Graf­ton Ar­chi­tects: «Un­se­re Man­dan­tin ist die Er­de»

Schönheit als Summe von Unvollkommenheiten, die Suche nach dem perfekten Mörtel und das Verhältnis zu einer äusserst speziellen Mandantin: Yvonne Farrell und Shelley McNamara, die Gründerinnen von Grafton Architects und Gewinnerinnen des Pritzker-Preises 2020, erzählen von ihrem Schaffen zwischen Denken und Praxis.

Publikationsdatum
08-12-2020

Francesca Belloni – Yvonne Farrell und Shelley McNamara, im März wurden Sie mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet. Sie blicken auf eine über vierzigjährige Tätigkeit zurück. Denken Sie, dass dieser Preis Ihr Schaffen oder, allgemeiner ausgedrückt, Ihre Möglichkeiten beeinflussen wird, auf kultureller Ebene Positives zu bewirken?

Yvonne Farrell: Wir fühlen uns sehr geehrt über diese Auszeichnung. Der Preis war eine Überraschung für uns und unser Team. Er ist auch deswegen eine wunderbare Sache, weil wir aus der Architekturerziehung unseres Landes hervorgegangen sind und dies eine allgemeine Anerkennung darstellt. Der Pritzker-Preis ist eine Ermutigung und stärkt unsere Überzeugung, dass man sich bewusst sein muss, wie sehr Architektur das Leben eines jeden Menschen beeinflusst.

Kürzlich sagten Sie: «Alles, was wir Architekten tun, wirkt sich auf unseren Planeten aus. Unser Einfluss auf die verletzliche Erde ist enorm.» Was bedeutet Nachhaltigkeit für Sie?

Yvonne Farrell: Für die Biennale von Venedig haben wir unsere wichtigsten Überzeugungen im «FREESPACE manifesto» aufgelistet, darunter die sehr zentrale, dass die Erde unsere wichtigste Mandantin ist.

Architektur ist ein Spiel mit Licht, Sonne, Schatten, Mond, Luft, Wind, Schwerkraft, das die Geheimnisse der Welt offenbart. All diese Ressourcen kosten nichts. Wenn wir uns für einen bestimmten Werkstoff entscheiden, nehmen wir ihn immer von der Erde. Deshalb müssen wir verantwortungsbewusst denken, das ist gleichsam ein moralischer Imperativ. Werkstoffe sind nicht einfach greifbare Materialien, die beim Bau von Gebäuden eingesetzt werden.

Statt ein Gebäude zu entwerfen und sich, als wäre diese Frage völlig zweitrangig, erst danach darum zu kümmern, es klimaneutral oder nachhaltig zu machen, sollten Überlegungen zu dessen sozialen und ökologischen Auswirkungen von Anfang an einfliessen.

Wenn die Erde unsere Mandantin ist, ist diese Mandantin lebendig. Aus diesem Grund lieben wir auch das 1400 erbaute Ospedale Maggiore in Mailand so – mit seinem hervorragenden Einsatz von Materialien zeugt es von Nachhaltigkeit und ist nach so vielen Jahrhunderten immer noch da, wird immer noch genutzt.

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In Der Idiot behauptet Dostojewski: «Schönheit wird die Welt retten.» Auf welche Vorstellung von Schönheit beziehen Sie sich, wenn Yvonne Farrell sagt: «Unser Schaffen trägt die riesige Verantwortung, die Welt zu verschönern»?

Shelley McNamara: Vor Kurzem haben wir mit dem italienischen Architekten Fulvio Irace ein anregendes Gespräch über den Unterschied zwischen Vollkommenheit und Schönheit geführt. Für ihn ist Schönheit eine Summe von Unvollkommenheiten. Diese Umschreibung gefällt mir.

Wenn man Architektur macht, hat man es mit Mörtel, Zement und vertrackten Verbindungen zu tun und strebt nach einer Art Vollkommenheit, aber all das erzeugt noch keine Schönheit. Hinter der Schönheit steckt etwas anderes, etwas, das irgendwie greifbar und doch nicht greifbar ist. Schönheit ist nichts Einfaches, aber wenn sie da ist, kann man sie spüren, und sie hat etwas mit Liebe, Leben, Hoffnung und Leidenschaft für das, was man tut, zu tun: ein Werkstoff ohne Worte, ein physischer Werkstoff wie Backstein und Mörtel, Stein und Zement. Es geht darum, die Komplexität von Funktion und Nutzen auszuschöpfen und darüber hinaus auf das Reich der Schönheit zuzustreben. Das ist unser täglicher Kampf.

Für die Architektinnen und Architekten meiner Generation fühlt es sich besonders an, durch den Viale Bligny zu gehen, weil da eines der ersten Gebäude des zeitgenössischen Mailand steht. Dabei wirkt der für eine bestimmte Mailänder Phase typische massiv-diskrete Bau der Bocconi-Universität von Ihnen so, als hätte er schon immer dort gestanden. Wie haben Sie das geschafft?

Yvonne Farrell: Bei der Einweihung des Gebäudes haben wir die Besitzerin des Hauses gegenüber kennengelernt, von dem aus ein Fotograf die Baustelle dokumentiert hat. Sie kam den Neubau anschauen, ging bis ins Untergeschoss und sagte dann: «Ein riesiger Bau, aber er umarmt einen.» Für uns war es unglaublich, wie klar sie den Sinn dieses Gebäudes erfasst hatte. Draussen wirkt es diskret, im Innern offenbart es hingegen einen völlig anderen Charakter.

Uns interessiert nicht die Architektur als Objekt, sondern der Raum. Was uns vorschwebte, war ein urbanes Gebäude, das in einen intensiven Dialog mit der Stadt tritt. Hinter dem soliden Äusser verbirgt sich eine Überraschung, wie bei einer Kathedrale. Das Gebäude ist streng und solid, aber wenn man es betritt, wird es völlig anders.

Shelley McNamara: Was die Formsprache betrifft, war es wirklich ein Kampf, weil wir auf dem Universitätsgelände zwischen Bauten von Mario Pagano und Giovanni Muzio waren, und am Ende des Corso Italia steht ein Gebäude von Luigi Moretti. Letztlich haben wir uns für Morettis Architektursprache entschieden.

Man verbringt Jahre damit, sich mit dem Rhythmus eines Baus auseinanderzusetzen und zu versuchen, das Gebäude rational zu gestalten, und plötzlich versucht der Instinkt sich zu befreien: So geschah es, dass wir spätabends an einem Sonntag die Fassade enfernten. Dieser Moment war wichtig – die Aula war in ruhiger Lage am anderen Ende angesiedelt, und an diesem Abend haben wir sie an den Viale Bligny verschoben. In der Planungsphase erlebt man Momente der Entdeckung und Momente der totalen Verunsicherung.

Wie begreifen Sie den Geist eines Orts, und wie übersetzen Sie dieses Gefühl in Architektur?

Shelley McNamara: Ich denke, Le Corbusier hatte Recht: Architekt zu sein besteht zu 90% aus «savoir voir». Als wir zum Beispiel nach Mailand und Toulouse gingen, wo wir unsere ersten Projekte ausserhalb von Irland realisierten, fühlten wir uns wie Detektive, die in den Falten der Stadt nach versteckten Indizien suchten, aus denen sich gute Ideen für das Projekt ergeben konnten.

Haben Kenneth Framptons Überlegungen zum Critical Regionalism ihre Heransgehensweise beeinflusst? Wie kann man innerhalb des aktuellen, globalisierten architektonischen Panoramas eine Kultur der Diversität pflegen?

Yvonne Farrell: Wenn man irgendwo baut, befindet man sich an einer spezifischen Stelle der Erde. Wären wir Zugvögel, die von Kanada nach Irland fliegen, würden wir uns der Schwerkraft und den Sternen anvertrauen, um zu wissen, wo wir sind. Die Gefahr in diesen globalisierten Zeiten ist, dass jeder Ort auf die gleiche Art und Weise wahrgenommen wird. Doch die Gravitationswirkung, das Licht, die Jahreszeiten unterscheiden sich von Ort zu Ort. Wir sind dann zufrieden, wenn unsere Bauten diese Unterschiede einfangen können.

Als wir in Toulouse arbeiteten, das aus wunderbaren Backsteinen gebaut ist, suchten wir nach Backsteinen, wie sie die alten Römer herstellten, und Shelley machte sich alle möglichen Gedanken über die Festigkeit und die Breite der Mörtelfugen. Bei vielen zeitgenössischen Gebäuden – aber nicht bei echter Architektur – passiert, wie mir scheint, dass sie einfach Produkt eines Serienprozesses sind. Dabei hat ihre Komplexität auch mit der kulturellen Komponente zu tun. Wenn sich die Beteiligten Gedanken über die Dicke des Mörtels machen und nach dem richtigen Backstein suchen, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass das Gebäude eine Eleganz erlangt, die alle, nicht nur Künstlerinnen und Künstler, erkennen können. Wir sind überzeugt, dass Architektur letztlich nur eine Art neutraler Hintergrund für das Leben ist.

In einem Interview haben Sie die Universität als «Labor für Fantasie» bezeichnet. Sie selbst unterrichten derzeit an der Accademia di Architettura in Mendrisio. Warum ist Ihnen der Kontakt zu Studierenden wichtig?

Shelley McNamara: Der Austausch zwischen den beiden parallelen Realitäten Lehre und Praxis ist fruchtbar. Wir praktizieren unseren Beruf und bringen die Praxis in all ihren Facetten an die Universität.

Wenn wir vom «Labor für Phantasie» reden, meinen wir damit, dass man im Unterricht relativ frei von den Zwängen des Berufs ist und die Studierenden dabei unterstützen kann, sich die Welt vorzustellen. Freiheit und Ernsthaftigkeit stehen nebeneinander: Wir können uns mit den Problemen, Verantwortlichkeiten und Herausforderungen der Architektur beschäftigen und die Studierenden gleichzeitig frei experimentieren lassen.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist auf der italienischen Seite von espazium.ch erschienen. Übersetzung aus dem Italienischen: Barbara Sauser.

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