Drei Per­spek­ti­ven auf das Wei­ter­bau­en

Die Auseinandersetzung mit bestehender Architektur eröffnet neue Möglichkeiten für eine nachhaltige Zukunft. Drei Bücher regen an, etablierte Strukturen als wertvolle Ressource zu begreifen.
 

Publikationsdatum
11-06-2025

Wie gehen wir mit dem Bestand um – architektonisch, planerisch, gesellschaftlich? Diese Frage erhält in Zeiten von Klimakrise, Wohnungs- und Ressourcenknappheit zunehmende Dringlichkeit. Abreissen und neu bauen ist keine Option, die sich bedenkenlos legitimieren lässt. 

Die folgenden drei Bücher setzen sich mit dieser Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven auseinander: analytisch, historisch und programmatisch. Sie wagen den Versuch, einen klugen Umgang mit dem Bestand als Normalfall zu etablieren und fordern ein Umdenken – hin zu einer Baukultur, die den Bestand nicht als Hindernis, sondern als Ressource begreift.

Baukultur mit Bestand

Stefan Kurath zeichnet in seinem Buch ein Bild der Schweizer Baukultur, das ebenso fundiert wie ernüchternd ist. Die Diskrepanz zwischen gestalterischem Anspruch und gebauter Realität ist deutlich – und liegt nicht an mangelnder Qualität der Planung, sondern an deren begrenztem Wirkungsgrad. Was als gemeinschaftliche Vision beginnt, endet oft in parzellenscharfer Umsetzung von Einzelinteressen. 

Der Autor fordert einen Paradigmenwechsel: weg vom Sonderfall «Bauen im Bestand», hin zu einer langfristig nachhaltigen Planung. Dabei wird der Bestand nicht nur als materielle Ressource verstanden, sondern als Grundlage für kollektive Identität. Das Buch ist ein eindringliches – wenn auch anspruchsvolles – Plädoyer für eine vorausschauende Planungskultur, die sich nicht im Wettbewerbsfetisch verliert, sondern über Parzellengrenzen hinausdenkt und Verantwortung für die Gemeinschaft übernimmt. Auch politisch.

Siedlung Rietholz von H+A Hubacher

Die Siedlung Rietholz in Zollikerberg ist eine nahezu vergessene Perle der Nachkriegsmoderne. Gleichzeitig ist sie ein überraschend aktuelles Modell für sozialen und baulichen Zusammenhalt. Annemarie Hu­bacher-Constams Beitrag zur Schweizer Wohnbaugeschichte wird hier fundiert aufgearbeitet. Das Buch überzeugt nicht nur als architekturhistorische Fallstudie, sondern auch durch seine soziologische Perspektive: Die Siedlung zeigt, wie vorfabrizierter Wohnungsbau Individualität zulassen kann.

Architektonisch wie auch sozial. Vielfältige Wohnungsspiegel, resiliente Strukturen und ein aktives Engagement der Bewohnenden zeigen, wie eine Siedlung über Jahrzehnte hinweg lebendig und anpassbar bleiben kann. Dies wird auch durch faire Mietverhältnisse und gemeinwohlorientierte Eigentümer ermöglicht und macht die Siedlung Riet­holz zu einem ermutigenden Beispiel dafür, dass das Bauen im Bestand auch ein sozialer Akt ist.

Bauen im Bestand. Wohnen. 

Mit internationalem Blick zeigt das Buch, dass Transformation und Verdichtung weltweit stattfinden – und dabei auf ganz unterschiedliche Weise gelingen können. Projekte aus Megastädten wie Tokio und São Paulo zeugen von Pragmatismus, Kreativität und politischem Willen. Als Auftakt benennt das Buch ein altbekanntes Paradox: «Nachverdichtung? Bitte nicht hier!» 

Die grundsätzliche Zustimmung zur Verdichtung endet meist an der eigenen Grundstücksgrenze. Das «Not in my back­yard»-Phänomen verzögert oder verhindert eine ökologisch, sozial und wirtschaftlich sinnvolle Weiterentwicklung des Vorhandenen. Die gezeigten Projekte – ein Grossteil sind sogenannte «Accessory Dwelling Units», unabhängige zusätzliche Wohneinheiten – überzeugen durch Sensibilität im Umgang mit Zwischenräumen, Typologien und sozialen Gefügen. 

Die Stärke des Buchs liegt in der Vielfalt seiner Beispiele und der impliziten Auf­forderung, den Blick zu weiten und die Potenziale des Bestands als Chance und nicht als Mangel zu begreifen.

Weiterbauen ist kein Nischen­programm

Alle drei Bücher liefern wichtige Beiträge zur Debatte um das Bauen im Bestand und machen deutlich, dass es sich dabei nicht um ein Spezialthema für Idealisten handelt, sondern um eine zentrale Zukunftsfrage der Baukultur. Kuraths Analyse benennt die strukturellen Hindernisse, das Buch über die Siedlung Rietholz zeigt ein gelebtes Gesamtmodell, und «Bauen im Bestand» öffnet den Blick für weltweite Lösungsansätze. 

Dabei unterscheiden sich die Bücher auch im Ton. Gemein ist ihnen die Überzeugung, dass nachhaltiges Bauen mit Bestand nicht Verzicht bedeutet, sondern Qualität, Nähe und Vielfalt – und nicht zuletzt das Bewusstsein dafür, das Bauen immer auch ein gesellschaftlicher Akt ist. Es braucht mehr davon. Und es braucht Rahmenbedingungen, die dies nicht nur ermöglichen, sondern unmissverständlich einfordern. 

Stefan Kurath (Hg.): Baukultur mit Bestand. Triest Verlag, Zürich 2025. 112 Seiten, 14,8 × 21 cm, ISBN 978-3-03863-086-9, Fr. 25.–

 

Harald R. Stühlinger (Hg.) Miriam Stierle, Giulia Scotto: Siedlung Rietholz – H + A Hubacher. Christoph Merian Verlag, Basel 2024. 188 Seiten, 102 meist farbige Abbil­dungen und Pläne, gebunden, 17 × 22,5 cm, Deutsch/Englisch, ISBN 978-3-03969-033-6, Fr. 39.–

 

Sandra Hofmeister (Hg.): Bauen im Bestand. Wohnen. Edition DETAIL, München 2024. 296 Seiten, Hardcover, 22 × 30 cm, zahlreiche Abbildungen und Fotos, Deutsch/Englisch, ISBN 978-3-95553-634-3, Fr. 90.–

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