«Beim Spi­tal­bau darf die Funk­ti­on nicht mit Ge­ring­schät­zung be­han­delt wer­den»

OMA-Partner Reinier de Graaf erklärt das «Spital der Zukunft», eine Entwicklung für die Wüstenstadt Doha. Das Rotterdamer Büro will die Planung von Krankenhäusern neu denken: Die Gebäude verändern sich laufend und bleiben ohne Endzustand.

Publikationsdatum
16-12-2022


Herr de Graaf, Ihr Büro hat im Auftrag der Hamad Medical Corporation HMC den Al Daayan Health District in Doha entwickelt. Vorab eine ganz grundsätzliche Frage: Wie kann die Architektur zum Überleben der menschlichen Spezies beitragen?

Reinier de Graaf: Das klingt nun sehr dramatisch. Wenn wir das Wort «Überleben» durch «Leben» ersetzen, fühle ich mich viel wohler. Menschen leben inder Architektur. Ich glaube, dass Architektur per Definition den Willen der Menschen zum Leben widerspiegelt: Bauen ist Wohnen, Wohnen ist Leben. Ich denke also, dass Architektur eine alltägliche Aufgabe ist. Wenn man allerdings im Kontext des Gesundheits­wesens über die Aufgaben der Architektur spricht, wird aus dem Leben ein Überleben.


Es gibt zwei Gründe für meine Überlebensfrage: das Programm des Spitals und der Standort in der Wüste. Historisch gesehen würde man sagen, dies sei nicht unbedingt ein Ort, an dem Menschen dauerhaft leben.

Sie haben recht. In gewisser Hinsicht ergibt die Kombi­nation aus Spital und Ort mit für Menschen eigentlich undenkbaren Lebensbedingungen einen Sonderfall. Im Kontext des Spitals wird das Leben zum Überleben. Und verglichen mit einladenderen Umgebungen wird das Leben in der Wüste, wie das Leben im Spital, zu einer Form des Überlebens. Es ist die Kombination dieser Faktoren, der Typologie und der Lebens­bedingungen, die die Ansprüche an das Projekt angetrieben hat. Das macht es für uns besonders interessant.


Was steht auf dem Spiel, wenn Städte in der Wüste gebaut werden? Ihr Masterplan ist nicht das einzige Bauprojekt an einem solchen Ort; in den letzten Jahren gab es viele davon.

Menschen gründen manchmal an sehr offensichtlichen Orten Städte – aber natürlich gründen sie auch Städte an weniger passenden Orten. Architektur ist immer eine Folge der wirtschaftlichen Voraussetzungen. Die Welt war im letzten Jahrhundert stark von fossilen Brennstoffen abhängig, also schafft ein Ort mit solchen Vorkommen die wirtschaftliche Voraussetzung für das Entstehen einer Stadt. Also können Städte an den unwahrscheinlichsten Orten entstehen, denn im Grunde ist der Ursprung der meisten Städte rein wirtschaftlich. Öl und Gas sind weiterhin sehr wichtige Bestandteile unserer Wirtschaft.

Was bedeutet dies für die Haltung der Architekten? Gehen sie dorthin, wo das Geld ist?

Alle Architekten gehen dorthin, wo das Geld ist. Selbst die idealistischsten Architekten verlangen Honorare. Es gibt eine unbestreitbare Beziehung zwischen Architektur und Geld: Gebäude sind die grösste Anlageklasse der Welt, grösser als Finanzpapiere, Kryptowährungen oder Gold, auch grösser als Öl- und Gasreserven. Manchmal sind Gebäude sogar der Faktor, der ein gesamtes Wirtschaftssystem zum Kippen bringen kann, wie wir 2008 gesehen haben.

Dieser Artikel ist eine gekürzte Fassung des Beitrags in TEC21 40 «Die end­lo­se Bau­stel­le».
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Sie leiten gemeinsam mit sieben weiteren Partnern eine Firma mit 350 Mitarbeitenden. Diese hat praktisch keine Erfahrung im Spitalbau, will nun aber die Regeln in der Spitalplanung ändern. Ist das nicht etwas viel?

Wahrscheinlich kann man die Regeln nur ändern, wenn man sich ihrer nicht allzu sehr bewusst ist. Die Hamad Medical Corporation, unser Auftraggeber, besuchte unser Büro und viele andere Büros, auch von Architekten, die zuvor Krankenhäuser entworfen hatten. Wir gaben offen zu, dass wir, abgesehen vom Maggie’s Center in Glasgow, keinerlei Erfahrung mit Gebäuden im Gesundheitswesen hatten. Und die Tatsache, dass wir keine Erfahrung hatten, war weitgehend der Inhalt unseres Vorschlags. Ich fragte unsere Auftraggeber, warum sie uns gewählt hatten. Sie sagten: «Wir haben uns gerade deshalb für Sie entschieden, weil Sie keine Erfahrung haben. Das bedeutet, dass Sie von einer ganzen Tradition, einer ganzen Reihe automatisierter Entscheidungen befreit seid, die wir gerne loswerden möchten, weil sie uns im Weg stehen.» Sie sind zu starr. Sie sind kontraproduktiv in einem Bereich, der sich laufend und schnell verändert. Es ist also besser, keine Erfahrung zu haben, als überholte Erfahrung.


Welche neuen Regeln haben Sie aufgestellt?

Dies berührt nun eine ganz grundsätzliche Frage: Inwieweit ist Architektur eine ergonomische Tätigkeit, die sich wie ein Handschuh um die Funktionen, die sie beherbergen soll, legen muss? Und inwieweit ist Architektur ein Behälter, der die Prozesse in seinem Innern ermöglicht? Eine Autobahn zum Beispiel formt kein Auto; eine Autobahn ermöglicht einen bestimmten Verkehrsfluss und moduliert die Verkehrsspitzen. Der ausdrückliche Zweck einer Autobahn ist das Ermöglichen und Regeln des Verkehrs, nicht die Gestaltung des Verkehrs.
Was wir entworfen haben, liegt an der Schwelle zwischen Architektur und Städtebau. Das Spital ist eine spekulative, komplexe und sich schnell verändernde Typologie. Es ist unglaublich schwierig vorherzusagen, wie sie funktionieren wird. Also haben wir eine Art System entworfen, in dem sich alles in alles verwandeln kann, und wieder zurück. Wir können das Gebäude expandieren oder schrumpfen. Das versuchen wir zumindest.


Wo bleibt in diesem hochtechnisierten, ständig sich verändernden Gebilde die Ästhetik?

Indem man sich generische Dinge zu eigen macht, treibt man die Neutralität auf die Spitze und feiert die Schönheit auf solche Art. Was ist schliesslich Schönheit?
Ist Schönheit die perfekte Annäherung an ein vorher festgelegtes Ideal? Oder ist Schönheit die Hingabe an das Unvermeidliche und die lässige Akzeptanz all dessen, was nie vorgesehen war? Und inwiefern liegt Schönheit
in der würdevollen Akzeptanz des Verlusts?


Können wir wirklich von Schönheit sprechen, wenn wir alles dem Zufall überlassen?

Man überlässt eben nicht alles dem Zufall. Das ist der springende Punkt. Man projiziert nicht eine im Voraus festgelegte Vision, nur um dann festzustellen, dass diese Vision gefährdet ist. Stattdessen nimmt man das Unvermeidliche in Kauf. Wie können wir das Spital der Zukunft definieren, wenn die Zukunft des Spitals selbst die ständige Unbekannte ist? Das ist das Narrativ dieses Projekts: Die meisten Spitäler befinden sich, ähnlich wie Flughäfen, in einem Zustand ständiger Umgestaltung. Das Spital der Zukunft ist eher ein Prozess als ein Produkt: Es ist so konzipiert, dass es sich permanent in Umbau befindet. Es ist ein Gebäude ohne Endzustand.

Dieses Interview ist auch hier in der englischen Originalfassung nachzulesen.

1400 Spitalbetten in der Wüste


Im Auftrag von Katars wichtigstem öffentlichen ­Gesundheitsdienstleister hat OMA das «Spital der Zukunft» ­entwickelt. Der Masterplan belegt 629 000 Quadratmeter auf einem unbebauten Grund­stück von 1.3 Mio. Quadratmeter zwischen dem Universitäts­viertel und der im Entstehen begriffenen Stadt Lusail im Norden der Hauptstadt Doha.  


Der Spitalkomplex mit 1400 Betten beherbergt ein tertiäres Universitätsspital, eine Frauen- und Kin­-
derklinik und ein ambulantes Dia­gno­sezentrum. Die klinischen Bereiche befinden sich im ersten Stock. Die Bettenstationen liegen im Erdgeschoss, um die Abhängigkeit von Aufzügen zu reduzieren.


Auch die grosszügigen Gärten in den Innenhöfen erreichen die Patientinnen und Patienten ebenerdig. Begrünte Räume für die Genesung und Heilung haben eine lange Geschichte in der islamischen Architektur. Zusätzlich ornamentieren 3-D-Drucke auch die Gärten in den Innenhöfen und ermöglichen unendliche Variationen in der Gestaltung der Fassaden, die sonst im Spitalbau oftmals streng gehalten sind.  


Die kreuzförmigen Gebäudemodule werden vor Ort mit Robotertechnik gefertigt. Bei minimaler Unterbrechung des laufenden Betriebs können sie immer wieder neu konfiguriert werden. Dies reagiert auf die rasanten Veränderungen in der Medizin und senkt die Kosten für künftige Anpassungen.


Al Dayaan Medical Masterplan, Doha

Bauherrschaft
Hamad Medical Corporation, Katar


Architektur
OMA / Reinier de Graaf

Tragkonstruktion
Buro Happold


Klinikbau
Henning Larsen Architects, Dutch Healthcare Architects


Landschaftsgestaltung
Michel Desvigne, Agence MDP, Paris

 

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