Fi­li­gra­nes Stahl­fach­werk

Haggenbrücke über die Sitter bei St. Gallen; Instandsetzung: Basler & Hofmann, Zürich

Die 1937 eröffnete und vom Luzerner Bauingenieur Rudolf Dick gebaute Haggenbrücke über die Sitter bei St. Gallen ist einer der höchsten Fussgängerstege in Europa. Bereits bei der Einweihung aber erwies sie sich als sehr schwingungsanfällig, sodass sie auch nach Nachbesserungen nur teilweise für die vorgesehene Nutzung freigegeben werden konnte. Von 2009 bis 2010 setzten Basler & Hofmann das Bauwerk instand – die Anforderungen an die Technik sowie an Umwelt- und Denkmalschutz waren hoch, die Arbeitsbedingungen akrobatisch.

Publikationsdatum
01-01-2012
Revision
01-09-2015

Richtig freuen konnten sich die Gäste bei der Einweihung der vom Luzerner Bauingenieur Rudolf Dick erbauten Haggenbrücke am 24. Oktober im Jahr 1937 kaum: Die Menschenmassen, die das spektakuläre Bauwerk mit seinen bis zu 80 m hohen Stützen besichtigen wollten, versetzten die Brücke in starke Schwingungen. Schnell kamen Zweifel an ihrer Tragsicherheit auf. Dick bemass die Profile des ursprünglichen Fachwerks sehr knapp und stufte sie äusserst fein ab, um das dazumal wertvolle Material effizient einzusetzen. ­Projektänderungen während der Ausführung, wie die Vergrösserung der Spannweite eines Feldes, erhöhten die Ausnutzung der Querschnitte zusätzlich. Fritz Stüssi, damals Professor an der ETH Zürich, stellte mit einer statischen Überprüfung fest, dass die Bemessung nicht nur knapp war, sondern die zulässige Spannung in einzelnen Fachwerkstäben überschritten wurde. Bereits zwei Jahre nach dem Eröffnungsfest wurden deshalb einzelne Diagonalen und Gurtstäbe im Endfeld des Oberbaus sowie Stützenköpfe und Stützen verstärkt. Weil das Schwingungsverhalten damit aber nicht verbessert werden konnte, durfte die Brücke, die ­ursprünglich für Fuhrwerke bis zu 8 t ausgelegt war, in der Folge nur noch mit Ausnahmegenehmigung befahren werden und diente vor allem als Fuss- und Veloverbindung zwischen den beiden Gemeinden St. Gallen und Stein im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Der Volksmund nannte die Brücke passend «Ganggelibrogg».

Zustandserfassung

70 Jahre später – im Jahr 2007 – wiesen Fahrbahnplatte und Fundamente Schäden auf. Zwar war der Korrosionsschutz der Stahlkonstruktion in den 1980er-Jahren erneuert worden, sie zeigte aber bereits wieder starke Verschleisserscheinungen. Aus diesem Grund wurde eine vollständige Instandsetzung unumgänglich. Die Stadt St. Gallen und die Gemeinde Stein erteilten dem Ingenieurbüro Basler & Hofmann Ende 2007 den Auftrag, eine Zustands­erfassung, eine statische Überprüfung und ein Instandsetzungsprojekt auszuarbeiten. Ziel war es, das Bauwerk längerfristig als Geh- und Radwegbrücke zu erhalten und es so instand zu setzen, dass es den heutigen Sicherheitsanforderungen entspricht. Das Schwingungsverhalten der Brücke sollten die Ingenieure deutlich verbessern.
Für die Erfassung des Istzustandes nahmen die Bauingenieure die Schäden auf, untersuchten das Material und überprüften die Statik. Sie liessen sich von der Feuerwehr abseilen und inspizierten die gesamte Brücke visuell. Bereits vom Geotechniker erstellte ­Untersuchungen der Fundamente und Filmaufnahmen vom Überbau zogen sie in die Be­urteilung mit ein. Die Fundamente waren vor allem durch Steinschlag, Unterspülung durch die Sitter und Erddruck gefährdet. Am Stahlfachwerk zeigten sich zum Teil grossflächige Korrosionsschäden und Auftreibungen, d.h. Verformungen von eng aneinanderliegenden Blechen infolge Volumenzunahme durch Korrosionsprodukte. Die auf dem Fachwerkträger liegende Stahlbeton-Fahrbahnplatte wies Betonabplatzungen an der Unterseite, freiliegende Bewehrungseisen, undichte Fugen und Übergänge sowie einen abgenutzten Belag auf. Die Entwässerung leitete zudem das Wasser direkt auf das Stahlfachwerk.
Um die Tragsicherheit des Stahlfachwerks beurteilen zu können, entnahm man einen Dia­gonalstab, den die Empa Dübendorf auf Zugfestigkeit, Kerbschlagzähigkeit, chemische ­Zusammensetzung und Aufbau des Korrosionsschutzes untersuchte. Aufgrund der chemischen Analyse konnte das untersuchte Profil einem Thomasstahl zugeordnet werden, der nach SIA 263 einem heutigen Stahl S 235JR entspräche. Der alte Korrosionsschutz war zweischichtig, mit stark variabler Stärke von 130  m bis 900  m. Es wurden beträchtliche Zinkgehalte (40 g/m2), aber nur geringe Blei- (5 g/m2) und praktisch keine PCB-Gehalte gemessen.

Zeuge der Sankt Galler Industriebaukunst

Die Brücke ist im schweizerischen Inventar der Kulturgüter als Objekt von nationaler Bedeutung eingetragen, denn sie ist mit ihrer äusserst filigranen und materialsparenden Konstruktions­art Teil des Ensembles der St. Galler Industriekeimzellen und gilt als wichtiger Zeuge der Ingenieurbaukunst im letzten Jahrhundert – obwohl sie eigentlich eine technische Panne ist. Die notwendig gewordenen Eingriffe in das bestehende Fachwerksystem sollten gemäss dem Denkmalschutz bei vertretbaren Sicherheitsrisiken vermieden oder zumindest minimiert werden. Die Struktur, das genietete Geländer und die Kandelaber sollten erhalten bleiben.

Statische Überprüfung

Für die statische Überprüfung modellierten die Bauingenieure die Brücke mit einem räumlichen Stabtragwerksprogramm – basierend auf gut erhaltenen Archivplänen. Dann erfolgte die Prüfung mit den gültigen Lasten gemäss SIA 260 und 261. Die Ingenieure ermittelten die Tragsicherheit der einzelnen Stäbe und Anschlüsse mit den Schnittkräften nach Theorie I. Ordnung. Die untersuchten Anschlüsse erfüllten die Tragsicherheit. Eine begrenzte Anzahl Stäbe überschritt allerdings die Normwerte bezüglich Ausnutzungs-
graden Ed/Rd um 5 bis 27 %; die kritischen Stäbe befinden sich vor allem im Überbau.
Um die Schwingungsanfälligkeit der Brücke genauer zu untersuchen, wurden Messungen und Eigenfrequenzberechnungen durchgeführt. Die Eigenfrequenzen gemäss SIA 260 liegen in dem für Fussgängerverkehr kritischen Bereich von 1.6 bis 4.5 Hz in vertikaler und von <1.3 Hz in horizontaler Richtung. Die gemessene vertikale Schwing-
geschwindigkeit, die ­bereits ein bis zwei rennende Personen anregen können, beträgt 17.1 mm/s und ist grösser als der von der DIN 4150 vorgegebene Grenzwert von 5 mm/s. Die starken horizontalen Auslenkungen wiederum können dazu führen, dass Personen aus dem Tritt geraten. Allerd­ings müssten viele Personen die Brücke begehen, bis die horizontale Schwingung deutlich wahrnehmbar würde – was eher selten vorkommt. Für die tägliche Nutzung sind deshalb vor allem die vertikalen Schwingungen von Bedeutung.

Gewicht reduzieren und Dämpfung erhöhen

Das Instandsetzungsprojekt stellte vor allem die hohen Ausnutzungsgrade und die Schwingungsanfälligkeit in den Vordergrund. Zum einen sollten Tragsicherheit und Schwingungsverhalten deutlich verbessert werden, gleichzeitig aber durfte die Leichtigkeit der Konstruktion aus Denkmalschutzgründen nicht verunklärt werden. Eine orthotrope Stahlplatte mit einem Gussasphaltbelag ersetzt die Fahrbahnplatte aus Beton. Damit reduziert sich das ­Gewicht der Fahrbahnplatte einschliesslich Belag von 413 kg/m2 auf 280 kg/m2. Diese ­Gewichtsreduktion und der Verbund der neuen Stahlplatte mit den Obergurten verbesserten das statische Verhalten deutlich. Der Ausnutzungsgrad Ed/Rd der massgebenden pfeiler­nahen Stäbe des Untergurtes und der Streben verringerte sich von 1.27 auf 1.09, und die ­Eigenfrequenz fv von etwa 2.5 Hz erhöhte sich leicht, wodurch die Brücke etwas steifer wurde. Dennoch blieben zwölf Druck- und vier Zugstreben unter den normgemässen Sicherheiten. Für sie planten die Ingenieure Profilergänzungen und Verstärkungen ein.
Da sich mit der leichteren Stahlplatte allein die Tragwerkssteifigkeit und das Schwingungsverhalten nur geringfügig verbessert, empfahlen die Ingenieure, Schwingungsdämpfer ­einzusetzen). Wegen der hohen technischen und ästhetischen Anforderungen, ­insbesondere bezüglich Denkmalschutz, konnte man keine Standardprodukte verwenden, sondern es mussten massgeschneiderte Dämpfer entwickelt werden. Insgesamt reduzieren nun vier vertikale und zwei horizontale Dämpfer die Schwingungen um etwa den Faktor 3. Die Dämpfungen wurden von 0.5 auf etwa 2.5% angehoben.

Neuer Korrosionsschutz

Für die Erneuerung des Korrosionsschutzes wurden verschiedene Varianten geprüft. Wäre die gesamte Brücke für die Arbeiten eingehaust worden, hätte dies infolge Windlasten eine massive Zusatzbelastung für die filigranen Pfeiler bedeutet, die Abspannungen hätten ­aufnehmen müssen – und dies in einem engen Flusstal mit Hochspannungsleitungen. Die Planenden begrenzten die Einhausung deshalb auf rund 35 m lange Etappen. Im restlichen Bereich wurde der Korrosionsschutz im Freikletterverfahren instand gesetzt. Der eingehauste Bereich erhielt einen dreischichtigen Korrosionsschutz, und im nicht eingehausten Bereich brachten die Kletterer von Hand zwei Schichten auf. Die Instandsetzungsarbeiten in schwindelerregender Höhe stellten extreme Anforderungen an die Beteiligten: Zehn Fachkräfte mit einer Kletterausbildung für Arbeiten am hängenden Seil führten die Erneuerung von rund 5700 m2 Korrosionsschutz aus. Die Suva besprach vor Beginn der ­Arbeiten das ­Sicherheits- und Rettungskonzept und probte allfällige Bergungsmassnahmen. Da unter der Haggenbrücke eine Hochspannungsleitung durchführt, wurden die Arbeiten frühzeitig mit dem Kraftwerksbetreiber abgestimmt und die Leitung zeitweise abgeschaltet.

Umweltschutzmassnahmen

Die Bauarbeiten wurden in enger Zusammenarbeit mit den kantonalen Umweltämtern ausgeführt. Um zu verhindern, dass schadstoffhaltiger Korrosionsschutzbelag in die Umwelt gelangt, ergriff man Schutzmassnahmen, wie mobile Zelte im Bereich der Fahrbahn oder Rucksackstaubsauger für die Freikletterer. Bei zwei Pfeilern stellten die Fachkräfte während der Ausführung höhere Bleigehalte fest als sondiert. Um die Schadstoffe aufzufangen, ­montierte man zusätzliche, fächerförmige Auffangvliese um die Pfeiler. Unterhalb der Brücke wurden monatlich Kontrollmessungen durchgeführt. Sie zeigten während der entsprechenden Bauarbeiten etwas erhöhte, jedoch tolerierbare Schadstoffemissionen.
Die letzten Arbeiten an der filigranen Konstruktion wurden vor einem Jahr abgeschlossen. Seither präsentiert sich der Fussgängersteg aufgefrischt, und es können neben Fussgängern und Velos nun auch Mopeds und Unterhaltsfahrzeuge bis 3.5 t auf die Brücke.

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