Das Ge­heim­nis der Mi­schung

Ehemalige Aromafabrik in Zürich wird ein Wohnhaus; Architektur: Vera Gloor AG

Kommt man an der Butzenstrasse 54–60 in Zürich an, hat man zunächst die Wahl zwischen einer Zufahrt mit Törchen und einer Hofeinfahrt mit Garage und Kran. Beim Betreten der Gartenterrasse mit dem grossen Tisch im Herzen der 2009/2010 umgebauten Liegenschaft wähnt man sich schliesslich im Wohnzimmer einer Grossfamilie. Die für Uneingeweihte verwirrende Ankunftssitua­tion entpuppt sich als sinnvoller Auftakt zu einer Architektur des Neben- und Miteinander.

Publikationsdatum
28-12-2011
Revision
25-08-2015

Unmittelbar nach Kriegsende hatte der Unternehmer Emil Flachsmann das Grundstück am Waldrand in Zürich Wollishofen zum Sitz seiner Aromafabrik bestimmt und Stück für Stück ausgebaut. Zwischen 1948 und 1970 entstand zunächst das Bürogebäude, (Haus­nr. 60) gefolgt von der Unternehmervilla (Nr. 54) und, als deren Anbau, von zwei Mietwohnungen (Nr. 56). Parallel dazu wurden die Fabrikations- und Lagerbereiche im zweigeschossigen UG stetig erweitert – so entstand auch die beide Häuser verbindende terrassenartige Plattform. Nach der Auslagerung der Produktion in den 1990er-Jahren wurden die überschüssigen Lagerräume im zweiten Untergeschoss teilweise als Werkstätte an Dritte vermietet. Diese behielten ihren Betrieb auch noch bei, als das Unternehmen 2003 an die Firma Frutarom veräussert wurde, welche die Liegenschaft zum Verkauf ausschrieb.

Vorstellungskraft, Vertrauen

Aufgrund des inzwischen gesetzlich festgelegten Waldabstandsbereichs, der renditefähige Ersatzbauten verunmöglicht, und des hohen Investitionsbedarfs im Falle einer Weiternutzung fand die Liegenschaft trotz ihrer attraktiven Lage kaum Interessenten. Der Erwerb nach vierjährigem Leerstand durch eine Käufer-gemeinschaft, bestehend aus drei Familien mit je zwei Kindern, erforderte deshalb Mut und professionelle Begleitung. Betreut wurde das Projekt von Beginn an vom Architekturbüro Vera Gloor AG, das von der Verkaufsberatung über Projektentwicklung und Entwurf bis zur Ausführung eng mit der Bauherrschaft zusammenarbeitete. Das Gebäudekonglomerat vermochte mit seiner durch Entstehungszeit und -prozess geprägten baulichen Substanz zunächst kaum freudige Nostalgie entstehen lassen. Die Suche nach erhaltenswerten Elementen erforderte einiges an Vorstellungskraft. Als eigentliches Kapital erwies sich schliesslich seine Funktion als Konglomerat der verschiedenen Nutzungen. Ein Nutzungsmodell teilte die Liegenschaft in drei Wohn-eigentumseinheiten – zwei davon im ehemaligen Bürogebäude und eine in der Unternehmervilla – sowie in Bereiche mit Eigentümergemeinschaft auf. Letztere umfassen nebst dem Garten auch die weiterhin als solche genutzten Mietwohnungen und die Bereiche im UG, die ausserhalb der zum Haus gehörenden Keller liegen, zur Vermietung an Kleingewerbler. Die baulichen Massnahmen wurden etappenweise so geplant und realisiert, dass die vermietbaren Bereiche schnell als Einkommensquelle aktivierbar waren. Durch dieses komplexe und unkonventionelle Finanzierungsmodell wurde die Liegenschaft für die drei Familien erst tragbar, und es bedingte, dass auch ein Immobilienschätzer und die Bank bereits in den Vorabklärungsprozess zur Machbarkeit einbezogen wurden. Ver­trauen und offene Kommunikation unter allen Beteiligten galt als erster Grundsatz für die gesamte Planung, das Architekturbüro übernahm dabei die Moderatorenrolle.

Individualität, Gemeinschaft

Dem Finanzierungsplan entsprechend wurden die Eingriffe im Gewerbeteil im Wesentlichen darauf beschränkt, die Elektroinstallationen und die Raumtrennungen den feuerpolizeilichen Auflagen anzupassen. Die Mietwohnungen wurden mit einer sanften Renovation der Oberflächen und Nasszellen sowie der Schalldämmung des Bodens im Obergeschoss bezugsbereit. In den gemeinsamen Aussenräumen waren vor allem Verbesserungen der Absturzsicherungen notwendig, durch Aufmauern von Brüstungen oder, wo Transparenz bevorzugt wurde, durch Geländer des hauseigenen Schlossers, dem Ur-Gewerbemieter aus Aromafabrikzeiten. Mehr gestalterischen Aufwand brachten die drei Hausteile der Eigentümer mit sich, die als autonome Einheiten konzipiert sind. Die gezielte individuelle Behandlung aller Teile erforderte eine dreifache Synthese von persönlichen Wünschen, Kostenkontrolle und bestehender Substanz bzw. deren Beibehaltung gemäss Auflage der Bestandesgarantie. Die Ausrichtung von Wohn- und Nassräumen bestimmt das unterschiedliche Verhältnis der Einheiten zu den Aussenräumen, in denen ein reizvolles Nebeneinander von gemeinsamem Garten und individuellen Rückzugsbereichen geschaffen wurde. Die Erschliessung des Hauses Nr. 60 wurde dazu von der Strasse nach innen verlegt, und beide Einheiten erhielten einen direkten Eingang über die Gartenterrasse. Ein weiterer struktureller Eingriff bildet einen roten Faden der Gestaltung durch die drei Einheiten: Durch vertikale und horizontale Durchbrüche in den Wohn- und Essbereichen wurden neue Raumbezüge und eine aktuelle Grosszügigkeit geschaffen. In der Verwendung von Glasbausteinen, die als vorhandenes gestalterisches Element der Gewerbebauten aufgenommen und als atmosphärisches Motiv in den Wohnbereichen eingesetzt werden, findet sich der zweite rote Faden. Der weitere Innenausbau widerspiegelt in Stil und Standard die individuellen Vorlieben der Benutzer, aber auch die heterogene Qualität der vorgefundenen Substanz.

Der andere Investor

Dieses Projekt der Gleichzeitigkeit von Individualität und Gemeinschaft in vielfältiger Nutzungsdurchmischung entwirft ein zeitge­nössisches Wohnmodell mit Potenzial zum Weiterdenken. Darüber hinaus verweist es aber auch auf ein Modell jenseits des konventionellen Immobilienmarkts: Angemessenheit und Beseeltheit des Projekts gründen wohl im Wesentlichen darin, dass Eigentümer und Bauherrschaft zugleich auch die zukünftige Bewohnerschaft ausmachten.

Am Bau Beteiligte


Bauherrschaft
privat


Architektur
Vera Gloor AG


Bauingenieurwesen
De Vries Engineering GmbH, Zürich


Bauphysik
Michael Wichser + Partner AG, Dübendorf


Bauleitung
Reichelt Architektur + Bauleitung GmbH 

Tags
Magazine

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