«Ei­ne Stadt exis­tiert in Ver­bin­dung mit an­de­ren Städ­ten»

Interview mit Markus Schäfer, Co-Kurator des «Salon Suisse» 2014 in Venedig

Nach Abschluss der drei Diskussionsabende am ersten Salon über das Thema «Design: The Nature of Cities» bitten wir Markus Schäfer um eine erste, provisorische Bilanz.

Publikationsdatum
02-12-2014
Revision
25-08-2015
Laura Ceriolo
Architektin, Historikerin für Wissenschaft und Bautechnik

Laura Ceriolo: In diesen ersten drei Studientagen zum Thema «Die nächsten 100 Jahre – Szenarien für einen alpinen Stadtstaat» hat sich dies als ein komplexes, umfassendes und ehrgeiziges Projekt über die Zukunft der Stadt abgezeichnet. Wie ist dieses Projekt entstanden?
Markus Schäfer (M. S.): Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass diese Idee als informelles, nicht akademisches und nicht professionelles Projekt entstanden ist. Es sollen Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und aus unterschiedlichen Disziplinen eingebunden werden, und es gibt keine von Anfang an festgesetzten Grenzen. Es geht darum, unterschiedliche Kenntnisse um das Thema der «Stadt» herum zu bündeln. Das Ziel ist, eine Grundstruktur zu finden, auf deren Grundlage einige Fragen zur Stadt formuliert werden können, ohne den Ehrgeiz, «absolute» Antworten geben zu wollen.
Ein Aspekt, der mir besonders wichtig ist, betrifft die Sensibilisierung von Experten und der öffentlichen Meinung zur Frage der Stadtplanung, die in der Schweiz weder politisch noch als Studiendisziplin richtig verstanden wird. Deshalb möchten wir Wissen erzeugen und glaubwürdige Lösungen für die Zukunft der Stadt vorschlagen.
Um auf das Thema der Stadtplanung in der Schweiz zurückzukommen: Ich möchte nicht, dass unter diesem Begriff nur eine Ansammlung von Gebäuden verstanden wird, die zusammengenommen eine Stadt bilden. Die Stadt bietet Möglichkeiten und Chancen. Wir leben gut darin, aber wir verstehen sie nicht auf professionelle Art und Weise. Auch aus diesem Grund wollte ich in diesem multidisziplinären, internationalen kulturellen Kontext über die Zukunft der Stadt sprechen.

Was auf den ersten Blick auffällt, ist in der Tat der interdisziplinäre Charakter des Projekts. Welche Erwartungen werden an diese Form der Debatte gestellt?
M. S.: In den ersten drei Tagen des Seminars sprechen Personen mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlichem Wissen ihre eigene Fachsprache. Am Anfang verstehen sie einander nicht, obwohl niemand von ihnen falsche Aussagen macht oder unmögliche Thesen propagiert.
In der Fachsprache der Architekten spricht man von der Form oder vom Bild der Stadt, während im Rahmen dieses Projekts eine umfassendere Sprache verwendet wird, die aus verschiedenen Bereichen entliehene Begriffe mit einschliesst. Zu den Zielen dieser Initiative gehört denn auch die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache und eines gemeinsamen Vorgehens zum Wohl der Stadt und der Gesellschaft.

Die Stadt wird als vielseitiger Organismus und als physisches und moralisches Gebilde dargestellt?
M. S.: Ja, die Stadt hat zweifellos viele Gesichter. Wir glauben, dass es sich bei Städten um Infrastrukturen handelt, die Kultur und Technologie verbreiten, die Auswirkungen auf die Gesellschaft haben. In diesem Salon möchten und müssen wir diese Informationen daher analysieren. Wir müssen die unterschiedlichen Aspekte der allgemeinen Entwicklung der Stadt und auch die besonderen Phänomene verstehen.

Was bedeutet der alpine Stadtstaat für einen Architekten?
M. S.: Eine Stadt ist nicht isoliert, sondern existiert in Verbindung mit anderen Städten, mit denen sie in Kontakt steht. Gleichzeitig beeinflusst sie ihrerseits andere Städte. Moderne Städte stehen im Wettbewerb zueinander, kooperieren aber auch miteinander. Die Schweiz stellt sich als künstliches Stadtsystem dar. Die Veränderungen in den polyzentrischen und interregionalen Raumstrukturen der Schweiz müssen auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichen Instrumenten untersucht werden.

Was denken Sie über die in diesen Tagen vorgestellten Theorien über das Gleichgewicht und die Instabilität der Wirtschaft und der Stadt?
M. S.: Das Wachstumssystem der westlichen Stadt tendiert zu einer Expansion, zu einer Aneignung von Land und von Ressourcen. Dieses Wachstum ist nicht linear, sondern hängt von komplexen Faktoren ab. Es kann sich schnell verändern und einen Zusammenbruch herbeiführen, da das Kultursystem traditionell um die Instabilität herum organisiert ist. China und Japan dagegen, die historischen Grossreiche, waren streng organisiert und sehr stabil. Die hier eingeladenen Experten können uns helfen zu verstehen, wie das geschieht, und uns bei der Entwicklung mathematischer und nichtmathematischer Modelle unterstützen, um den Kollaps unserer Städte zu zu verhindern.
Die «Dragon-Kings»-Theorie modelliert eine Extremsituation kurz vor dem Zusammenbruch, was sich in einem plötzlich auftretenden ungewöhnlichen Wert in einer ansonsten eher homogen gestalteten Datenmenge manifestieren kann.
Die Stadt ist kein isolierter urbaner Raum, sondern ein Kontinuum, zu dem auch die Landschaft gehört. Wenn wir die Stadt in diesem Sinne betrachten, wird es uns vielleicht auch gelingen, die Paradigmen zu finden, mit denen das Wachstumsproblem definiert werden kann.
Ein Beispiel: Wir haben den Kurator des chinesischen Pavillons Jiang Jun getroffen, dessen Thema «Mountains beyond mountains», «Berge jenseits der Berge», als eine Reihe von Bergen definiert ist, die jedoch kein kontinuierliches System bilden, weil man von jedem Berg zunächst in das Tal hinabsteigen muss, um dann wieder auf den nächsten Berg zu steigen. Es handelt sich um das Bild einer Geschichte ohne Atempause. Es gibt keine Linearität, keinen leeren Raum, sondern eine konzentrische Entwicklung, wie dies bei der Stadt der Fall ist, die aus Beziehungen und Spannungen besteht und in der die organisatorischen Grundlagen, die Fundamente – der Familie, der Stadt, des Staats bis hin zur Natur – aufeinandertreffen und in Beziehung zueinander treten. Es handelt sich um einen Konstruktionsprozess eines Systems integrierter und voneinander abhängiger Architektur, bei dem die Werte Nachhaltigkeit, Freiheit und Achtung der Natur eingeschlossen sind. Die Geschichte findet Ausdruck in der Stadt und in der Landschaft, wird aber gleichzeitig von Stadt und Landschaft gestaltet. So müssen wir über ihre Zukunft nachdenken.

Wie wird sich die Debatte über die Stadt der Zukunft im zweiten Salon in grossen Zügen gestalten?
M. S.: Im zweiten Salon mit dem Titel «The Reality of cities» werden wir mit Planern, Stadtplanern und Landschaftsplanern über die Idee des Stadtstaates sprechen, über jene städtische Entwicklung, die zur «globalen» Urbanisierung eines ganzen Landes führt. Wir werden auch untersuchen, was vor Ort geschieht, und über die «cooperation-cities» sprechen.

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