In­ne­re Fas­sa­de des Bun­des­straf­ge­richts in Bel­lin­zo­na

Die vom Zürcher Architekturbüro Gramazio & Kohler entworfenen Verkleidungen der Kuppeln des Bundesstrafgerichts in Bellinzona sind einzigartig: Plastisch, verspielt und sinnlich erinnern sie an florale Motive des 19. Jahrhunderts. Entstanden sind sie mit modernster Technologie, als Produkte des digitalen Zusammenwirkens von Entwurf, Materie und Fabrikation.

Publikationsdatum
23-08-2013
Revision
30-10-2015

Im März 2000 nahm das Schweizervolk die Justizreform an, die unter anderem die Schaffung des Bundesstrafgerichts in Bellinzona zur Folge hatte. Diese Behörde nahm ihre Tätigkeit 2004 zunächst in provisorischen Räumlichkeiten auf, bis ihr der Kanton Tessin im Stadtzentrum ein repräsentatives älteres Gebäude mit grossem Innenhof, die «Scuola di Commercio», zur Verfügung stellte. Für dessen Um- und Neubau führte der Kanton Tessin im Frühjahr 2008 einen öffentlichen Projektwettbewerb durch. Das erstrangierte und 2009–2013 ausgeführte Projekt umfasst als zentrale neue Elemente zwei Gerichtssäle im Innenhof in Form von Pyramidenstümpfen1 mit Oberlicht. Die in Stahlbeton ausgeführten Säle sind innen mit vorfabrizierten ornamentalen Betonpaneelen ausgekleidet. 

Die Paneele weisen die für die Akustik (Optimierung der Nachhallzeit) notwendige Porosität auf und bewirken durch die Wiederholung ähnlicher Grundelemente eine ornamentale Plastizität, wie man sie etwa von den floralen Motiven von William Morris2 aus dem späten 19. Jahrhundert kennt. 

Für die Betonpaneele wurden multiple Matrizen für drei digital gefräste Formteile hergestellt. Geometrie und Fügung der vorfabrizierten Elemente wurden einerseits dem zugrunde liegenden Schalungsprozess und andererseits dem anschliessenden Montageverfahren auf Ortbetonträgern angepasst. Vorgängig hatten die Architekten verschiedene geometrische Möglichkeiten zuerst ausprobiert und dann ihre technologische Machbarkeit systematisch untersucht. Zu Beginn des Projekts existierten erste analoge Modellstudien. Erst das digitale Zusammenwirken von Entwurf, Material und Fabrikation ermöglichte schliesslich die geometrisch komplexe und ökonomisch effiziente «Modulierung» der «inneren Fassade» des Bundesstrafgerichts.

Anmerkungen
1 Diese werden häufig als Kuppeln bezeichnet. Damit wird eher ein Bezug zu Repräsentations- und Sakralbauten evoziert. 
2 William Morris (1834–1896) war einer der vielseitigsten und kreativsten britischen Künstler des 19. Jahrhunderts. Der Londoner war als Maler, Architekt, Designer, Dichter, Kunstgewerbler, Ingenieur und Buchdrucker erfolgreich. Er förderte die Kunstbewegung der präraffaelitischen Bruderschaft, die den Handwerker als Künstler sah. Später war er Mitbegründer des Arts and Crafts Movement und früher Begründer der sozialistischen Bewegung in Grossbritannien. 1861 war er Mitgründer der Firma Morris, Marshall, Faulkner & Co., die Möbel, Wanddekorationen und Glasgemälde produzierte, in der er zeitlebens tätig blieb; Morris' Entwürfe werden noch heute unter Lizenz vertrieben. 1877 gründete er die Society for the Protection of Ancient Buildings, eine Vorläuferin des National Trust. Ab 1878 entwarf und produzierte er sowohl handgeknüpfte als auch maschinell gewebte Teppiche, häufig mit floralen Motiven.

Am Bau Beteiligte
 

Gestaltung innere Fassade
in Zusammenarbeit mit CDL Bearth?&?Deplazes AG, Durisch?+?Nolli Architetti Sagl, Mitarbeiter: Sarah Schneider (Projektleitung)


Baustatik
Conzett Bronzini Gartmann AG, Jürg Buchli

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