Le­ben statt er­le­ben

Die Ausgangslage ist bestechend: Wohnbauten der klassischen Moderne, analysiert aus der Perspektive ihrer jungen Bewohnerinnen und Bewohner. Zwei Forscher haben sich diese Aufgabe gestellt und ihre Erkenntnisse in einem lesenswerten Buch gebündelt.

Publikationsdatum
01-05-2021

In Büchern über Architektur stehen Nutzerinnen und Nutzer selten im Fokus, Kinder praktisch nie. Leider, schliesslich formt sich im frühen Lebensabschnitt unser Verständnis für die gebaute Umwelt. Die Architektur, die wir zu diesem Zeitpunkt erleben, prägt also unsere Wahrnehmung von Räumlichkeit. Das gilt insbesondere für die Architektur der klassischen Moderne, deren Autorinnen und Autoren erklärtermassen den Anspruch hatten, mit ihrer Arbeit die Gesellschaft zu verändern – zum Positiven, versteht sich.

Ob sich diese Prämisse in der Praxis bewährte, interessierte die Autoren Julia Jamrozik und ­Coryn Kempster. Für ihre Untersuchung «Kinder der Moderne» befragten sie ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner ikonischer Wohnbauten. Dabei wandten sie sich bewusst an die Kinder, denn die Eltern waren durch die Wahl ihres avantgardistischen Wohnorts den damit verbundenen Idealen vermutlich ohnehin positiv gesinnt. Ins Buch schafften es vier Bauten: ein Reihenhaus von J. J. P. Oud in der Stuttgarter Weis­senhofsiedlung (1927), die Villa Tugendhat in Brno von Ludwig Mies van der Rohe (1930; vgl. TEC21 22/2012), das Haus Schminke in Löbau von Hans Scharoun (1933) und die Unité d’habitation von Le Corbusier in Marseille (1952).

Die Autoren entschieden sich für vier Wohn­typen – Villa, Einfamilienhaus, Reihenhaus, und Etagenwohnung –, um ein möglichst grosses Spektrum an Erfahrungen abzubilden. Die Bauten werden im Buch jeweils kurz vorgestellt, dann folgen die Erinnerungen eines Bewohners oder einer Bewohnerin. Diese oral history lässt die Architektur lebendig und greifbar wirken. An die Erzählungen anschlies­sende Pläne, auf denen besondere Erinnerungen lokalisiert sind, sowie die entsprechenden Fotos aus Vergangenheit und Gegenwart ergänzen die Publikation.

Die Porträts der Bauten stehen in Kontrast zur formalen Strenge, für die die klas­sische Moderne bekannt ist. Sie ­vermitteln eine Wärme und Unmittelbarkeit, die vielen Architekturpublikationen abgeht. Und sie inspirieren: Führt man sich beispielsweise den Detailreichtum vor Augen, mit dem Le Corbusier die Unité d’habitation realisierte – neben der ausgeklügelten Grundrissdisposition verfügten die Wohnungen u. a. über eine Kinderdusche und einen Einbauwickeltisch –, kann man über die Monotonie heutiger Wohnbauten nur staunen.

Im Quervergleich der Erinnerungen fällt interessanterweise ausgerechnet die luxuriöse Villa Tugendhat ab. Der einstige Bewohner Ernst Tugendhat fand nicht, dass die aussergewöhnliche Architektur die Kreativität der Kinder gefördert hätte. «Ich denke, da war so ein Gefühl, dass [an dem Haus] nicht viel zu ändern war.» Perfektion kann auch langweilen.

Angaben zur Publikation

Julia Jamrozik / Coryn Kempster: Kinder der Moderne. Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden. Birkhäuser Verlag, Basel 2021, 24 × 17 cm, 320 S., 80 s/w- und 100 Farbabbildungen, ISBN 978-3-0356-2167-9, Fr. 52.90

 

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