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Istanbul erleben

Istanbul platzt aus allen Nähten. Um Platz zu schaffen, wird die Stadt umgebaut. Doch die Modernisierungsprogramme haben ihre Schwächen.

Publikationsdatum
21-05-2014
Revision
18-10-2015

Das klassische Bild Istanbuls ist das der Halbinsel mit der markanten Silhouette des Topkapi-Palasts, der Hagia Sophia und der historischen Moscheen und Minarette – drapiert über die sieben Hügel des antiken Byzanz, umschlossen von Goldenem Horn und Marmarameer und begrenzt von der Theodosianischen Mauer. Wer sich hingegen – wie die meisten Besucher – der Stadt aus der Luft nähert, wird sehen, dass dieser historische Kern heute nur einen winzigen Bruchteil des Territoriums ausmacht. Die antike Mitte wird mittlerweile von den unzähligen Schichten der modernen Stadt fast völlig verschluckt.

Von West nach Ost über den Bosporus hinweg und von Nord nach Süd zwischen den Meeren aufgespannt, erstreckt sich die Stadt heute über tausende Quadratkilometer, ein riesiger Siedlungsteppich, nur selten unterbrochen durch Parks und andere öffentliche Grünräume, aber zerschnitten von Ringautobahnen und vielspurigen Ausfallstrassen. An mehreren Stellen verdichtet sich dieses Stadtgefüge zu Clustern von Hochhäusern; sie markieren die kommerziellen Zentren der modernen Metropole, die sich wie Perlen an einer Kette den Tangentialautobahnen entlang aufreihen: Bebek, Levent, Gaziosmanpa a, Bakirköy im Westen der Meerenge; Beykoz, Ümraniye, Kartal im Osten – und ein Dutzend mehr.

In der Stadt fortbewegen

Istanbul hat nach offiziellen Zählungen etwa 15 Millionen, nach anderen bis 22 Millionen Einwohner – dies auf einem Stadtgebiet von etwa einem Siebtel der Schweiz. Das Leben in einer solchen Megalopolis ist für uns Schweizerinnen und Schweizer unvorstellbar. Dass die Verkehrsinfrastruktur trotz aller Investitionen weder mit dem explosiven Bevölkerungswachstum noch mit der ebenso rasant zunehmenden Zahl der Motorfahrzeuge auch nur annähernd Schritt gehalten hat, führt zusammen mit der Armut weiter Bevölkerungskreise dazu, dass viele Stadtbewohner Istanbuls kaum je über die Grenzen ihres Stadtviertels hinauskommen.

Andere wiederum verbringen täglich viele Stunden auf dem Weg zur und von der Arbeit – sei es per Fähre, Bus und Dolmu  (Sammeltaxi), sei es mit dem privaten Automobil. Aufgrund der chronischen Überlastung der Strassen sind Wegzeiten von zwei Stunden und mehr von der Wohnung zum Arbeitsplatz völlig normal  – auch wenn es sich faktisch nur um 20 oder 30 Kilometer Distanz handeln mag. 

Wer westliche Grossstädte kennt, wird staunen ob der zumindest heute noch eher marginalen Rolle, die die Metro im Verkehrsgefüge spielt. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Wenn man die historische Untergrund-Standseilbahn von Karaköy nach Beyo lu nördlich des Goldenen Horns ausser Acht lässt, wurde die erste U-Bahn-Linie Istanbuls erst 1989 eröffnet (die erste U-Bahn in London fuhr 1863, in Paris 1900).

In den letzten 40 Jahren wurde vor allem in die Strasseninfrastruktur investiert. Dabei spielen die Bosporusbrücken eine zentrale Rolle – die erste 1973 eröffnet, die zweite 1988. Mit den Brücken kamen auch die Tangentialautobahnen, die sich wie Zwiebelschalen um die historische Stadtmitte legten. Dem altbekannten Prinzip folgend, wonach das Angebot die Nachfrage generiert, haben sich die damit geschaffenen Kapazitäten jeweils in kurzer Zeit bis nah an den Kollaps gefüllt.

Auch mit der geplanten dritten Brücke und dem 2013 in Betrieb genommenen, aber noch nicht vollständig ins Netz eingebundenen Marmaray-Eisenbahntunnel, der die historische Altstadt mit dem gegenüberliegenden anatolischen Ufer verbindet, dürfte das nicht anders werden; dazu ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik Istanbuls einfach zu gross.

Städtebauliches Chaos

Die Konsequenzen dieser Eingriffe werden nicht nur das Stadtbild, sondern auch das Stadtleben für immer prägend verändern – wohl nicht nur zum Positiven. Die Bahnverbindung unter dem Bosporus hindurch wird den Druck der Besucherströme in die Altstadt hinein weiter erhöhen; dabei platzt diese heute schon aus allen Nähten. In den weiter aussen liegenden Bereichen werden die armen Stadtquartiere, von scheinbar romantischen, sozial aber höchst problematischen Gecekondu-Wohnhäuschen geprägt, mit rasanter Geschwindigkeit transformiert.

Sie weichen kommerziellen Zentren, staatlichem Massenwohnungsbau (sogenannten Toki-Siedlungen, auch diese mit hohem sozialem Konfliktpotenzial) und privaten Wohnanlagen für die Oberschicht (von Sicherheitsdiensten bewachten «Gated Communities»). Die letzten öffentlichen Parkanlagen und klassischen Plätze wie der Taksim in Beyo lu laufen Gefahr, den Shoppingzentren und pompösen Las-Vegas-artigen «Stadtverschönerungsprojekten» geopfert zu werden. 

Entflechten und vertikal schichten

Eine der wesentlichsten Veränderungen aber, die die Stadt derzeit erfährt, ist, dass sie nun vertikal geschichtet und entflochten wird. Die Wahrnehmung der Stadt war bisher davon geprägt, dass alles ebenerdig, auf Strassenniveau und bei natürlichem Licht stattfand – dies galt sowohl für die historische Altstadt wie auch für die Zentren in den Aussenquartieren. Der Pendler, der Händler und der Handwerker, der Camionneur und der Flaneur teilten sich den gleichen Stadt-(Strassen-)Raum.

Mit dem Auf- und Ausbau der Metro, noch mehr aber mit Strassenprojekten wie dem Be ikta -Ka thane-Tunnel, der den Beyo lu-Hügel durchlöchert und die Gegend um den Dolmabahçe-Palast am Bosporus mit dem Stadtquartier Ka thane kurzschliesst, verändern sich auch die Natur und das soziokulturelle Netzwerk des darüberliegenden Stadtraums grundlegend.

Welche Mechanismen und Überlegungen diesen Infrastrukturprojekten zugrundeliegen, die wohl oft ohne konsequente, sachgerechte Planung und nicht selten auch mit spekulativer Motivation realisiert werden, lässt sich im Nachhinein oft nur schwer ermitteln. Die Planungen für den öffentlichen Raum leiden in Istanbul zum einen unter dem enormen Immigrationsdruck und der explosionsartigen Bevölkerungsentwicklung, der eine gesteuerte Stadtentwicklung stets nur hinterherhecheln kann, zum anderen aber auch unter der Diskontinuität und Unberechenbarkeit der Politik. Eine gesamtheitliche, nachhaltige Stadtentwicklung ist unter diesen Umständen kaum möglich.

Wie bei jeder wirklich grossen – im wörtlichen wie übertragenen Sinn – und sich in ihrer Grösse kontinuierlich weiterentwickelnden Stadt hat auch im Fall von Istanbul jede Generation «ihre» Stadt, die sie liebt und hasst und der man ständig nachtrauert, weil sie Stück für Stück überschrieben wird von der Stadt der nächsten Generation. So ging die multikulturelle osmanische Metropole verloren zugunsten des republikanischen, modernen Istanbul, das nicht länger politisches, aber stets wirtschaftliches und kulturelles Zentrum des Landes war, und dieses republikanische Istanbul wird nun «umgepflügt», um Platz zu schaffen – doch wofür? Das Istanbul, das bestimmt wurde durch die Halbinsel und den Bosporus, ist in vielerlei Hinsicht nur noch ein touristischer Sehnsuchtsort, der mit dem täglichen Leben der grossen Mehrheit der Stadtbewohner kaum mehr etwas zu tun hat.

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