee regionaler Projekte gehört auch, dass man wieder lernt, in grösseren Zusammenhängen zu denken. In einem so stark entwickelten, urbanisierten und erschlossenen Land wie der Schweiz sind die gegenseitigen Abhängigkeiten derart gross, dass eine lokale Massnahme Auswirkungen an ganz vielen anderen Orten hat.
Wäre dazu eine Einschränkung der Gemeindeautonomie nötig?
Schmid: Das ist eine zentrale Frage. Wir müssen uns tatsächlich fragen, ob wir die Gemeindeautonomie im Hinblick auf die regionale Entwicklung nicht beschränken müssen. Das rührt an ein Tabu, aber ich finde diese Debatte legitim und äusserst wichtig. Denn viel zu oft führt die Gemeindeautonomie zur Stärkung von Partikularinteressen und steht intelligenten Lösungen und gemeinsamen Strategien entgegen. Wenn wir die Vorteile lebendiger Städte und die Vorteile intakter Landschaften stärken würden, hätten alle mehr davon. Konkret würde das beispielsweise bedeuten, die Neubautätigkeit an einer geeigneten Stelle der Region zu konzentrieren und im übrigen Gebiet die Landschaft zu schonen. Das könnte über eine Bauzonenbörse organisiert werden oder mit direkten monetären Abgeltungen zwischen den Gemeinden. Doch solche Ideen haben es gegenwärtig sehr schwer.
Ist das eine Folge des Wettbewerbsdenkens?
Schmid: Ja. Der Wettbewerb wird heute als Allheilmittel in fast alle gesellschaftlichen Bereiche übertragen. Das hat auch zur Konsequenz, dass das Verständnis für das Gemeinwohl und die Solidarität schwinden. Ein besonders deutliches Beispiel ist der Steuerwettbewerb. Wenn man ihm keine Grenzen setzt, geht er bis zum Dumping, und wenn er auf einem so kleinteiligen Territorium wie in der Schweiz erfolgt, hat er ungewollte Nebeneffekte, die man kaum mehr kompensieren kann. Heute schaut fast jede Gemeinde nur für sich, und alle streben nach dem gleichen: mehr gute Steuerzahler anzuziehen. Als ob es nur noch darum ginge, möglichst wenig Steuern zu zahlen. Wenn wir gut essen möchten, dann gehen wir auch nicht ins billigste Restaurant. Ähnlich ist es mit der Lebensqualität in unseren Regionen die ist nicht gratis zu haben, und sie darf auch etwas kosten.
Warum ist Ihnen der Einbezug der Bevölkerung so wichtig? Diese hat ja heute schon weitgehende Mitspracherechte an der Urne, in Vernehmlassungen, über Einsprachen usw. Aber so, wie ich Sie kenne, geht es Ihnen nicht nur um die Legitimation von Projekten, sondern um die Suche nach Kreativität.
Schmid: Das stimmt. Ich rede nicht davon, dass Behördenvertreter mit Grundbesitzern und Investoren am Tisch sitzen, das hat mit Partizipation wenig zu tun. Es geht darum, dass möglichst grosse Teile der Bevölkerung mitreden und den Prozess aktiv mitgestalten. Wir haben in diesem Land sehr viele Leute, die in ganz vielen Bereichen sehr kreativ sind. Ich sehe, dass dieses Potenzial für die Entwicklung des Landes kaum genutzt wird. Die Politik ist heute uninspiriert, und die Planung war viel zu lange eine Domäne der Verwaltung und von Spezialisten. Es gibt deshalb heute kaum mehr lustvolle öffentliche Debatten über Planungsfragen. Die Öffentlichkeit wird eher als störender Faktor wahrgenommen. Das ist aus Sicht der Verwaltung nachvollziehbar, weil offene Prozesse die Terminkalender und Verfahrensabläufe durcheinanderbringen. Offene Debatten bieten aber die Chance, auf ganz neue Ideen zu kommen, sie dienen auch der Warnung vor Schwächen von Projekten und ausserdem der Sensibilisierung der Bevölkerung. In der direkten Demokratie muss man oft über Volksabstimmungen gehen und kommt dort nur mit breit abgestützten Projekten durch. Analysiert man Projekte, die politisch oder in Rekursverfahren gescheitert sind, stellt man oft fest, dass in der Planung wesentliche politische, soziale oder kulturelle Aspekte vernachlässigt wurden, sei das bei Grossbauten in den Städten oder bei Parkprojekten im Berggebiet. Mit öffentlichen Debatten in der Planungsphase könnte man solche Scherbenhaufen vermeiden.
Was wären mögliche Beispiele für partizipative, regionale Projekte?
Schmid: Etwa der ehemalige Militärflugplatz Dübendorf. Er ist die grösste Entwicklungsreserve der Region Zürich und liegt in der Flughafenregion mit ihrer unglaublichen Dynamik, deren Gemeinden zu einem dichten und komplexen städtischen Gebiet zusammenwachsen. In einem regionalen Projekt könnte man gemeinsam überlegen, was aus dem freien Feld in der Mitte werden soll. In den Berggebieten wären die verschiedenen Projekte für regionale Pärke zu nennen, die heute diskutiert werden. Ich finde sie allein schon deshalb wichtig, weil man über die Idee eines Parks miteinander ins Gespräch kommt. Dabei lassen sich unterschiedliche regionale Profile und Entwicklungsstrategien erarbeiten. Eine dritte Möglichkeit sind Gemeindefusionen, wenn sie zu genügend grossen Gebieten führen und man dabei auch über künftige gemeinsame Entwicklungsmöglichkeiten diskutiert. Der Kanton Glarus könnte hier mit seiner konsequenten Gemeindefusion eine Vorreiterrolle spielen.
Was wäre dabei die Rolle der Planungsämter und der Planungsfachleute?
Schmid: Bund und Kantone könnten vermehrt anregend wirken als Ideengeber für die Regionen. Ein nationales Leitbild wie das Raumkonzept Schweiz, das im Januar veröffentlicht werden soll, müsste eigentlich eine Inspirationsquelle sein. Und es müsste ein Projekt für die Schweiz enthalten. Die Schweiz hat vor allem eine Qualität, die weltweit immer seltener wird: die kurzen Distanzen zwischen urbanen Zentren und intakten Kultur- und Naturlandschaften mit guter Luft und sauberem Wasser. Die Schweiz ist sich dieser Qualität viel zu wenig bewusst.