Heu­te schon an 2050 den­ken

SIA-Delegiertenversammlung 2016 in Zug

Jacques Herzog, Pierre de Meuron, Reza S. Abhari und Hubert Klumpner präsentierten den Delegierten die Planungswerkzeuge für die Schweiz von morgen. Frauen in der Planung und das Positionspapier «Planungs- und Bauprozesse» waren weitere Themen.

Publikationsdatum
12-05-2016
Revision
19-04-2017

In diesem Jahr hatte der SIA zu seiner Delegiertenversammlung in die Altstadt von Zug eingeladen. Einiges war anders an dieser Versammlung gegenüber jenen früherer Jahre, und vielleicht haben die neuen Akzente auch etwas mit der Veränderung des SIA zu tun. 

Beispielsweise kommt es nicht alle Tage vor, dass Jacques Herzog und Pierre de Meuron diese Zusammenkunft mit einem Gastvortrag beehren. Dem lauschten die Delegierten am Nachmittag, als sie neben weiteren Gästen aus Forschung und Lehre das vom SIA angestossene Projekt «Die Schweiz 2050» vorstellten, das die Grundlage bereiten soll für eine zukunftsfähige Entwicklung des Lebensraums Schweiz (vgl. SIA-Seiten in TEC21 15/201616/2016 und 17/2016). 

Der Vormittag gehörte noch ganz den obligatorischen Traktanden einer Delegiertenversammlung: Genehmigung des Jahresberichts, Décharge des Vorstands, der Jahresrechnung 2015 und Wahlen – diese Traktanden wurden ohne Gegenstimmen und in rekordverdächtiger Zeit absolviert. 

Doch schon der rasch vergangene Vormittag hatte es in sich: Stefan Cadosch hatte in seinen Worten an die Delegierten anklingen lassen, dass der SIA 2016 wie schon 2015 mehr Geld ausgeben werde, als er einnimmt. Und er stand mit Nachdruck für diese Mehrausgaben ein: «Es ist für mich wichtig und richtig, all diese Dinge zu tun und sie auch zu finanzieren.» Die vergangenen sechs Jahre hätten gezeigt, dass sich die Wandlung des SIA zu einem Verein, der der Politik mit seiner Expertise aktiv zur Seite steht, auszahle. 

«Unsere Kompetenzen werden bestellt»

Daniele Biaggi erläuterte in seiner Eigenschaft als Quästor die Zahlen des Etats. Das Jahr 2015 schloss mit einem Minus von 586 000 Fr., was Biaggi Anlass gab zu einer umfassenden Darstellung der aktuellen Budgetsituation des SIA. Seine Präsentation zeigte die laufenden Themenprojekte als zahlreiche grosse und kleine Kostenbalken.

Einer pauschalen Kürzungspolitik erteilt er eine Absage: «Wir brauchen neue Aufgaben und neue Themen, und die werden auch wieder etwas kosten», so Biaggi. Klüger als pauschales Sparen sei es, sich beim Eingehen neuer Engagements von einem schon bestehenden zu trennen, damit bleibe der Verein handlungsfähig. Für 2017 rechnet er mit einem Gewinn, im Jahr danach mit einem ausgeglichenen Haushalt. Auch das Budget für 2016 wurde am Nachmittag schliesslich ohne Gegenstimmen bestätigt. 

Nach Biaggi sprach Vorstandsmitglied Anna Suter über das «Netzwerk Frau und SIA» – eine, so Anna Suter, «sehr fröhliche und agile Gruppe innerhalb des Vereins». Nachdem der SIA 2014 an seiner DV in Solothurn im Zug einer Statuten­änderung die Förderung von Frauen als Vereinszweck verankert habe, sei es an der Zeit für eine Zwischenbilanz. Es konnten bemerkenswert zahlreiche Projekte verwirklicht werden – wie das in drei Sprachen veröffentlichte Kinderbuch «Ingenieuse Eugenie» (deutsch: «Die findige Fanny»). Anknüpfend an das Buch entstand die Ausstellung «Eine Brücke, ganz einfach», die schweizweit von vielen Schulklassen besucht wird. 

«Frauenthemen» betreffen alle Arbeitnehmer

Das Projekt «SIA – Der fortschrittliche Berufsverband» zeige, dass sogenannte «Frauenthemen» sich zu Themen entwickeln, die uns alle betreffen, erklärte Anna Suter. Ein gutes Beispiel dafür seien flexi­ble Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit und ­Home-Office, die Beruf und Familie vereinbar machen.

An einem im Rahmen des Projekts durchgeführten Austauschanlass (vgl. Bericht ­in TEC21 18–19/2016) mit einer ­Reihe von Mitgliederbüros des SIA wurde deutlich, dass zahlreiche Frauen, aber auch immer mehr Männer Teilzeit arbeiten wollen. Die vernetzende und fördernde Arbeit hierzu steht erst am Anfang, aber sie ist vielversprechend, daran liess die Berner Architektin keinen Zweifel. 

Die übrigen Themen des Vormittags lassen sich knapp zusammenfassen: Barbara Sintzel und Pasquale Petillo wurden in die Zentralkommission für Normen, Andreas Steiger, Luca Bonzanigo und François Chapuis in die Zentralkommission für Ordnungen gewählt. Vorstand Adrian Altenburger stellte die Normungspolitik für die Jahre 2017 bis 2020 mit Fokus auf eine bilaterale Harmonisierung und Integration des europäischen und des schweizerischen Normenwesens vor, und sie wurde genehmigt.

Mit dem ebenfalls vorgestellten Positionspapier «Planungs- und Bauprozesse» reagiert der SIA auf die im Zug der Digitalisierung des Bauprozesses anstehenden Herausforderungen. David Leuthold wandte als Vertreter der Berufsgruppe Architektur ein, das Positionspapier sei zu wenig detailliert. «Positionspapiere werden nicht nur für Experten, sie werde für alle Mitglieder verfasst», verteidigte Stefan Cadosch das Papier. Es wurde schliesslich mit 38 Ja-Stimmen, 21 Enthaltungen und 3 Nein-Stimmen angenommen. 

«Die Schweiz soll ­stark bleiben»

Der Nachmittag gehörte der Vorstellung des Projekts «Die Schweiz 2050». Raumplanerin und SIA-Vorstandsmitglied Ariane Widmer Pham nahm sich Zeit, in das Projekt einzuführen. «Die Schweiz soll stark bleiben!» – auf diesen knappen Nenner brachte sie die Beweggründe des SIA für dieses Engagement. Es gehe darum, eine ganzheitliche Raumstrategie für eine wachsende Schweiz zu ­fin­den. Kurzum: «Wie funktioniert die Schweiz mit den für 2050 pro­gnostizierten 10 Millionen Einwohnern – mit einer grösstmöglichen Lebensqualität?»

Und wie sieht diese Schweiz aus? Nach ersten Gesprächen zwischen SIA und ETH Zürich im Jahr 2014 entschloss sich der SIA, selbst zum Auftraggeber des Projekts zu werden. Ausgangspunkt war die 2013 von den Ingenieuren Peter Matt und Fritz Hunkeler veröffentlichte Dokumentation «Entwicklung Bauwerk Schweiz».

Die Ingenieure hatten darin eine Roadmap für Erneuerung und Entwicklung der gebauten Infrastruktur unseres Landes entwickelt. Davon ausgehend, so Widmer Pham, habe man sich entschlossen, das Thema weiter zu öffnen und neben der gebauten Struktur den Lebensraum ­als Ganzes zu betrachten. Mit welchen Werk­­­­zeugen und Methoden die dafür ­notwendigen Raumstrategien er­arbeitet werden, liess sich im an­schliessenden Vortrag von Reza ­S. Abhari und Hubert Klumpner er­ahnen. Der Professor für Energietechnik und der Städtebauprofessor erläuterten das Schweiz-2050-­Teil­projekt Swiss AIM. 

Extrem breite Datenbasis

Abhari, der ursprünglich aus der Turbinenentwicklung kommt und später für die Energiewirtschaft Software zum Monitoring von Energienetzen entwickelte, schuf mit der Softwareplattform Swiss AIM ein hochentwickeltes digitales Werkzeug. Es bietet dem Anwender die Möglichkeit einer simultanen, dynamischen und hochauflösenden Modellierung und Verknüpfung von Daten aus den unterschiedlichsten Quellen: GIS-Daten, Verkehrsströme, Wetterstatistiken, demografische Daten, schliesslich planungsrelevante Datenbestände bis auf die Ebene des einzelnen Gebäudes.

Das Team von Abhari, Klumpner und Projektmanagerin Anna Gawlikowska wird mit der Softwareplattform zunächst den Raum Aarau-Olten betrachten, weil er typisch ist für die Struktur des Schweizer Mittellands. Aarau-Olten wird eine von zwei «Bohrungen» des Projektauftakts sein, weitere sollen folgen. Die extrem breite Datenbasis von Swiss AIM macht es möglich, die Konsequenzen des einen oder des anderen Szenarios bzw. Planungsentscheids detailliert zu simulieren. 

Für selbstfahrende Autos planen

Die Präsentation von Jacques Herzog und Pierre de Meuron wirkte im Kontrast zu den komplexen, ­sehr selbstbewusst vorgetragenen Ausführungen von Abhari und Klumpner geradezu bodenständig. Das mag auch daran liegen, dass sich die nun beginnende Bohrung des ETH Studios Basel in der Verantwortung von Herzog und de Meuron auf fünf beispielhafte Räume in und um Basel und ihre spezifischen Entwicklungsaufgaben fokussieren wird.

Zu diesen Untersuchungs­bereichen im Metropo­litanraum Basel zählen der Gempen am Hang des Jurarückens, Muttenz-Pratteln, aber auch Basel Stadt.  Für diese fünf Räume, die je unterschiedliche planerische ­Herausforderungen einer prosperierenden Agglomeration darstellen, soll eine Strategie entwickelt werden, getragen von Leitsätzen wie «Die Rolle der Landschaft stärken» oder «Infrastrukturräume neu denken».

Im letztgenannten Thema, so Jacques Herzog, stecke beispielsweise die Frage, ­ob man angesichts der nahezu praxisreifen selbstfahren­den Auto­mobile künftig noch derart weit­läufige Verkehrsflächen be­nötige oder sie stattdessen schon bald für sinnvollere Zwecke nutzen könne. Der datenbasierten, funktionalistischen Herangehensweise von Abhari und Klumpner steht damit ein Ansatz gegenüber, der das Vorgefundene mit durchaus konventioneller Methodik charakterisiert, um es dann aber radikal an zukünftigen Technologien und gesellschaftlichen Anforderungen zu messen.

Die «völlige Unterschiedlichkeit im Ansatz wie in der Präsentation» gegenüber seinen Vorrednern sei ihm bewusst, sie sei auch gewollt, sagte Herzog. Jedoch liess er mit Blick auf den Ansatz der Zürcher Wissenschaftler auch leise Skepsis durchblicken – etwa mit der Frage, ob denn die basisdemokratisch gesinnte Schweiz wirklich ein Land sei, das «die Erfassung und Be­planbarkeit jedes einzelnen Individuums» wolle.

Dem Studio Basel liegt neben der planerischen Arbeit wie in den Werken früherer Jahre (etwa «Die Schweiz – ein städtebauliches Portrait») daran, stark zu sein im Bild, um die gesetzten Themen bestmöglich zu vermitteln. Bei den SIA-Delegierten war das den Basler Architekten vortrefflich gelungen, sie quittierten den Vortrag mit ausgiebigem Applaus. 

Mehrwert der Landschaft

Die Forstingenieurin Barbara Stöckli-Krebs knüpfte unmittelbar an die Stichworte von Jacques Herzog zum Thema Landschaft an: «Landschaft ist mehr als das, was bleibt, wenn alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen erfüllt sind», betonte sie bei der Vorstellung des Positionspapiers Landschaft der Berufsgruppe Umwelt. Schutz und Entwicklung der Landschaft sollte über die Behandlung im Projekt «Die Schweiz 2050» hinaus für den SIA ein eigenständiges Thema sein, verbunden mit planerischen Maximen, die sie als Thesen skizzierte. Ein Bericht hierzu wird folgen.

Dieses Thema wie auch die anderen Schwerpunkte der diesjährigen Delegiertenversammlung stehen für einen Wandel im Selbstverständnis des SIA und seiner Aufgaben: Es geht mehr denn je um planungspolitische Themen; damit verbunden ist der Anspruch, wo nötig, zukunftsrelevante Forschungsaufgaben wie «Die Schweiz 2050» aktiv anzustossen und nach Partnern zu suchen – also hochschulische und andere Thinktanks zu vernetzen, ja selbst bis zu einem gewissen Grad zum Thinktank zu werden.

Folgerichtig scheint das vor allem da, wo niemand anders als der SIA diese Aufgabe übernehmen kann oder will. Die Delegiertenversammlung 2016 war ein wie selten zuvor von solchen Zukunftsthemen bestimmter Tag.

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