Das Um­brel­la House ist um­ge­zo­gen

Auf dem Gelände von Vitra in Weil am Rhein wurden zahlreiche Gebäude nach Entwürfen von international bekannten Architekten erstellt. Aber es finden sich auch Bauwerke, die dorthin verlegt wurden – so eine Tankstelle von Jean Prouvé (1953) und ein geodätischer Dom von Buckminster Fuller/Thomas C. Howard (1975). Neu dazu gekommen ist nun das Umbrella House aus Tokio von Kazuo Shinohara (1961).

Publikationsdatum
11-07-2022

Kazuo Shinohara (1925–2006) ist international wenig bekannt, zählt aber nebst Kenzō Tange zu den bedeutendsten japanischen Architekten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Werk beeinflusste Architektinnen und Architekten wie Toyo Ito und Kazuyo Sejima.

Nachdem der 1925 in Shizuoka geborene Kazuo Shinohara 1947 seinen Bachelor in Mathematik an der Tokyo University of Science abgeschlossen hatte, entschied er sich nach einem Besuch der Tempelanlagen von Nara, eine zweite Ausbildung in Architektur zu absolvieren. Die historischen Anlagen faszinierten ihn so sehr, dass er sich 1950 am Tokyo Institute of Technology zum Architekturstudium einschrieb. Neben einer Reihe von theoretischen Schriften besteht Kazuo Shinoharas Werk vorwiegend aus kleineren Wohnhäusern. Shinohara war bis zu seinem Tod 2006 als Architekt tätig. Posthum wurde ihm 2010 anlässlich der 12. Architekturbiennale in Venedig der Goldene Löwe verliehen, eine Auszeichnung neben vielen anderen.

Asyl in Weil am Rhein

Da das Umbrella House an seinem bisherigen Standort in Nerima, einer Wohngegend in Tokio, aufgrund eines Projekts für den Strassenbau abgerissen werden sollte, hat Vitra das Bauwerk übernommen, um es für die Nachwelt zu sichern. Dazu Rolf Fehlbaum, Chairman Emeritus von Vitra: «Die Verlegung eines Gebäudes ist dann sinnvoll, wenn seine Konstruktion dies problemlos zulässt, und natürlich muss es in den Kontext des neuen Orts passen. Das Umbrella House erfüllt beide Kriterien: Es ist relativ leicht zu versetzen und steht in Verbindung mit der starken japanischen Präsenz – Tadao Ando, SANAA und bald auch Tsuyoshi Tane – auf dem Vitra Campus.»

Das in Holzständerbauweise konstruierte Haus wurde im Sommer 2020 sorgfältig abgebaut und in seine Einzelteile zerlegt. Die Holzkonstruktion aus Japanischer Zeder, Japanischer Kiefer und Douglasie wurde zusammen mit den weiteren Teilen des Hauses verpackt und nach Weil am Rhein verfrachtet. Der Wiederaufbau auf dem Vitra Campus hat im September 2021 in enger Abstimmung mit dem Tokyo Institute of Technology begonnen und konnte im Sommer 2022 abgeschlossen werden.

Ein Schirm für eine kleine Familie

Das Holzhaus weist eine quadratische Grundfläche auf und bot unter seinem namensgebenden Dach – dem «Schirm» – Platz für eine kleine Familie. Shinohara richtete sich für diesen Entwurf an der traditionellen japanischen Wohn- und Tempelarchitektur aus und verwendete verschiedene Motive erstmalig im Wohnungsbau. So war die pyramidenförmige Dachform des Hauses bislang allein in Tempelanlagen zu finden. Shinohara achtete beim Bau ausserdem darauf, einfache und kostengünstige Materialien zu verwenden, etwa Zementfaserplatten für die Fassade. Für den japanischen Architekturdiskurs der 1960er-Jahre war das Umbrella House neuartig und anregend.

Kazuo Shinohara selbst schrieb über das Projekt: «Meine feste Überzeugung, dass ‹ein Haus ein Kunstwerk ist›, entstand aus der Auseinandersetzung mit diesem kleinen Haus. Ich wollte die Kraft des Raums einer Doma (Raum mit Lehmboden) eines alten japanischen Bauernhauses zum Ausdruck bringen, hier mithilfe der geometrischen Struktur eines Karakasa (japanischer Regenschirm aus geöltem Papier).»1

Durchdachte Raumorganisation

Shinohara unterteilte hat sein Werk in vier Stile, in denen er sich jeweils unterschiedlichen Fragestellungen widmete. Das 1961 erstellte Umbrella House ist das kleinste und eines der letzten noch erhaltenen Wohnhäuser aus seinem Ersten Stil. Auf einer Grundfläche von 55 Quadratmetern befinden sich die Küche mit Esstisch, ein Wohnraum, ein Badezimmer und ein traditionelles Tatami-Zimmer mit 15 Tatami-Matten in halber Grösse, das der ganzen Familie Platz zum Wohnen und Schlafen bot. Das leicht höher gelegene und mit einer flachen Decke versehene Tatami-Zimmer kann durch fünf Schiebetüren (Fusuma) vom Wohnraum abgetrennt werden. Auch die Drucke der Künstlerin Setsu Asakura auf den Schiebetüren sind Teil der Vorgaben Shinoharas.

Die sichtbare Schirmstruktur des Daches deckt ein rund vier Meter hohes Raumvolumen, das die Grundfläche grösser erscheinen lässt. Eine Leiter erschliesst den halbhohen Raum über dem Tatami-Zimmer, der als Stauraum diente. Die Möbel wurden von Kazuo Shinohara und dem Designer Katsuhiko Shiraishi entworfen. Künftig besteht das Mobiliar des Hauses in Teilen aus Nachbauten und aus Originalmöbeln.

Anmerkung

1 Text zum Umbrella House, Shinkenchiku, Ausgabe 37, Nr. 10, Tokio, Oktober 1962 (Erste Publikation auf Englisch in: The Japan Architect, Ausgabe 38, Tokio, Februar 1963)

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