es­pa­zi­um un­ter­wegs: die «Ca­sa Ro­ton­da» von Cor­zo­ne­so

Im Bleniotal steht eine kleine architektonische Kuriosität: Das Haus, erbaut im 18. Jahrhundert, stellt mit seinem kreisförmigen Grundriss eine unkonventionelle Abweichung von der lokalen, üblicherweise eckigen Architektur dar. In dieser «Casa Rotonda» lebte einst auch Roberto Donetta, Fotograf und Samenhändler, der nach seinem Tod durch seine Fotografien Bekanntheit erlangte.

Publikationsdatum
03-08-2021

Auch in diesem Sommer bleibt das internationale Reisen schwierig. Unter dem Motto «In Grenzen unbegrenzt» präsentieren wir Ihnen daher wöchentlich unsere Redaktionstipps mit Ausflugsideen zu Schweizer Perlen der Baukultur.

Runde Strukturen sind selten im ländlichen Tessin. Im Bleniotal gibt es zwar die «nevèra» oder «giazzéra», eine Art Kühlhäuschen, auf deren Grund die Dorfbewohnerinnen und -bewohner Schnee sammelten, um darin während der warmen Monate Lebensmittel zu lagern; sie waren jedoch nicht als Behausung für Menschen gedacht.

In Corzoneso, einem Ortsteil von Casserio, das am Hang über Acquarossa liegt, findet sich – nebst Häusern mit meist quadratischem Grundriss, die in vorsichtigem Abstand voneinander auf dem Hügel verstreut sind – ein Haus mit kreisförmigem Grundriss, die «Casa Rotonda». Man erreicht sie mit dem Bus oder dem Auto, aber auch zu Fuss auf dem «Sentiero storico n. 1», einem historischen Wanderweg durch das Bleniotal. Auf einer Strecke von 14.5 km und mit einer Wanderzeit von rund fünf Stunden führt er zu einigen bemerkenswerten Bauwerken der Gegend.

Die «Casa Rotonda» ist drei Etagen hoch gebaut. Sie hat verputzte Steinwände und ein Dach aus Pappelholz. Historische Dokumente zeigen, dass das Gebäude als Schule genutzt wurde: Im ersten Stock befand sich das Klassenzimmer, im Obergeschoss befand sich die Wohnung des Lehrers, zudem gab es einen Kellerraum.

Heute kann man sich kaum vorstellen, wie dieses Gebäude damals auf die Schüler des Tals gewirkt haben muss, die sich in diesem unerwarteten Zylinder wiederfanden. In der Armut des Dorfs muss allein schon die schlichte Geste, eine geschwungene Mauer zu errichten, wie ein fantasievoller barocker Kunstgriff gewirkt haben – und trug sicherlich dazu bei, die Bedeutung der Bildungseinrichtung im Dorf zu unterstreichen. Noch heute staunt man beim Betreten des Hauses, nachdem man die kantigen Dorfhäuser passiert hat, die trotz Doppelverglasung und Blumenbeeten ihre ursprüngliche Essenz verraten.

Im Jahr 1900 zog ein exzentrischer Einheimischer hier ein: Roberto Donetta (1865–1932) war Saatguthändler und Fotograf aus dem Bleniotal. Er lebte in ärmlichen Verhältnissen und versuchte, seinen Lebensunterhalt mit seiner Faszination für die Fotografie in Einklang zu bringen, die ihn trotz den hohen Kosten für Belichtungsplatten und Chemikalien – und trotz dem Unverständnis der Dorfbewohner – nicht losliess.

Heute beherbergt die «Casa Rotonda» die Fondazione Archivio Donetta. Sie bewahrt 5000 belichtete Glasplatten und 600 Originalabzüge auf, die Donetta nach seinem Tod hinterliess, zusammen mit alten Briefen und Schriften. Zudem finden hier Ausstellungen zeitgenössischer Fotografen statt. Das Archiv ist jeweils samstags und sonntags von 14 bis 17 Uhr oder nach Vereinbarung geöffnet.

Roberto Donetta. Fotograf und Samenhändler aus dem Bleniotal, Katalog zur Ausstellung in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur (28. Mai bis 4. September 2016), herausgegeben von Gian Franco Ragno und Peter Pfrunder, Limmat Verlag, Zürich 2016.

 

Es gibt auch einen Katalog in italienischer Sprache mit dem Titel «Roberto Donetta. Fotografo», erschienen zur Ausstellung im MASI Museo d'arte della Svizzera italiana in Lugano (20. November 2015 bis 20. März 2016), herausgegeben von Gian Franco Ragno, Edizioni Casagrande, Bellinzona 2015.

 

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Übersetzung aus dem Italienischen:
Redaktion espazium.ch

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