Co­ro­na ist nur der An­fang

Über ein Jahr seit Beginn der Pandemie: Was können wir daraus lernen, um künftig lebenswertere Wohnungen zu bauen? Vier Diskussionsrunden unter Fachleuten bestätigen bekannte, aber allzu oft vergessene Grundsätze – und die Dringlichkeit, diese Erkenntnisse in die Tat umzusetzen.

Publikationsdatum
12-04-2021

«Architektur & Stadtentwicklung: Dichte auf dem Prüfstand» hiess die Reihe von vier Online-Thinktanks, die das Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur CCTP der Hochschule Luzern und das Bundesamt für Wohnungswesen BWO in den vergangenen Monaten veranstaltet haben. Der Prüfstand, das war – und ist – die Covid-19-Pandemie, die seit gut einem Jahr den Alltag der Menschen prägt. Und weil dieser Alltag aufgrund diverser Einschränkungen grösstenteils in der eigenen Wohnung stattfinden musste – und muss –, drängt sich eine kritische Betrachtung von deren Qualität auf.

Zwar blieben der Schweiz radikale Massnahmen wie Ausgangssperren bisher erspart. Doch auch hierzulande erweisen sich Shutdown, Homeoffice, Ferien in Balkonien und Homeschooling als Härtetest für das Wohnumfeld. Unsere Wohnungen, Häuser, Siedlungen und Quartiere sind in der Regel nicht für derart intensive, sich teilweise zeitlich überlagernde Nutzungen ausgelegt. Unter dem Vergrösserungsglas der Pandemie offenbaren sich ihre Stärken und Schwächen mit erbarmungsloser Deutlichkeit.

Die Immobilien-, Planungs- und Baubranche täte gut daran, aus diesen Erfahrungen zu lernen. Welche Erkenntnisse sie konkret aus dem langen Ausnahmezustand ziehen kann, ist indes nicht immer klar. Früh fiel in der öffentlichen Debatte der stark strapazierte Begriff «Dichtestress»; doch Beispiele aus der Praxis zeigen, dass bauliche Dichte sowohl Enge als auch höhere Lebensqualität generieren kann. Welche Kriterien letztlich den Ausschlag geben, war die Frage an die Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Ländern und Disziplinen, die sich in den vier Thinktanks versammelten.

Unerfreuliche, aber aufschlussreiche Versuchsanordnung

Die erste Veranstaltung fand im Mai 2020 statt; damals steckte die Schweiz im ersten Shutdown. Über die Sommermonate gab es schrittweise Lockerungen, gefolgt im Herbst 2020 von steigenden Infektionszahlen, neuen Massnahmen und einem zweiten Shutdown, der zurzeit zaghaft gelockert wird. In diesen über zwölf Monaten hatten die Menschen – Laien wie Experten – somit reichlich Gelegenheit, mehr über die Qualität und die Krisentauglichkeit unterschiedlicher Wohnsituationen zu erfahren. Die Belastungsprobe umfasste alle Schattierungen, vom Normalzustand über erhöhten Anforderungen während der Homeoffice-Pflicht bis hin zur Maximalbelastung beim fast vollständigen Rückzug sämtlicher Bewohnerinnen und Bewohner in die eigenen vier Wände, als auch die Schulen geschlossen waren.

In den ersten zwei Thinktanks ging es primär um die Sicht von internationalen Fachleuten aus Planung, Städtebau und Architektur. In der dritten Veranstaltung erhielten diejenigen das Wort, die während der Pandemie «vor Ort» engagiert und betroffen waren: Nutzerinnen und Nutzer, Hausverwaltungen, Wohnassistentinnen und Siedlungscoaches. In der Abschlussveranstaltung schliesslich kam als neue Disziplin die Immobilienwirtschaft hinzu. Nun galt es, ein Resümee zu ziehen: Wie steht es um die Resilienz und die Aneigenbarkeit unserer Lebensräume? Was hat sich bewährt, was gilt es in Zukunft zu verbessern? Inwiefern hat die Pandemie unser Verständnis von Wohnen, Nachbarschaft und Quartier verändert?

Dabei zogen sich zwei Themen wie ineinander verschlungene rote Fäden durch die Diskussionen, über alle Disziplinen und Massstäbe hinweg: erstens die Qualität des gebauten Lebensraums und zweitens die Qualität der sozialen Interaktionen, die in diesem Lebensraum stattfinden, gemessen etwa an der Solidarität innerhalb von Nachbarschaften. Die beiden Faktoren sind korreliert, aber die Korrelation ist nicht kausal; sie können sich gegenseitig fördern oder behindern, das eine folgt jedoch nicht aus dem anderen.

Caring Communities oder der Wert funktionierender Nachbarschaften

Auf die sozialen Interkationen wirkte sich die Pandemie wie ein Katalysator aus. Wo die Nachbarschaft schon vorher gut funktionierte, hat sie sich auch weiterhin bewährt, und es sind nachbarschaftliche Hilfs- und Unterstützungsnetzwerke entstanden. Wo dagegen vor der Pandemie Gleichgültigkeit oder Konflikte herrschten, haben sich diese zugespitzt.

Die Folgerungen aus den vier Thinktanks lauteten daher: Der Aufbau und die Pflege von Solidarität in «guten Zeiten» sind nötig, um in Krisenzeiten darauf zurückgreifen zu können – wobei der Aufbau von Solidarität keine individuelle, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe darstellt. Um solidarische Nachbarschaften zu ermöglichen, braucht es soziale Durchmischung und Chancengleichheit. Fallweise sind auch Besitzer und Verwaltungen aufgefordert, die Gemeinschaftsbildung, die Pflege der Kommunikation und der Konfliktkultur aktiv zu fördern. Viele Genossenschaften praktizieren solche Modelle seit jeher mit Erfolg, doch auch für Renditeobjekte können sie Vorteile bringen, weniger Mieterwechsel etwa und einen Marktvorteil durch höhere Lebensqualität.

Prädikate für einen qualitätvollen Lebensraum

Auch in Bezug auf das Bauen waren die Erkenntnisse deutlich und bestätigen die nicht ganz neue Skepsis gegenüber den Planungsgrundsätzen der Nachkriegszeit, die sowohl im städtebaulichen Massstab als auch bei der einzelnen Wohneinheit auf Funktionentrennung beruhen. Die Erkenntnisse aus den Diskussionen waren also nicht ganz neu, verdienen es aber, in Erinnerung gerufen zu werden: Quartiere – aber auch ganze Stadtteile und Städte – sind als inklusive und gesunde Räume zu konzipieren, mit kurzen Wegen und vielfältigen Funktionen. Inklusiv und gesund bedeutet hier:

erstens Kleinteiligkeit und Flexibiltät, also kompakte und daher bezahlbare Wohnungen, ergänzt durch zusätzliche Angebote wie Jokerzimmer, zumietbare Räume, unterschiedlich nutzbare In- und Aussenräume, Allmenden, Gemeinschaftsräume, gemeinschaftlich genutzte Infrastrukturen, etc.; auf der städtebaulichen Ebene eine kleinteilige Verteilung von Nutzungen und Infrastrukturen, Polyzentralität und kurze Wege;

zweitens Vielfalt, das heisst ein sozialräumlich und formal breites Angebot von privaten, halbprivaten und öffentlichen Aussenräumen wie Terrassen, Balkone, Laubengänge, Parks, Spielplätze, Pools, Urban Gardening, Plätze, Parks und Verkehrsflächen, Letztere sowohl innerhalb des Quartiers als auch in der ganzen Stadt;

drittens Funktionsmischung, also die Nähe von Nutzungen wie Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Freizeit, etc. innerhalb des Quartiers und der Stadt.

Und die bauliche Dichte, der Ausgangspunkt der vier Thinktanks? Alle Diskussionsteilnehmenden waren sich einig, dass sie für lebenswerte urbane Quartiere unabdingbar ist: Nur so sind Nutzungsvielfalt und kurze Wege möglich. Doch je höher die bauliche Dichte, desto höher müsse auch die bauliche Qualität sein, um einen tatsächlichen Mehrwert zu generieren.

Krisentauglich bauen lohnt sich

Insofern ist die Pandemie auch als Chance zu sehen. Sie hat den Blick auf das Wesentliche geschärft und das Bewusstsein für die Qualität unseres gebauten Lebensraums erhöht. Sie hat Trends angestossen, die – richtig umgesetzt – sowohl den Stadtzentren als auch der Peripherie zugute kämen. Sollte sich beispielsweise Homeoffice zumindest für Teilpensen als etabliertes Modell durchsetzen, würde die sinkende Nachfrage nach Büros und die daraus folgende Ent-Ökonomisierung der Geschäftszentren neue Möglichkeiten für umsatzschwächere, lokalere Nutzungen eröffnen. Und wenn sich in Zukunft mehr berufstätige Menschen auch tagsüber in den Siedlungen und Quartieren aufhielten, ergäben sich bessere Grundlagen für das lokale Gewerbe und nachbarschaftsorientierte Nutzungen.

Um diesen Wandel zu vollziehen, braucht es allerdings noch einiges. Zuallererst den politischen Willen zur Veränderung, etwa in der Nutzungsplanung: Juristische Hürden, die einer Funktionsmischung entgegenwirken, sind zu überdenken. Neue ökonomische Modelle, zum Beispiel für die Wirtschaftlichkeit von gemeinschaftlichen Nutzungen, müssen entwickelt und erprobt werden. Und die Planung muss soziologisches Wissen integrieren, sei es für partizipative Modelle bei der Projektentwicklung oder für das künftige Coaching von Nutzergemeinschaften.

Die Mühe lohnt sich, auch darin waren sich die Diskussionsteilnehmenden einig. Kurze Wege, lokale Anbieter, vielfältige In- und Aussenräume mit hoher Lebensqualität, gute Nachbarschaften und ein flexibles Raumangebot in allen Massstäben erweisen sich nicht nur in Pandemiezeiten als wertvoll. Auch im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung unseres gebauten Lebensraums sind sie entscheidend.

Denn, wie es Co-Veranstalter und CCTP-Leiter Peter Schwehr hervorhob: Die Covid-19-Pandemie ist eine vorübergehende Gesundheitskrise. Der Klimawandel dagegen, dessen Folgen wir jetzt schon zu spüren bekommen, ist unumkehrbar und wird unseren Lebensraum langfristig verändern. Diese wahre, grosse, unabwendbare Gesundheitskrise wird uns noch Jahrzehnte begleiten. Es gibt also viel zu tun.

espazium.ch berichtete auch über die ersten drei ThinkTanks:

Thinktank «Dichte auf dem Prüfstand»

Thinktank «Dichte auf dem Prüfstand #2 – Verdichten nach innen»

 

Thinktank «Dichte auf dem Prüfstand #3»

 

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