Neugier und Obsession
Die Rezeption Pier Luigi Nervis (1891–1979) erkennt in ihm einen Ingenieur-Architekten, der ganzheitlich an ein Bauprojekt heranging, experimentell arbeitete und Kongruenz von Form und Tragwerk zustande brachte.
Carlo Olmo, Professor am Politecnico von Turin, identifiziert dahinter zwei hervorstechende Eigenschaften von Pier Luigi Nervi seine Neugier und seine Obsession und vergleicht ihn im Gespräch mit Ahab, dem Protagonisten von Herman Melvilles «Moby-Dick». Wenn von Nervi etwas zu lernen sei, dann dies: sein Metier leidenschaftlich zu betreiben, neugierig zu sein und die Interdisziplinarität in sich selber zu finden.
Für Olmo, Kurator der Ausstellung «Architektur als Herausforderung», ist das Faszinierende an Pier Luigi Nervis Persönlichkeit zum einen seine Komplexität: Er war nicht nur ein Ingenieur, der seiner Sensibilität für die Kongruenz zwischen Tragwerk und architektonischem Ausdruck verdankte, als Ingenieur-Architekt bezeichnet zu werden. Er war auch Autor, Lehrer, Sammler, Akademiker, Intellektueller und Promotor seines eigenen Ruhms. Zum anderen zieht er Olmo in seinen Bann, weil sich in ihm auf der persönlichen Ebene ein Paradox manifestiert, das wie der Reflex seines Schaffens und seines Umfelds in der damaligen Zeit erscheint.
Auf der Ebene seines Werks war es Nervis Herausforderung, innerhalb kürzester Zeit und mit minimierten Kosten immer komplexere Bauten zu realisieren, in denen das Tragwerk für die aussergewöhnliche architektonische Ausformulierung bestimmend war durchaus auch mit Lösungen, die statisch nicht die Naheliegendsten waren. So hat man das Stadion Berta in Florenz als «statisches Paradox» bezeichnet, in dem die Stabilität durch die Balance zwischen den Trägern und dem Gegengewicht der Freitreppe erzielt wurde. Analoges gilt für die technologische Entwicklung: Das Mass der technologischen Suche war die Kontrolle und die Effizienz. Das Verfahren aber, um dahin zu kommen, war das mit dem Irrtum jonglierende Experiment: «prova-errore» («trial and error»). «Effizienz und Irrtum führen eine Koexistenz. Man ist bestrebt, eine Welt zu erschaffen, in der der Nutzen maximiert ist, während das mit Fehlern operierende Experiment das Risiko austreiben soll. Ohne dieses Paradox zu verstehen, ist es schwierig, das Phänomen Nervi zu erfassen», ist Olmo überzeugt.
Sein persönliches Schicksal habe sich schliesslich in dem Paradox erfüllt, dass er zu Lebzeiten eine Persönlichkeit «von internationaler Statur» nach seinem Tod sang- und klanglos untergegangen sei, ehe die Erinnerung an ihn im Lauf ungefähr der letzten fünf Jahre wieder erwacht sei und zu einer wahren Flut von Studien, Forschungen, Symposien etc. geführt habe. Auch dies ein Aspekt, den es zu entschlüsseln gelte, wenn man Nervi verstehen wolle: «Weshalb verschwindet Nervi, der eine enorme Berühmtheit erlangt hat und dessen grossartige Bauwerke bis heute faszinieren, plötzlich von der Bildfläche? Nervis Sohn Antonio stirbt, beladen mit einer vielleicht zu grossen Verantwortung, vier Monate später an einem Herzinfarkt. Nervis Firma wird verkauft und ist zwei Jahre danach ruiniert. Nervi und die ganze Welt, die er konstruiert hat, verschwinden wie Ahab, der Waljäger, mit Moby-Dick in den Fluten des Pazifischen Ozeans untertaucht.»
Der Vergleich mit Kapitän Ahab zielt gleichermassen auf die Parallele der Ausstrahlung, des physischen Versinkens, des metaphorischen In-Vergessenheit-Geratens und des mythischen Wiederauftauchens beider wiewohl unter umgekehrten Vorzeichen: Ahab hinterlässt ein Werk der Zerstörung. Nervis Vermächtnis dagegen ist ein imposantes uvre, das ebenso den Ehrgeiz geweckt habe, es zu erforschen, wie, sich an ihm zu messen. In beiden Fällen ortet Olmo die Ursache in der Obsession. «Besessenheit ist eine Eigenschaft, die hilft, Ziele zu erreichen, eine Eigenschaft aber auch, die das Umfeld unter Stress setzt. Ich denke daher, es war diese Obsessivität, die dazu geführt hat, dass sein Tod am Ende als ein Moment der Befreiung empfunden wurde.»
Als Motor lokalisiert Olmo sie nicht nur in Nervis gebautem Werk, sondern ebenso in seinen Schriften, seinen Vorlesungen, seinen Symposien, seinen Reisen und seiner Betriebsführung «Aktionen» auch um der Mehrung des eigenen Ruhms willen und um sich im jeweiligen Umfeld bewegen zu können. So arbeitet er «bis 1942, während der Zeit des Faschismus, für die Marine, setzt sich andererseits während des Zweiten Weltkriegs dafür ein, dass Juden dem Konzentrationslager entgingen. Ende der 1940er-Jahre nimmt er das Pontifikat für sich ein; wird Mitglied der Päpstlichen Akademie. In den 1950er-Jahren setzen die Vorlesungen, Reisen und Konferenzen ein, mit denen er sich als Gelehrter etabliert, und in den 1960ern verführt er die Amerikaner.»
Er fühlte sich nicht der Welt der Ingenieure zugehörig, die sich anschickte, sich zu professionalisieren und eine Vorstellung des Ingenieurwesens hatte, die sich nicht mit der «intuitiven Methode» Nervis deckte. Er ging nicht von der mathematischen Formel aus, die das Verhalten von Materialien und Strukturen präfiguriert, sondern von der Realität, die die Modelle bis zu ihrer Zerstörung strapazierte (siehe «Experiment als Instrument»). «Er lehrt denn auch an einer Architekturfakultät. Seine Ambition ist es, ein Intellektueller zu sein, der unterrichtet, Konferenzen abhält, seine Auftraggeber und grosse Auditorien fasziniert. Zum Teil geht darauf auch zurück, dass er als Ingenieur-Architekt gesehen wird.»
Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 37/2013 «Pier Luigi Nervi»
Anmerkungen
1 Vieri Quilici hat auf die Verbindung zwischen Nervi und György Kepes hingewiesen. Interview mit Vieri Quilici und Ettore Masi, in: Francesca Romana Castelli, Anna Irene Del Monaco (Hg.), Pier Luigi Nervi e l’architettura strutturale, Rom, 2011, S. 194200, hier: 196. Die farbigen Glasfenster in der St. Mary’s Cathedral in San Francisco stammten von György Kepes.
2 Sergio Poretti hat hervorgehoben, es sei kein Zufall, dass die experimentellen konstruktiven Systeme Nervis ebenso wie jene eines Eduardo Torroja oder Felix Candelas in Italien, Spanien und Südamerika entstanden in Ländern, in denen die Lohnkosten zu jener Zeit vergleichsweise tief waren: Vortrag am Giornata di studio L’insegnamento di Pier Luigi Nervi alla Sapienza, 18.2.2011, Museum MAXXI, Rom.