«Im­pul­se für das Woh­nen in der Stadt»

Der Raum für alle und alles wird in der Stadt knapp. Wie sehr gerät dabei auch das gemeinschaftliche Wohnen unter Druck? Susanne Schmid und Ingrid Breckner stellen aktuelle Modelle in einen Bezug zur jüngeren Stadtgeschichte.

Publikationsdatum
02-11-2020

TEC21: Leben in der Stadt ist beliebt, aber der Boden zum Wohnen wird teuer. In Berlin fordert man eine Einteignung von Privatgrundstücken. Hat es etwas Vergleichbares in der Geschichte des modernen Städtebaus schon gegeben?

Ingrid Breckner: In den 1970er-Jahren wurde heftig debattiert, ob städtischer Boden überhaupt verkauft werden soll. Schon damals wusste man: Die Steuerungskraft für die Stadtentwicklung ist über öffentliches Eigentum am grössten. Diese Debatte flammt heute ganz stark wieder auf, nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Politik und in akademischen Institutionen.

Susanne Schmid: Grundsätzlich möchte ich festhalten: Städte haben Erfolg, und das Stadtwohnen ist eine aktuelle Erfolgsgeschichte. Sie geht von der Grundlage aus, dass die Stadt eine einfache Zugänglichkeit zu Infrastruktur, gut bezahlten Jobs und hochwertigen Angeboten in Bildung und Gesundheit bieten kann. Die Entwicklung hat also positiv begonnen.Gewisse europäische Städte erleben nun aber Prozesse, die schon fast als Exzesse eingestuft werden können, so etwa die Gentrifizierung.An der städtischen Erfolgsgeschichte können nicht mehr alle Bevölkerungsgruppen partizipieren, deshalb wird der Ruf nach wohnungspolitischen Interventionen lauter.

Ingrid Breckner: Als Auswuchs anprangern möchte ich auchdie Finanzialisierung des Wohnens; Wohnraum wird als Geldanlage, als sogenanntes Betongold missbraucht.

TEC21: Was können Städte unternehmen?

Susanne Schmid: Städte reagieren entsprechend ihrer Ausgangslage und Policies sehr unterschiedlich. In Berlin denkt ein Teil der Bevölkerung und der Behörde über Enteignungen nach. Kürzlich wurde ein Mietdeckel erlassen. Noch vor wenigen Jahren überliess man den ausländischen Investoren viel Boden und liess diese preisgünstige Wohnstandorte aufkaufen. Die aktuellen Gegenmassnahmen von Berlin lassen sich nicht auf andere Städte übertragen; sie sollen aber als Signal verstanden werden.

Ingrid Breckner: Immer mehr Städte gehen dazu über, eigenen Boden nicht zu verkaufen, sondern die Nutzungsrechte im ErBbaurecht abzutreten. So bleibt die Möglichkeit erhalten, die Stadtentwicklung weiterhin aktiv zu steuern.

TEC21: Sie erzählen in einem Buch die Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens in den Städten Europas. Was können Städteplaner und Politiker daraus lernen? Liegt das gemeinschaftliche Wohnen überhaupt im Trend?

Susanne Schmid: Wir stecken mitten in der Digitalisierung, die wie die Industrialisierung vor über 150 Jahren zu starken gesellschaftlichen Veränderungen führt. Haushaltsformen und Wohnvorstellungen ändern sich, ebenso das Verständnis VON Beruf und Familie. Damals diversifizierte sich die Gesellschaft, es kam zu einer Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten. Heute kommen sich die beiden Bereiche wieder näher. Doch heute wie damals werfen an sich vergleichbare gesellschaftliche Umbruchphasen ähnliche Fragen auf: Was ist Wohnen? Und wie sieht Wohnen aus?

Ingrid Breckner: Soziologen nennen die heutige Gesellschaft eine Gesellschaft der Singularitäten und meinen damit die Zunahme von Einpersonenhaushalten in Städten. Es begann mit einem Individualisierungsschub, aber weil das individualisierte Wohnen teurer ist als gemeinschaftliches Wohnen, spalten sich Gruppen ab. Studierende, ältere Menschen oder generell solche mit wenig Geld müssen mit sehr kleinen, beengten Wohnungen zurechtkommen. Einen vergleichbaren Reflex zur Gemeinschaft gab es zur vorletzten Jahrhundertwende, als die Leute in die Städte zogen und sich aus ökonomischen Gründen in gemeinschaftlichen Wohnformen zusammengetan haben, wie zum Beispiel Kommunen. Jetzt ist das gemeinschaftliche Wohnen abermals eine Option, sich das Leben in der teuren Stadt leisten zu können und in Kontakt mit den modernsten Mitteln zu bleiben.

TEC21: Betrifft das nur eine Nische oder geht das eine grösse Bevölkerungsschicht an?

Ingrid Breckner: Diese Nische für das gemeinschaftliche Wohnen ist mittlerweile stark gewachsen. Als Beispiel dazu verweise ich auf die Baugemeinschaften in Hamburg. Innert weniger Jahre ist deren Anteil stark gewachsen; inzwischen ist der Anteil dieser gemeinschaftlichen Wohnform von 2 auf 20 % gestiegen. Genossenschaften, Eigentümergemeinschaften, Stiftungen oder Miethäusersyndikate sind als solche Baugruppen zu verstehen. Zwar steckt dahinter oft die pragmatische Idee, gemeinsam mit anderen einfacher ein eigenes Grundstück zu bekommen. Doch darunter sind auch solche, die sich nicht nur für ihre Bauvorhaben, sondern auch für den Stadtteil engagieren.

TEC21: Baugruppen kennen wir in der Schweiz nicht. Bewegt sich in den Städten trotzdem etwas?

Susanne Schmid: Auf jeden Fall sind ähnliche Tendenzen zur Selbstorganisation erkennbar. Solche Initiativen aus genossenschaftlichen Kreisen haben in der Schweiz eine lange und erfolgreiche Tradition. Doch bezüglich der gemeinnützigen Wohnquote muss ich differenzieren: Zwar wohnen etwa 20 % der Bevölkerung von Zürich oder Biel genossenschaftlich. Doch der Schweizer Durchschnitt liegt weit tiefer; und nur die Hälfte davon darf wohl einer wirklich aktiv gelebten Wohngemeinschaft zugeordnet werden. Zudem prägen andere Organisationsformen wie Stiftungen, institutionelle Anleger oder private Investoren das gemeinschaftliche Wohnen immer stärker. Ursprünglich haben sich sogar Patrons ausgedacht, wie man gemeinschaftlich zusammenwohnen kann.

TEC21: Profitieren Baugruppen in Deutschland von staatlicher Förderung?

Ingrid Breckner: In erster Linie entstehen sie aus einer Reaktion auf den städtischen Bodenmarkt, auf dem Familien auf kaum bezahlbare Flächen stossen. Tatsächlich gehen Städte nun zu einer Förderung solcher Baugruppen über, weil sie den Mehrwert dieser Gruppen für die Quartiersentwicklung erkennen. In Hamburg existiert zudem die Vorgabe, dass 20 % der grossen Grundstücke an Baugemeinschaften vergeben werden müssen.

TEC21: Gibt es Synergien unter den verschiedenen Kräften, zum einen der Bevölkerung, die Platz für gemeinschaftliche Wohnformen sucht, und den Stadtbehörden, die den Boden im Eigentum halten wollen?

Ingrid Breckner: Das kann sehr gut zusammenpassen wie in einem Puzzlespiel. Ein aktuelles Beispiel dazu ist das Gängeviertel in Hamburg. Das Quartier beruht auf Substanz des 19. Jahrhunderts und hätte von einem ausländischen Investor mehrheitlich abgerissen und neu überbaut werden sollen. Vor gut zehn Jahren initiierten junge Leute aber eine kulturpolitisch inszenierte Besetzung. Die Finanzkrise machte dem Investor allerdings einen Strich durch die Rechnung, sodass die Stadt das Areal zurückkaufen konnte und sie zugunsten einer genossenschaftlich organisierten Häusersanierung im Erbbaurecht weitergibt. Ziel ist, darin Sozialwohnungen einzurichten.

TEC21: Wie wichtig ist der Druck aus der Basis?

Ingrid Breckner: Es ist sehr wichtig, dass Basisbewegungen Druck ausüben. Im Fall des Gängeviertels kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Aber es braucht Protest und den Anstoss von aussen, damit solche Prozesse überhaupt stattfinden. Wenn man es dem Markt allein überlässt, passiert nichts. Was darin zusätzlich zum Ausdruck kommt: Es geht hier nicht einfach um ein Wohnen ab Stange, sondern darum, etwas selbst mitgestalten zu können und sich hier möglichst lang aufhalten zu wollen.

TEC21: Sind solche Konstellationen auch in Schweizer Städten denkbar?

Susanne Schmid: Es hängt stark davon ab, wie sich Gruppen etwa aus der Hausbesetzerszene engagieren. Vor allem in Zürich machen sich diese traditionell bemerkbar. Doch auch hier gilt: Erst aus dem Zusammenspiel mit der Behörde ergibt sich Platz für ein gemeinschaftliches Wohnkonzept. Zwar wächst das Bewusstsein, doch der Zugang zum Bodenmarkt ist stark eingeschränkt. Kleine Gruppen mit spezifischen Bedürfnissen sind deshalb chancenlos. Um ihnen Möglichkeitsräume zu schaffen, soll unter anderem der Staat mithelfen. Sei es mit einer Vergabe von öffentlichen Grundstücken im Baurecht oder seien dies Hilfeleistungen zum Aufbau von Gruppen und Strukturen.

Ingrid Breckner: Eine aktive Steuerung ist Voraussetzung, beispielsweise mit der Ausgabe von Wohnanteilen für sozialen Wohnungsbau. Darüber hinaus braucht es etablierte Strukturen für die Umsetzung. Alternative Baubetreuer helfen Baugruppen bei der Projektentwicklung, sodass auch weniger artikulationsstarke Kreise aktiv werden können. Unter Migrantinnen und Migranten wären viele Menschen aktivierbar, die das Baugruppenmodell schlicht nicht kennen. Es gibt weitere Bevölkerungssegmente, die durchaus Anspruch erheben dürften, aber bisher nicht von sich aus aktiv geworden sind, um sich als eine Baugruppe zu bewerben.

Susanne Schmid: Das gemeinschaftliche Wohnen ist in der Organisationsform komplexer als konventionelles Wohnen. Gruppen müssen relativ viel Wissen einbringen, wie man Wohnen will und wie man solche Prozesse sinnvoll organisiert, ideell, rechtlich und finanziell.

Ingrid Breckner: Auch Notlagen können zur unerwarteten Aktivierung der Bevölkerung führen. So haben kürzlich Hamburger Frauen, über 55 Jahre, eine eigene Besetzung in einem Leerstand durchgeführt. Dazu passt, dass sich vermehrt Baugruppen aus älteren Generationen finden. Sie wehren sich gegen einen Wegzug aus der Stadt, weil sie den Verlust von sozialen Kontakten befürchten.

Susanne Schmid: Dass weitere Segmente aktiv werden, betrachte ich als sehr sinnvoll. Allerdings ist die Freiwilligkeit zentral, weil man teilhaben und nicht nur teilnehmen soll. Deshalb braucht es moderierte Umsetzungsprozesse, weil gemeinschaftliche Wohnformen nicht von oben bestimmt werden können.

TEC21: Wer eignet sich als Moderator?

Susanne Schmid: Mir sind Genossenschaften bekannt, in Zürich etwa das Dreieck, die Kalkbreite oder «mehr als wohnen», deren Verwaltung sich auch um Partizipation und das Siedlungsleben kümmert.

Ingrid Breckner: In der Regel läuft es besser, wenn Externe beigezogen werden, um die Verhandlungen zwischen Baugruppe und Stadt respektive einer Förderbank zu moderieren. In Deutschland können interdisziplinäre Büros damit betraut werden, die soziologisch und architektonisch kompetent sind. Beispiele, bei denen Architekten selbst diese Rolle übernahmen, liefen weniger gut. Eine Diskussion über das Wohnen läuft ja meistens so, dass immer mehr Ansprüche gestellt werden. Als beauftragte Architektin gerate ich deshalb in einen Konflikt, die Wünsche der Baugruppe entgegenzunehmen und gleichzeitig die Kosten einhalten zu müssen. Unvermittelt spiele ich dann die Rolle des Verhinderers.

TEC21: Aber hat die Architektin oder der Architekt bei der Umsetzung von gemeinschaftlichen Wohnformen nicht eine besondere Rolle? Geht es auch um Regie oder eher um den Bühnenbau?

Susanne Schmid: Mir gefällt die Idee, dass die Architektur gemeinsam mit der Innenarchitektur eine Bühne für das gemeinschaftliche Wohnen bereitstellen soll.Wie sie bespielt und belebt wird, darf aber offen bleiben. Die Regeln für das Zusammenleben haben eher die Nutzenden zu definieren. Weder die Organisation einer Gemeinschaft noch das Soziale sind Kernkompetenzen der Architektur. Leider kümmert sich in vielen Projekten niemand wirklich darum. Ich meine dagegen, Soziologinnen und Soziologen sollen bereits bei der Programmierung von Wohnungsbauwettbewerben mitdiskutieren. Und so selbstverständlich fast überall Fachgremien über Eingriffe in das Quartier- oder Stadtbild wachen, wären Prüfstellen für soziale Veränderungen einzurichten. Solche Aspekte sind wesentlich für eine nachhaltige Stadtentwicklung.

Ingrid Breckner: In der HafenCity, dem umgenutzten ehemaligen Freihafen in Hamburg, sind soziale Quartierentwickler im offiziellen Auftrag tätig. Interessant war aber, dass das Wettbewerbsinstrument, das für die Bebauung einzelner Baufelder obligatorisch war, die Entwicklung zum lebendigen Stück Stadt anfänglich behinderte. Man wollte Baugruppen vor Ort machen lassen, doch der Wettbewerbszwang verursachte jeweils einen zu grossen Aufwand. Inzwischen beschränkt man sich auf Workshops unter Beteiligung von Architekten und Nutzern.

TEC21: Wäre das gemeinschaftliche Wohnen ein gutes wohnpolitisches Instrument?

Susanne Schmid: Das ist nicht isoliert zu betrachten, ein grosser Anteil der Bevölkerung bevorzugt weiterhin eine privatere Wohnform. Es geht deshalb generell darum, Wohnraum für alle in der Stadt anzubieten. Gemeinschaftliche Formen sind jedoch wichtige Impulsgeber für das Stadtwohnen; sie finden teilweise sogar Nachahmer auf dem konventionellen Markt. Um die Stadt als Gemeinschaftsort aufrechtzuerhalten, braucht es aktive Nachbarschaften.

Ingrid Breckner: … ich verstehe Stadt aber auch als Ort für eine anonyme Gesellschaft. Dazu gehört der individuelle Anspruch, nicht kontrolliert zu werden, und selber auswählen zu dürfen, mit welchen Menschen man zusammenlebt. Deshalb darf das gemeinschaftliche Wohnen nicht erzwungen werden. Im Gegenzug dürfen gemeinschaftliche Wohnmodelle keine hermetisch abgeschlossene Enklave bilden, sondern müssen ins Quartier einwirken.

TEC21: Wie stabil sind gemeinschaftliche Wohnmodelle eigentlich?

Susanne Schmid: Früher war klar, wie man wohnte. Ganze Wohnkarrieren haben sich in einem einmal gewählten und gebauten Umfeld abgespielt, in der Familienwohnung oder im Einfamilienhaus. Aus beruflichen oder persönlichen Gründen ändern heutige Wohnkarrieren aber schnell; das gemeinschaftliche Wohnen kann auch für eine breitere Bevölkerungsschicht in gewissen Lebensphasen interessant sein.

Ingrid Breckner: Es fehlt systematisch gesammeltes Wissen darüber, wie sich gemeinschaftliche Wohnformen im Lebenszyklus verändern. Wie anpassungsfähig sind solche Wohnmodelle? Wie gut nehmen sie sich ändernde individuelle Bedürfnisse der Bewohnenden auf? Das Hallenwohnen im Zollhaus präsentiert eine spannende Variante, eine ganze Lebenskarriere mit innerer Flexibilität aufzufangen.

TEC21: Sprechen Sie von räumlicher Flexibilität?

Ingrid Breckner: Ja, und auch über bautechnische Aspekte. Warum ist behindertengerechtes Bauen zum Beispiel nicht generelle Praxis? Es lohnt sich generell zu fragen, was ohne Kostenwirkung langlebiger gestaltet werden kann.

Susanne Schmid: In der Kombination von gemeinschaftlichem Wohnen und Flexibilität sind zwei Ansätze zu erkennen. Ein frühes Phänomen war dasSchaltprinzip; davon kam man aber weg, da ein zeitgleicher Bedarf an mehr oder weniger Wohnraum selten gegeben ist. Neuerdings geht man dazu über, den privaten Wohnraum zu begrenzen und nach Bedarf spezifische,für alle zugängliche Ausstattungseinheiten wie Jokerzimmer, Gemeinschaftsküche, Gemeinschaftsgarten, Sauna oder Musikzimmer dazuzuschalten.

TEC21: ... im Sinn der Sharing Economy?

Susanne Schmid: Genau. Das eigene private Zuhause reduziert sich, und die unterschiedlichen Räume mit diversen Nutzungen und Ausstattungenwerden geteilt. Der zweite Flexibilisierungsansatz führt zum Selbstbau, der mit dem Hallenwohnen im Zollhaus realisiert wird. Die Idee stammt aus der Besetzerszene und lässt unter anderem hoffen, dass der minimale Ausbaustandard Kosten sparen hilft. Doch inzwischen weiss man aus vergleichbaren Projekten, dass die Endausstattung solcher Edelrohbauten gesamthaft nicht weniger kostet als konventionelles Wohnen. Auf jeden Fall können die Bewohner aber selbst mehr Einfluss auf die Gestaltung des Wohnraums und des Zusammenlebens nehmen.

Ingrid Breckner: Die Geschichte des Selbstbauens zeigt: Er lohnt sich in den seltensten Fällen finanziell. Logisch daran ist, dass Fachleute in der Regel effizienter bauen als Laien. Der Vorzug des Selbstbaus ist, einen individuellen Standard zu ermöglichen. Ich glaube, dass daraus ein Modell für den Eigentumswohnungsbau entstehen kann; die Bewohner stehen selbst in der Verantwortung.

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